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Fehler der USA mit Folgen: Wie der Abzug aus Afghanistan die Welt veränderte


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Tagesanbruch
Das war ein schwerer Fehler der USA

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 14.08.2023Lesedauer: 8 Min.
Unzureichende Transportbemühungen: Der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Unzureichende Transportbemühungen: Der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan (Archivbild). (Quelle: U.S. Air Force via www.imago-images.de)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"The Falling Man" lautet der Titel eines Fotos, das den meisten von Ihnen noch bekannt sein dürfte. Es ist eine verstörende Aufnahme des amerikanischen Fotografen Richard Drew. Das Bild schoss er am 11. September 2001 in New York, um genau 9.41 Uhr. Es zeigt einen Mann, der aus dem Nordturm des World Trade Centers in den sicheren Tod stürzt. Ein Foto, das zur Ikone wurde. Das Grauen der islamistischen Terroranschläge von Al-Qaida ist darauf für immer festgehalten.

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Zwanzig Jahre später stürzten wieder Menschen vom Himmel in den Tod. Dieses Mal am Flughafen von Kabul in Afghanistan, wo die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, darunter auch die Bundesrepublik, den Kampf gegen den Terror für beendet erklärt hatten. Das war im August 2021. In ihrer Verzweiflung vor den anrückenden Taliban klammerten sich Menschen an die Fahrwerke einer westlichen Transportmaschine, um irgendwie doch noch aus dem Land herauszukommen. Sie haben es nicht geschafft.

Die einstige Anti-Terror-Koalition war nicht mehr in der Lage, all jene zu evakuieren, die Schutz suchten und brauchten. Die Bilder, die um die Welt gingen, weckten Erinnerungen an den ebenfalls dramatischen Abzug der USA aus dem vietnamesischen Saigon im Jahr 1975.

Der chaotische und desaströse Abzug des Westens jährt sich in diesen Tagen bereits zum zweiten Mal. Die Folgen bleiben gravierend, für die ganze Welt. Und zuallererst für die Menschen in Afghanistan, die nach zwei Jahrzehnten in relativer Freiheit jetzt wieder unter einer islamistischen Terrorherrschaft leben müssen. Darunter leiden insbesondere Frauen und Mädchen, denen Bildung und Berufstätigkeit vielfach untersagt wird.

Das in Washington ansässige "United States Institute of Peace" hat vor wenigen Tagen eine niederschmetternde Analyse veröffentlicht. Demnach wird insbesondere Afghanistans Wirtschaft durch die Herrschaft der Taliban immer weiter einbrechen. "Das Opiumverbot, sinkende Hilfszahlungen und Maßnahmen des Regimes gegen Frauen werden die Armut verschärfen, den Hunger verschlimmern und die Abwanderungsbewegungen verstärken", schreiben die Experten.

Das Taliban-Regime geht brutal vor gegen den Widerstand der "National Resistance Front of Afghanistan", aber auch gegen die eigene Zivilbevölkerung. Das ebenfalls in den USA ansässige "Armed Conflict Location and Event Data Project" sammelt Fälle von Hunderten Frauen, Journalisten und sogar Kindern, die seit dem Abzug der westlichen Nato-Truppen "festgenommen, gefoltert oder getötet" wurden.

Die Auswirkungen dieser Entwicklungen betreffen auch Deutschland. Die Bundesrepublik ist unter den westlichen Nationen das Land, welches mit mehr als 200.000 Afghanen im Jahr 2022 mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Das geht aus Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen hervor.

In den USA hingegen sind demnach 2022 nur rund 20.000 Afghanen aufgenommen worden. Laut Zahlen des "U.S. Citizenship and Immigration Services", der zentralen Einwanderungs- und Ausländerbehörde wurden im vergangenen Jahr 90 Prozent der Asylgesuche von Afghanen abgelehnt.

Viele Experten warnten vor zwei Jahren, das neuerliche Versagen der Führungsmacht USA vor den Augen der Weltöffentlichkeit könnte Feinde überall, im Innern wie von außen, ermutigen. Die damals noch immer andauernde Corona-Pandemie überlagerte das Geschehen in Zentralasien zwar noch. Doch eines lässt sich inzwischen sagen: Die Warnungen waren nicht übertrieben.

Die Welt ist seit dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan im Jahr 2021 eine noch gefährlichere geworden. Neue Zahlen zeigen, dass die konfliktbedingten Todesfälle auf dem Planeten den höchsten Stand seit 28 Jahren erreicht haben. Die Folgen spüren wir alle. Noch im selben Jahr bereitete Wladimir Putin seinen Einmarsch in die Ukraine vor, der schließlich im Februar 2022 erfolgte. Auf dem afrikanischen Kontinent eskalieren die tödlichen Konflikte so heftig wie nie zuvor. China stellt seine Invasionspläne gegen Taiwan immer deutlicher zur Schau und den wirtschaftlichen und militärischen Führungsanspruch der USA so deutlich infrage wie noch nie. Dazu ist Amerika im Innern so polarisiert wie noch nie in seiner neueren Geschichte. Und Donald Trump könnte trotz zahlreicher schwerwiegender Anklagen im nächsten Jahr erneut ins Weiße Haus gewählt werden.

Ein neuer Report aus dem US-Außenministerium deckt jetzt die Fehlentscheidungen der US-Regierungen im Zusammenhang mit der Abzugsentscheidung auf. Er wurde in diesem Sommer veröffentlicht und geht nicht nur mit Donald Trump hart ins Gericht, schließlich war er es, der noch zu Amtszeiten im Jahr 2020 den Abzug mit den Taliban, ohne die offizielle afghanische Regierung, verhandelt und beschlossen hatte. Auch sein Nachfolger, Präsident Joe Biden, und dessen Außenminister Antony Blinken kommen darin nicht gut weg.

"Die Entscheidungen von Präsident Trump und Präsident Biden, den US-Militäreinsatz in Afghanistan zu beenden, hatten schwerwiegende Folgen für die Lebensfähigkeit der afghanischen Regierung und deren Sicherheit", heißt es in der Analyse des "After Action Review on Afghanistan January 2020 – August 2021". Man stellt überdies fest, "dass während beider Amtszeiten die leitende Ebene nicht genügend Rücksicht auf Worst-Case-Szenarien genommen hatte und auch nicht darauf, wie schnell diese eintreten könnten."

Das US-Außenministerium schien mit den Evakuierungen vollkommen überfordert gewesen zu sein. "Das Ministerium sah sich nicht in der Lage, den Ansturm von Anfragen abzufedern, der auf die Mitarbeiter vor Ort von allen Ebenen und aus allen Richtungen einprasselte, um gefährdeten Afghanen zu helfen." Das Ergebnis war demzufolge ein bürokratisches Chaos. Es nahm so viel Zeit in Anspruch, dass es nicht möglich war, so viele Menschen wie möglich zu evakuieren.

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Der US-Präsident machte es sich zu einfach, als er das folgenschwere Chaos damals kommentierte: "Es gab nur die kalte Realität, entweder die Vereinbarung zum Abzug unserer Truppen einzuhalten oder den Konflikt eskalieren zu lassen und Tausende weitere amerikanische Truppen wieder in den Kampf in Afghanistan zu schicken, was in das dritte Jahrzehnt dieses Konflikts geführt hätte." Übersetzt heißt das: So wie es geschah, war es alternativlos. Ein Schlag ins Gesicht der betroffenen Afghanen, aber auch der Verbündeten.

Unterm Strich muss man sagen: Die Biden-Administration hätte Alternativen gehabt. Sie hätte nicht nur anders entscheiden können, als es Trumps Deal mit den Taliban unter Ausschluss der gewählten Regierung vorgegeben hat. Sie hätte vor allem auch anders organisieren und sich mit den Verbündeten besser abstimmen müssen. Aber Joe Biden, der sich schon zu seiner Zeit als Vizepräsident unter Barack Obama für den Abzug starkmachte, wollte ihn durchziehen, und zwar unbedingt vor dem 20. Jahrestag am 11. September 2021. Die Gelegenheit schien günstig und der innenpolitische Druck war groß. Der Plan ging daneben.

Auch die deutsche Regierung und die Bundeswehr litten unter den Folgen. Man war von den Amerikanern in entscheidenden Fragen abhängig. Im Report des US-Außenministeriums liest sich das so: "Darüber hinaus musste das Ministerium Anfragen von Verbündeten sowie Hilferufe von Privatpersonen und Organisationen unter einen Hut bringen, die ihre eigenen Evakuierungen von Menschen aus verschiedenen Teilen Afghanistans organisieren wollten."

Zum amerikanischen Chaos kam dann noch deutsche Bürokratie hinzu. Laut Zeugenaussagen im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages bestand die Sorge im Bundesinnenministerium vor "einer Kettenreaktion und einem unkontrollierten Zuzug aus Afghanistan". Auch darum wurden zahlreiche Ortskräfte, die über Jahre im Dienst der Bundesrepublik standen, im Stich gelassen. Für die Befürchtungen der Behörden gibt es Gründe. Die drängende Frage aber bleibt: Warum war man auf diese Situation nicht vorbereitet?

In den USA bleibt das Afghanistan-Desaster an den Demokraten und an Joe Biden hängen. Donald Trumps Abzug-Beschluss hält ihn und die Republikaner nicht davon ab, dem amtierenden Präsidenten die Schuld zu geben. Ihr Vorwurf: China und Russland würden nun geopolitisch in Afghanistan Boden gut machen und sich etwa des zurückgelassenen Militärequipments bemächtigen. Hinzu kommen immer wieder Vorwürfe von Veteranen und Angehörigen. Zuletzt von den Eltern der 13 beim Abzug getöteten US-Marines. Die Regierung würde entweder schweigen oder lügen zu den Umständen des Todes ihrer Kinder, behauptete eine Mutter vor wenigen Tagen in einem Fernsehinterview.

Zwei Fotos sollen Anfang und Ende des amerikanischen Afghanistan-Engagements zeigen. Auf dem einen sind CIA-Mitarbeiter zu sehen, die 2001 mit Geldkoffern nach Afghanistan aufbrachen, um mit Millionen von Dollars die eröffnete Jagd auf Osama bin Laden zu unterstützen. Das andere zeigt den amerikanischen Kommandanten Chris Donahue, wie er in der Nacht des 30. August 2021 eine Transportmaschine besteigt. Mit ihm verließ der letzte US-Soldat afghanischen Boden. Doch viel spricht dafür, dass das Kapitel Afghanistan für die USA und auch für den Rest der Welt noch lange nicht abgeschlossen sein wird.

Die Vereinigten Staaten versuchen weiterhin, Einfluss auf die Entwicklungen in Afghanistan zu nehmen. Zusammen mit den Regierungen der angrenzenden Staaten Turkmenistan, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan will man verhindern, dass jemals wieder eine weltweit operierende Terrororganisation wie Osama bin Ladens Al-Qaida von den Taliban beherbergt wird. Ob das gelingt, ist fraglich.

Seit die Taliban im August 2021 in Afghanistan an die Macht zurückgekehrt sind, ist die Bedrohung durch den Terrorismus in der Region gewachsen. Nicht die Taliban oder Al-Qaida sind dabei die schlimmste Gefahr. Sondern ein regionaler Ableger des sogenannten "Islamischen Staates", dessen Einfluss wächst.

Dazu scheinen noch immer gezahlte Milliarden von US-Hilfsgeldern in den Händen der Taliban zu landen. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht des US-Sondergeneralinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans wird detailliert beschrieben, dass "die US-Regierung 2,02 Milliarden US-Dollar für humanitäre und Entwicklungsbemühungen in Afghanistan bereitgestellt und außerdem 3,5 Milliarden US-Dollar an afghanischen Zentralbankreserven an einen eingerichteten Fonds überwiesen hat, um die Wirtschaft Afghanistans zu stabilisieren."

So intransparent und chaotisch der Abzug aus Afghanistan vor zwei Jahren ablief, so unklar wirkt derzeit die Strategie der US-Regierung. Die Verhältnisse in diesem geschundenen Land bleiben unmenschlich und verschlechtern sich immer weiter.

Solange sich daran nichts ändert, werden weiterhin Menschen oftmals unter Lebensgefahr nach Deutschland und Europa flüchten. Die Folgen werden wir noch stärker innenpolitisch spüren, auch durch das Erstarken der Rechtsextremisten, ob in Deutschland, Europa oder den USA.

Das macht es nicht einfacher, die anderen drängenden Aufgaben zu lösen, für die es eigentlich Einigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung bräuchte.


Was wichtig wird

Außenministerin Annalena Baerbock ist zu einem einwöchigen Besuch in Australien, Neuseeland und auf Fidschi aufgebrochen. Ziel der Reise soll der Ausbau der Zusammenarbeit in der Klima- und Sicherheitspolitik sein. Außerdem geht es um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Rolle Chinas in der Indo-Pazifik-Region. Doch beim Flug kam es in 2.500 Metern Höhe zu einem Zwischenfall. Mein Kollege Patrick Diekmann, der Baerbock begleitet, war ebenfalls im Flieger und berichtet mit meinem Kollegen Christoph Cöln von dem bislang ungeklärten Vorgang.

Die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze bricht heute zu einer viertägigen Westafrika-Reise nach Mauretanien und Nigeria auf. Mauretanien gilt als einer der letzten Partner Europas in der von Armut und Terror bedrohten Sahel-Zone am Südrand der Sahara. In Nigeria, Afrikas bevölkerungsreichstem Staat, sind Gespräche mit Vertretern der westafrikanischen Staatengemeinschaft "Ecowas" geplant. Dabei soll es auch darum gehen, wie Deutschland die Bemühungen um eine friedliche Lösung in Niger unterstützen kann.

Im Prozess einer 33-jährigen Frau aus Oberfranken gegen den Impfstoffhersteller Astrazeneca wegen eines mutmaßlichen Impfschadens wird heute eine Entscheidung verkündet. Der Zivilprozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Bamberg gehört zu den ersten gegen einen Corona-Impfstoffhersteller in Deutschland.


Was lesen?

Robert Habecks Grüne wollen den Kohleausstieg eigentlich auf 2030 vorziehen. In der Lausitz aber will man über dieses Datum gar nicht reden. Am Ende könnte es trotzdem so kommen, berichtet mein Kollege Johannes Bebermeier.

Möchten Sie wissen, warum und wo Donald Trump nach wie vor auf die Stimmen vieler Amerikaner zählen kann? Ich war für Sie an einem Ort, der das eindrucksvoll zeigt. Es ist das Urlaubsparadies Myrtle Beach. Eine Reportage von dort, wo viele Amerikaner am liebsten ihre Ferien verbringen, auch weil es politisch noch unkorrekt zugeht.

Durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das Schwarze Meer zum Brennpunkt geopolitischer Spannungen geworden. Warum das auch die Nato vor neue Herausforderungen stellt, beschreibt mein Kollege Patrick Diekmann.


Was mich zum Lachen bringt

Der nächste Winter kommt bestimmt ...

Herzliche Grüße

Ihr

Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns

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Mit Material von dpa, afp und Reuters.

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