Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Diese abscheuliche Tat geht uns alle an
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie gerade in Ihrer Küche sitzen, in der einen Hand eine Kaffeetasse, in der anderen Ihr Smartphone halten und diesen Tagesanbruch lesen, dann besitzen Sie schon mehr als rund 263.000 Menschen in Deutschland. Denn so viele waren laut einem Bericht der Bundesregierung 2022 ohne festen Wohnsitz, also obdachlos.
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Vor allem diejenigen von uns, die in der Stadt wohnen, kennen den Anblick eines Obdachlosen. Damit einher geht nicht selten auch ein beißender und stechender Geruch. Betroffene sitzen meist mit vollgestopften Tüten oder einem Einkaufswagen, in dem sich allerhand Kram befindet, am Rande eines Parks, am Rande einer Straße, am Rande der Gesellschaft. Zusammengekauert umklammern sie ihr Hab und Gut. Es ist alles, was sie noch haben.
Wir drehen uns dann oft weg, schauen in eine andere Richtung, rümpfen die Nase – wir haben schließlich unsere eigenen Probleme. Doch es geht noch schlimmer. Gestern startete der Prozess zu einem Fall, der mich tief bestürzt und nachdenklich gemacht hat.
Vor vier Jahren sollen zwei Männer in Mönchengladbach einen Obdachlosen erst misshandelt, dann getötet und seine Leiche später im Park versteckt haben. Der zuständige Staatsanwalt geht davon aus, dass ein 31-jähriger Angeklagter das Arbeitslosengeld des Opfers kassieren wollte. Er selbst habe mit dem Geld seine Schulden in Höhe von 200 Euro begleichen wollen. Für eine Summe von 200 Euro hielten sie also einen Menschen in ihrer Wohnung gefangen, sie fesselten ihn nachts an eine Heizung, traten ihn, wenn er zu laut schnarchte, oder drückten ihm Heftzwecken in den Kopf.
Über Wochen misshandelten sie den Mann schwer, bis er wohl schließlich vor lauter Erschöpfung zusammenbrach und starb. Seine Leiche versteckten die Täter in einem Koffer, den sie verscharrten. Obdachlose sind nicht selten Opfer von Straftaten, werden mit Benzin übergossen und angezündet oder im Schlaf von Jugendlichen zum Spaß getreten.
Im Oktober 2016 beherrschte ein besonders tragischer Fall die Schlagzeilen. Ein Rentner stürzte im Vorraum einer Bankfiliale, blieb bewusstlos liegen. Drei (!) Menschen gingen nacheinander an ihm vorbei und ignorierten ihn. Vor Gericht sagten sie aus, sie hätten den Sterbenden für einen Obdachlosen gehalten.
Das zeigt, wie wenig wert manchen das Leben eines Obdachlosen zu sein scheint. Dass neben uns, vor uns, unter uns Menschen liegen, mit oftmals schweren Schicksalen, das scheinen wir im Alltag zu vergessen. Mir ist das vor wenigen Jahren im Herbst bewusst geworden. Wir steckten gerade mitten in der Corona-Pandemie. Aus meinem Wohnungsfenster konnte ich einen Mann beobachten. Er hatte einen weißen Rauschebart, sah fast ein wenig aus wie der Weihnachtsmann und machte es sich vor dem windgeschützten Hauseingang eines wegen der Pandemie geschlossenen Restaurants gemütlich.
Ich beobachtete ihn jeden Tag eine Weile lang, wollte wissen, was er so macht. Beim näheren Hinschauen stellte ich fest: An seiner Situation war natürlich nichts gemütlich. Und auch mit dem Weihnachtsmann hatte er wenig gemein. Der Mann lag stundenlang herum und spielte mit einem Löffel und einem Centstück. Er trank nicht, er aß nicht. Er saß einfach nur da.
Ich wollte ihm irgendwie helfen, also packte ich ein paar Decken zusammen und eine Tüte mit Nahrungsmitteln. Ich ging zu ihm runter und fragte ihn, ob er die Sachen haben wolle. Er starrte mich an und sagte: "Nein, Decken habe ich genug." Ich zog ab und ließ ihm die Lebensmittel trotzdem da.
Ich fühlte mich danach sehr schlecht. Nicht, weil er meine Almosen nicht haben wollte, sondern weil ich mich selbst dabei ertappte, dass ich keine Ahnung hatte, was dieser Mann brauchte. Vielleicht hätte ihm ein Gespräch viel wohler getan als meine alten Decken, die ich zugegebenermaßen doch ohnehin schon längst hatte entsorgen wollen.
Ich versuche, Obdachlosen jetzt anders zu begegnen. Ich versuche, nicht wegzuschauen, sondern mich zu erklären, wenn ich kein Kleingeld geben kann oder möchte. Das kommt nicht immer gut an. Mir wurde beim Essengehen schon eine brennende Zigarette in die Suppe geworfen, ich wurde angespuckt und beschimpft. Doch es ergaben sich auch schon nette Gespräche oder dankende Blicke.
Nicht jeder oder jede Obdachlose ist unverschuldet ohne Dach über dem Kopf. Manche von ihnen haben diesen Weg sogar freiwillig gewählt. In unserem Sozialstaat sollte eigentlich niemand hungern müssen. Und doch ist es so.
Vielleicht sollten wir unsere Solidarität manchmal nicht nur mit den uns aufgezwungenen Steuern zeigen, sondern dem einen oder anderen Obdachlosen, dem wir begegnen, wenigstens ein Lächeln schenken, das ist sogar kostenlos. Und manchmal schadet es auch nicht, sich selbst daran zu erinnern, wie gut es einem geht, wenn man mit Kaffeetasse in der Hand und Zugang zum Internet in den Tag startet.
Was steht an
Russland, das Land, das derzeit einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, schickt das erste Mal seit fast 50 Jahren wieder eine Raumsonde zum Mond. "Luna-25" startet vom neuen Weltraumbahnhof Wostotschny. Die Trägerrakete vom Typ Sojus-2.1b mit der Sonde an Bord soll in der Nacht zum Freitag um 2.10 Uhr Moskauer Zeit (1.10 Uhr MESZ) starten. Das Ganze hätte eigentlich schon im vergangenen Jahr stattfinden sollen, wurde aber wegen technischer Probleme verschoben. Zuletzt hatte Moskau 1976 die Sonde "Luna-24" zum Mond geschickt.
"Du brauchst eine Marotte, Mädchen – saufen geht nicht, das mache ich schon selber!" – Das flüsterte Harald Juhnke einst ins Ohr von Grit Boettcher. Ab 1977 waren die beiden zusammen in der ZDF-Serie "Ein verrücktes Paar" zu sehen. Heute feiert dieses "Mädchen" ihren 85. Geburtstag. Boettcher schaffte es ganz ohne Marotte, wurde zum gefeierten Theater- und Fernsehstar.
Lesetipps
Was sind das eigentlich für Menschen, die sich der AfD verpflichtet fühlen? Ein Europakandidat der Partei hat keinen Berufsabschluss und doch einen angegeben. Jetzt kommt heraus: Sein Lebenslauf besteht aus aufgebauschten Halbwahrheiten. Hält die Partei trotzdem an ihm fest? Meine Kollegen Jonas Mueller-Töwe und Carsten Janz haben sich des Themas angenommen. Ihre Recherche lesen Sie hier.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat ein Problem. Sein Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine zieht sich mittlerweile seit mehr als 530 Tagen – und das ist teuer. Vor allem, um kampfeswillige Soldaten zu finden, greift er aber immer tiefer in die Tasche. Meine Kollegin Frederike Holewik erklärt, was Putins Truppen jetzt verdienen und warum nicht die ganze Armee darüber erfreut ist.
In Koblenz ist ein Offizier der Bundeswehr festgenommen worden. Er soll für Russland spioniert haben. Der Mann arbeitete beim Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr und soll sich ab Mai dieses Jahres "aus eigenem Antrieb" mehrfach an das russische Generalkonsulat in Bonn und die russische Botschaft in Berlin gewandt und eine Zusammenarbeit angeboten haben. Mehr dazu lesen Sie hier.
Was mich amüsiert
Karl Lauterbach spricht von einer digitalen "Aufholjagd". Mein Lieblingskarikaturist Mario Lars sieht das Ganze so:
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Donnerstag mit viel Vorfreude auf das kommende Wochenende. Morgen schreibt an dieser Stelle meine Kollegin Annika Leister den Tagesanbruch für Sie.
Herzliche Grüße
Ihre
Janna Halbroth
Kolumnistin und Redakteurin Unterhaltung
Twitter @jannabacon
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Mit Material von dpa.
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