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Bauernproteste in Deutschland: Höchste Zeit für mehr Ehrlichkeit


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Tagesanbruch
Das ist nicht aufzuhalten

MeinungVon Heike Vowinkel

Aktualisiert am 15.01.2024Lesedauer: 7 Min.
imago images 0388349855Vergrößern des Bildes
Protestierende Bauern in Berlin: Es geht um vergleichsweise wenig Geld. Doch der eigentliche Wandel ist viel größer. (Quelle: IMAGO/Florian Gaertner)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der Metzger war als Erstes weg und mit ihm das Stück Fleischwurst. Die Verkäuferin hatte es mir bei jedem Einkauf über die Theke gereicht. Es folgten das Schuhgeschäft, der Schreibwaren-, schließlich der Tante-Emma-Laden. Als Dorfkind erlebte ich, wie die Post, die Sparkasse und die erste von drei Kneipen schlossen.

Seit 30 Jahren wohne ich nicht mehr in dem kleinen Dorf in Westfalen, in dem ich aufgewachsen bin. 1.500 Menschen leben dort. Doch schon in meiner Kindheit hat es sich radikal verändert: Viele Bauern wechselten bereits damals den Beruf und betrieben Landwirtschaft – wenn überhaupt – nur noch nebenher.

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Wenn heute wieder Traktoren die Straßen vieler Städte blockieren und die Bauern lautstark skandieren: "Stirbt der Bauer, stirbt das Dorf", ist das nichts Neues. Und zwar nicht, weil nach einer Woche Dauerprotest langsam bei uns allen Ermüdungserscheinungen eintreten.

Der Strukturwandel auf dem Land ist schon sehr, sehr lange im Gange. Die Streichung der Subventionen für Agrardiesel sind da tatsächlich nur der Tropfen, der das Güllefass zum Überlaufen gebracht hat. Auf deutschen Straßen stinkt es seitdem gewaltig nach Traktordiesel. Die Bauern sind auf den Barrikaden. Dabei werden weder die Landwirtschaft noch das Dorf sterben. Aber beide werden sich weiter ändern. Und das wissen auch die meisten Bauern.

Was sie brauchen, ist Planungssicherheit. Und was wir alle in diesen aufgeregten Zeiten brauchen, ist mehr Ehrlichkeit und weniger Verklärung und Übertreibung. Die Landwirtschaft erlebt wie viele andere Branchen auch eine Zeitenwende. Kleine Bauernhöfe mit gackernden Hühnern vor Scheunen voller Heu gab es schon in meiner Dorf-Kindheit kaum noch. Schon damals waren die reichsten Bauern jene mit den großen Flächen Land und den riesigen Hallen voller dicht stehender Schweine.

Daran ist auch das durch den internationalen Wettbewerb entstandene Subventionssystem schuld. Dieses System muss geändert werden, da sind sich die Experten einig, und das sehen auch viele Landwirte längst so: Weg von viel zu hohen Subventionen etwa für Flächen, hin zur Förderung von Gemeinwohlleistungen der Bauern, etwa wenn sie ihre Tiere besser halten, besonders klimaschonend ackern oder für mehr Artenvielfalt in der Landschaft sorgen.

Das geht allerdings nicht von heute auf morgen. Pläne und Empfehlungen von gleich zwei Kommissionen liegen längst vor. Gestern Abend deutete sich ein erster Schritt in die richtige Richtung an: Die "Süddeutsche Zeitung" meldete, die Regierung könnte die Hilfen für den tierfreundlichen Umbau von Ställen aufstocken – und im Gegenzug eine Steuer oder Abgabe auf Fleisch und tierische Produkte einführen, eine "Tierwohlabgabe".

Allerdings wird auch das nichts daran ändern, dass die Zahl der Höfe weiter sinkt – von aktuell 267.000 Betrieben auf 100.000 in 20 Jahren, so die Prognose einer Studie der DZ Bank. Es fehlen Nachfolger und Fachkräfte und viele kleinere Betriebe werden die erhöhten Anforderungen an Umweltschutz, Tierwohl und Wirtschaftlichkeit nicht erfüllen können.

Deshalb, so die Studie, werde es zwangsläufig zu Zusammenschlüssen kommen, die durchschnittliche Betriebsgröße der einzelnen Höfe weiter steigen, sich von 64,8 Hektar auf 160 Hektar im Jahr 2040 sogar mehr als verdoppeln. Langfristig würden dann mehr große Betriebe mit modernerer Technik die Branche prägen. Wachstumschancen sehen die Studienmacher aber auch für Öko-Bauernhöfe: Statt derzeit 10 Prozent dürften sie bis 2040 etwa ein Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Deutschlands ausmachen.

Selbst wenn die Agrarwende nicht ganz so dramatisch verläuft wie prognostiziert, die Tendenz ist klar. Die Politik sollte die Ängste der Bauern vor diesen Herausforderungen ernst nehmen. Und die vorliegenden Pläne mit entsprechenden Übergangsfristen endlich beherzt umsetzen, statt kurzfristig ihre selbstverschuldeten Haushaltslöcher mit Ad-hoc-Aktionen zu stopfen – auf Kosten der Landwirte.

Nur: Bei den aktuellen Protesten geht zu viel davon unter. Suggeriert wird, dass sich nichts ändern darf: "Finger weg vom Diesel!" Als würde eine Subvention, die gerade einmal fünf Prozent der Gesamtsubventionen eines Betriebs ausmacht, den Untergang der Höfe bedeuten – oder das Ende der Dörfer. So richtig der Ausstieg aus dieser Subvention grundsätzlich ist, so richtig war es, ihn nachträglich mit Übergangsfristen abzumildern. Besser noch wäre es gewesen, die Ampel hätte sich das vorher überlegt.

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Heute wird es also zum Showdown kommen. Nicht nur werden Zehntausende Traktorriesen durch Berlin und andere Städte rollen. Auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) will bei der Großdemonstration in der Hauptstadt zu den Bauern reden. Eigentlich wäre das ja Aufgabe des Kanzlers. Dass Olaf Scholz sich dem nicht stellt, spricht für sich. Vertreter der Bauern werden sich zudem mit den Fraktionsspitzen der Ampel treffen. Miteinander zu reden, ist immer gut. Ein Anfang scheint mit dem Vorschlag zur "Tierwohlabgabe" gemacht. Nun müssen die Bauern zeigen, wie kompromissbereit sie sind. Mehr Ehrlichkeit und weniger Übertreibung auf allen Seiten wären wünschenswert.

Mein Heimatdorf stirbt übrigens nicht, es verändert sich aber weiterhin. Statt der drei Kneipen von früher gibt es nun ein Grilllokal, jüngst hat der erste Hofladen geöffnet. Dort, wo früher Felder waren, stehen jetzt viele neue Häuser, junge Familien sind ins Dorf gezogen. Der Kindergarten, in den schon ich ging, wurde vor ein paar Jahren ausgebaut, so groß ist die Nachfrage inzwischen. Und auch die Dorffeste, sagen Freunde von früher, seien lebendiger denn je.


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Wahlkampfstart der Extreme

Der US-Bundesstaat Iowa versinkt gerade in Schnee und Eis. Eine "lebensbedrohliche Windkälte" mit Temperaturen von bis zu minus 30 Grad zieht durch den Mittleren Westen, wie der nationale Wetterdienst mitteilt. Nun bin ich keine Freundin von Wetteranalogien, aber das Extremwetter in Iowa passt schon sehr gut zum Auftakt des US-Wahlkampfs. Denn es dürfte der wohl extremste Wahlkampf werden, den die USA je erlebt haben – mit möglicherweise bedrohlichem Ausgang am 5. November für die USA und die Welt.

In Iowa findet heute Abend um 19 Uhr Ortszeit die erste Vorwahl der Republikaner statt. Sie eröffnet die Reihe der Versammlungen, bei denen die Parteien ihren Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Wie anders als "extrem" soll man es bezeichnen, dass mit Ex-Präsident Donald Trump ein Kandidat in den Umfragen führt, gegen den gleich vier strafrechtliche Verfahren laufen?

Durch Zufall – wir nennen es Reporterglück – begegnete unser US-Korrespondent Bastian Brauns am Wochenende Donald Trump höchstpersönlich. Bastian hielt sich dafür extra in der Lobby des Hotels Fort Des Moines auf, in dem Trump übernachtet. Ungewöhnlich für Trump: Er wirkte bei seinem Aufenthalt angespannt, denn er fürchtet offenbar, dass sich die Rekordkälte negativ auf diesen wichtigen Stimmungstest bei den republikanischen Wählern auswirken könnte. Wie Trump dann auf die jüngste Umfrage reagierte und was Kari Lake, Trumps mögliche Vize-Kandidatin, Bastian über Deutschland erzählt hat, lesen Sie hier.

Bastian beobachtete aber nicht nur Trump in diesen letzten Stunden vor der Wahl, sondern auch seine prominentesten Herausforderer, die ehemalige UN-Botschafterin Nikki Haley und Ron DeSantis, den Gouverneur von Florida. Seine Reportage über ihre Wahlkampfauftritte lesen Sie ebenfalls bei t-online.


Termine

In Marburg wird das "Unwort des Jahres" 2023 bekannt gegeben. Insgesamt 2.301 Einsendungen sind dieses Mal eingegangen, deutlich mehr als im Vorjahr. Darunter: "Sozialklimbim" als abschätzige Bezeichnung für die Förderung von Kindern in Armut und "Remigration", womit Rechtsextremisten meinen, dass Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen sollen – auch unter Zwang.


Steckt Deutschland in der Rezession? Genaueres erfahren wir, wenn das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Morgen die vorläufigen Daten für die Konjunktur und den Staatshaushalt im vergangenen Jahr vorstellt. Volkswirte rechnen damit, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber dem Vorjahr geschrumpft ist.


Historisches Bild

Im Januar 1919 trauerte Berlin, jedenfalls das linke Lager der Stadt. Denn sozialistische Ikonen wurden zu Grabe getragen. Hier lesen Sie mehr.


Lesetipps

Heute startet unser neues Kolumnisten-Programm für Sie: Den Auftakt macht Gerhard Spörl. Der frühere "Zeit"- und "Spiegel"-Journalist reflektiert nun immer montags in seiner Kolumne "Der Welterklärer" über Deutschlands Rolle in der Weltpolitik. Diesmal erklärt er, wie die USA gerade tiefer in den Krieg in Gaza gezogen werden, als Präsident Joe Biden es je wollte. Was das für Israel bedeutet und wie sich das auch auf Annalena Baerbock und die deutsche Außenpolitik auswirkt, lesen Sie hier.

An den weiteren Wochentagen folgen dann: dienstags Uwe Vorkötter, Herausgeber von "Horizont Medien" und langjähriger Chefredakteur von Medien wie der "Frankfurter Rundschau" und der "Berliner Zeitung". In seiner "Elder Statesman"-Kolumne analysiert er die Hintergründe von Politik und Medien jenseits der Schlagzeilen.

Am Mittwoch schreibt die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann in der "Im Netz!"-Kolumne über die digitale Welt.

Immer donnerstags bürstet in der "Einspruch!"-Kolumne Christoph Schwennicke, Politik-Chef und stellvertretender Chefredakteur von t-online, das politische Berlin gegen den Strich.

Die Klima-Expertin und Journalistin Sara Schurmann erklärt freitags in ihrer Kolumne "Klartext Klima!", wie das Klima mit unserem Leben zusammenhängt.

Am Samstag gibt die Fachärztin und Buchautorin Yael Adler in ihrer "Gesundheit!"-Kolumne Tipps aus der Medizin, die jeder umsetzen kann.

Und was im Kreml los ist, darüber informiert Sie der Schriftsteller und Kolumnist Wladimir Kaminer in seiner "Russendisko"-Kolumne jetzt immer sonntags.

Ich freue mich schon sehr darauf, denn alle Autorinnen und Autoren sind nicht nur tolle Schreiber, sondern auch Experten auf ihrem Gebiet.


Deutschland im Handball-Rausch: Auch beim zweiten Gruppenspiel siegte die Mannschaft des Deutschen Handball-Bundes (DHB) souverän, dieses Mal mit einem 34:25-Sieg gegen Nordmazedonien. Damit stehen die deutschen Handballer nun bei der Europameisterschaft vorzeitig in der Hauptrunde. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz jubelte in der Berliner Mercedes-Benz-Arena. Die Details dieses überzeugenden Spiels lesen Sie im Bericht von Sport-Reporterin Kim Steinke.


Gestern wurde in Dänemark Geschichte geschrieben: Erstmals seit fast 900 Jahren dankte ein dänischer Monarch ab, in diesem Fall Königin Margrethe II. Nach genau 52 Jahren gab sie ihr Amt an ihren Sohn Kronprinz Frederik X. ab, der nun König Frederik X. heißt. Obwohl der Staatsakt selbst eher nüchtern ablief – im Vergleich etwa zum britischen Königshaus – wurde es dann doch noch emotional, wie meine Kollegin Maria Bode schreibt.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen blockadefreien Start in die Woche. Am Dienstag schreibt dann Florian Harms für Sie den Tagesanbruch.

Ihre Heike Vowinkel
Textchefin t-online
Twitter: @HVowinkel

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Mit Material von dpa.

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