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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Sie bangen um ihr Leben
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Kennen Sie das? Sie rollen entspannt über die Straße, denken an nichts Böses – und plötzlich schießt aus der Querstraße ein Auto heraus. Geistesgegenwärtig weichen sie aus, aber beinahe hätte es gekracht. Oder das: Sie fahren bei Grün über die Kreuzung – da donnert von hinten ein Lkw heran, schneidet Ihnen den Weg ab und brettert um die Kurve. Ohne Vollbremsung lägen Sie jetzt unter dem Reifen.
Wenn Sie in einer Stadt leben und oft per Drahtesel unterwegs sind, dürften Sie solche Szenen kennen. Fahrradfahren ist nicht nur schön, gesund und umweltverträglich, sondern vielerorts auch brandgefährlich. In Ballungszentren und vor allem in vielen deutschen Großstädten müssen Radler tagtäglich um Leib und Leben bangen.
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Mehr als 400 Radfahrer kommen jedes Jahr im Verkehr ums Leben. Rund zwei Drittel aller Fahrradunfälle sind auf Kollisionen mit Autos zurückzuführen. In drei Vierteln aller Fälle trägt der Autofahrer die Hauptschuld. Trotz wachsendem Klimabewusstsein nimmt der Autoverkehr immer weiter zu, verstopfen die Blechkarossen viele Innenstädte. Das hat auch für die Umwelt gravierende Folgen: Jahr um Jahr verfehlt der Verkehrssektor seine Klimaziele.
Die Politik tut wenig, um das zu ändern. In ihrem Koalitionsvertrag mit dem hochtrabenden Titel "Mehr Fortschritt wagen" hatten die drei Ampelparteien den Ausbau des Fahrradverkehrs beschlossen: Er sollte ein zentraler Baustein beim nachhaltigen Umbau der Mobilität werden. "Mehr Radverkehr könnte die Klimabilanz Deutschlands entscheidend verbessern", schreibt unser Mobilitätsredakteur Markus Abrahamczyk. 2021 beschlossen Bund, Länder und Kommunen im Nationalen Radverkehrsplan ein hochgestecktes Ziel: Die Bürger sollten bis 2030 sämtliche Orte im Bundesgebiet sicher und bequem mit dem Fahrrad erreichen können. Die Fördersumme für den Radverkehr sollte sich im selben Zeitraum auf 30 Euro je Person und Jahr mehr als verdoppeln. "Deutschland soll Fahrradland werden", tönte FDP-Verkehrsminister Volker Wissing.
Drei Jahre später ist davon keine Rede mehr. Alles, was zwei Räder und eine Klingel hat, rangiert gefühlt ganz unten in der politischen Prioritätenliste. In den Bundeshaushalten ist das Geld für den Radwegeausbau von 750 Millionen Euro im Jahr 2022 auf 362 Millionen Euro in diesem Jahr zusammengeschmolzen – kurzerhand halbiert. Sicher, die Ampel muss sparen, aber muss es ausgerechnet an dieser Stelle sein, während der Bund fast 13 Milliarden Euro in den Ausbau von Autobahnen und Bundesstraßen pumpt? Man muss kein Rechengenie sein, um zu erkennen: Da passen Worte und Taten nicht zusammen.
Der Mangel an Velo-Visionen wird bundesweit zum Problem. Natürlich gibt es vorbildliche Städte wie Freiburg oder Münster, die konsequent Radwege anlegen. Auch in der zweitgrößten deutschen Metropole Hamburg versucht der grüne Verkehrssenator Anjes Tjarks ein bisschen was zu tun. Überwiegend jedoch regiert hierzulande nach wie vor König Auto.
Sicher: Angesichts all der Krisen von der Ukraine bis zum Nahen Osten kann man die Meinung vertreten, dass es gegenwärtig nun wirklich wichtigere Anliegen gibt als sich ausgerechnet für mehr Radwege starkzumachen. Und natürlich gibt es auch unter Pedalisten eine Menge schwarzer Schafe, die sich wie Radler-Rambos aufführen. Dass sich Deutschland angesichts der Klimakrise zu einem nachhaltigen Land wandeln muss und dem Verkehr dabei eine Schlüsselrolle zukommt, steht jedoch außer Frage. Deutlich mehr Leute zum Umstieg vom Vier- aufs Zweirad zu bewegen, wird allerdings nur gelingen, wenn Fahrradfahren auch im Hauptverkehr Freude macht. Wenn man sicher sein kann, auch als Schulkind oder Senior schnell und unbeschadet von A nach B zu gelangen.
Dafür muss dringend mehr passieren. Nach Schätzung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) fehlen bundesweit Zehntausende Kilometer Alltagsradwege und nicht weniger als 1,5 Millionen Fahrradabstellplätze an Bahnhöfen. Von mindestens 2.000 Kilometern Radschnellwegen, die es vor allem in Städten bräuchte, damit mehr Pendler aufs Rad umsteigen, gibt es derzeit gerade einmal, Moment, ich sehe noch mal nach, 50 Kilometer. Von seinen Zielen im Radverkehrsplan ist Deutschland "Lichtjahre" entfernt, klagt ADFC-Chefin Ann-Kathrin Schneider.
Wie es besser geht, beweisen unsere Nachbarländer Dänemark, Belgien und vor allem Europas Fahrradland Nummer eins: die Niederlande. Damit Sie einen Eindruck davon bekommen, wie clevere Verkehrspolitik aussieht, habe ich Ihnen zwei kurze Videos mitgebracht: Schauen Sie mal hier und hier. Warum kriegen wir so was hierzulande eigentlich nicht hin?
Zahl des Tages
80 Prozent der Deutschen nutzen das Fahrrad für den Arbeitsweg, Freizeit oder Urlaub.
Quelle: Bundesverkehrsministerium
Im Namen des Herrn
Nur ein Viertel der Thüringer Bevölkerung sind Christen, der Anteil der Katholiken liegt bei gerade einmal sieben Prozent: Ausgerechnet in dieser Diaspora, noch dazu in der Lutherstadt Erfurt, findet von heute bis Sonntag der 103. Deutsche Katholikentag statt. Man müsse raus aus der Komfortzone und mehr an der Peripherie diskutieren, bemerkt trotzig das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Rund 20.000 Teilnehmer aus ganz Deutschland werden bei den rund 500 Veranstaltungen in der Landeshauptstadt erwartet.
Ein bisschen trotzig wirkt in Zeiten des Ukraine- und des Gaza-Krieges auch das Motto des Treffens: "Zukunft hat der Mensch des Friedens", heißt es in Psalm 37. Kirchentags-Präsidentin Irme Stetter-Karp hofft, dass das Leitwort angesichts der anstehenden Europa- und Landtagswahlen auch für das Debattenklima gelten möge: "Wir werden zeigen, dass man miteinander diskutieren, unterschiedliche Sichtweisen austauschen und nach Lösungen suchen kann, in Respekt und Wertschätzung füreinander", flötete sie den Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" in den Block.
Immerhin die Politprominenz folgt dem beseelten Appell: Zum Eröffnungsgottesdienst ab 18 Uhr auf dem Erfurter Domplatz werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow erwartet; für Freitag haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck angekündigt.
Es kommt doch noch
Wochenlang hatte Finanzminister Christian Lindner die Beschlussfassung blockiert, weil ihm die Etatwünsche seiner Ampelkollegen für den Bundeshaushalt 2025 zu hoch erschienen. Nachdem ihm Kanzler Olaf Scholz aber zwischenzeitlich Rückendeckung für seinen Sparkurs gegeben hatte, soll es heute so weit sein: Das Bundeskabinett will das Rentenpaket II verabschieden, das der FDP-Chef sowie SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil bereits im März vorgestellt hatten.
Mit der Reform soll das Rentenniveau mindestens bis 2039 bei 48 Prozent des Durchschnittslohns bleiben. Eine Abkoppelung der Renten von der restlichen Lohnentwicklung soll verhindert werden – keine billige Angelegenheit für Rentenkasse und Bundeshaushalt, da in den kommenden Jahren die geburtenstarken Babyboomer in Rente gehen. Um den zu erwartenden Anstieg der Rentenbeiträge zu dämpfen, will die Ampelregierung außerdem eine milliardenschwere Kapitalanlage am Aktienmarkt schaffen, deren Zinserträge dann (hoffentlich, irgendwann) in die Rentenkasse fließen. "Obwohl die Reform nicht perfekt ist, ist sie richtig so", meint mein Kollege Florian Schmidt.
Südafrika wählt
Seit 30 Jahren regiert in Südafrika der ANC, die Partei Nelson Mandelas. Sie hat die Apartheid beendet und dem Land die Demokratie gebracht – aber diese Errungenschaften sind verblasst. In der Amtszeit des gegenwärtigen Präsidenten Cyril Ramaphosa hat die Arbeitslosigkeit neue Rekorde erreicht, die Infrastruktur ist marode, die Kriminalitätsrate hoch. Wenn heute fast 28 Millionen Wähler dazu aufgerufen sind, ein neues Parlament zu wählen, könnte der ANC daher erstmals die absolute Mehrheit verlieren und eine Koalition eingehen müssen. Mit dem Ergebnis wird am Sonntag gerechnet.
Ohrenschmaus
Über Afrika gibt es unzählige starke Songs. Mir gefällt dieser.
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Zum Schluss
Bringt uns Schwarmintelligenz wirklich weiter?
Ich wünsche Ihnen einen Tag mit Gedankenblitz.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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