Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was tut Putin als Nächstes?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Welt ist aus den Fugen geraten, und es fällt selbst wohlgesinnten Kräften schwer, das Chaos zu lichten. Der fortgesetzte russische Feldzug in der Ukraine, tägliche Kriegsverbrechen gegen Zivilisten, Putins Säbelrasseln und seine Stationierung von Atomraketen im EU-Anrainerland Belarus, die Erschütterung des Kreml-Regimes durch die Revolte der Wagner-Soldaten: Die brutalen Entwicklungen der vergangenen Wochen stellen die Sicherheit Deutschlands infrage. Die Bundeswehr wird wohl noch jahrelang damit beschäftigt sein, ihre Fähigkeit zur Landesverteidigung wiederherzustellen, der amerikanische Schutzschild ist angesichts einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps im kommenden Jahr ebenfalls mit einem Fragezeichen versehen, und die EU zeigt sich so uneinig wie nie zuvor in ihrer Geschichte.
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Und was tun die führenden deutschen Politiker aus Regierung und Opposition? Neigen dazu, sich bei jeder strittigen Frage so lange zu verkeilen, bis noch der letzte Zeitvorteil verstrichen ist. Während man hierzulande und in den anderen Nato-Staaten monatelang über das Für und Wider schwerer Waffenlieferungen diskutierte, errichteten die russischen Streitkräfte in den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine die gewaltigsten Verteidigungsanlagen, die es in Europa seit Jahrzehnten gegeben hat.
Rund 260.000 russische Soldaten stehen 190.000 Männern in Diensten Kiews gegenüber. Selbst wenn man die Kampfmoral der Ukrainer sehr viel höher einschätzt: Das ist kein vorteilhaftes Verhältnis für sie. Die russischen Panzerfabriken produzieren ohne Unterlass, in einer Sonderwirtschaftszone 1.000 Kilometer östlich von Moskau werden iranische Drohnen zusammengeschraubt. Kritische Köpfe haben das Land längst zu Tausenden verlassen, die restliche Bevölkerung wird nach der gescheiterten Rebellion von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin auf einen langen Kampf eingeschworen: Die Kreml-Ideologen in TV-Sendern und Schulen feuern rhetorisch aus allen Rohren, Kriegsveteranen predigen Durchhalteparolen. Viele westliche Sanktionen dagegen sind verpufft. "Putin weiß genau, dass die Zeit für ihn spielt, ganz gleich, welche Sanktionen der Westen gegen Russland verhängt. Solange China, Indien und andere Länder Öl abnehmen, wird Putin die Sanktionen durch Exporte kompensieren können", hat der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski vor einem Jahr im t-online-Interview prophezeit. Genau so ist es gekommen.
Was folgt daraus für Deutschland? In einer Zeit der Unsicherheit und der Eskalation ist es umso wichtiger, dass ein freiheitsliebendes Land starke Sicherheitsdienste besitzt, die Gefahren vorausschauend beurteilen, die Regierung rechtzeitig warnen und die Bevölkerung vor Schlimmerem beschützen können. Im Inland ist dafür der Verfassungsschutz zuständig, im Ausland der Bundesnachrichtendienst. Dessen Präsident Bruno Kahl muss sich heute in geheimer Sitzung im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages rechtfertigen. Einzelne Abgeordnete werfen dem BND vor, er habe die Bundesregierung und das Parlamentarische Kontrollgremium zu spät über Prigoschins Putschversuch informiert – oder schlicht keine Ahnung gehabt, was in Russland vor sich ging. Einen Talkshow-Satz von Olaf Scholz interpretieren einige Journalisten dementsprechend: Die Dienste "haben das natürlich nicht vorher gewusst", sagte der Kanzler bei Frau Maischberger. Dass andere europäische Nachrichtendienste offensichtlich ebenfalls keine einschlägigen Informationen besaßen, wird bei der Kritik gern ausgeblendet.
Was wollte Prigoschin mit seinem Kurzzeit-Aufstand wirklich bezwecken? Sitzt Putin noch fest im Sattel? Ist er krank? Würde er womöglich Atomwaffen einsetzen, falls die Ukrainer die Krim zurückerobern? Welche Rolle spielt der belarussische Diktator Lukaschenko, der nun tausende kampferprobte Wagner-Söldner beherbergen will? Auf brisante Fragen wie diese sind in Gesprächen mit BND-Leuten manche Antworten zu bekommen. Zitieren darf man daraus allerdings nicht, das gebietet die Vertraulichkeit.
Zweierlei darf man aber doch: erstens den Eindruck vermitteln, dass den Geheimdienstlern wenig vorzuwerfen ist. Und zweitens feststellen: Das BND-Gesetz legt dem deutschen Auslandsnachrichtendienst mittlerweile so enge Fesseln an, dass dieser seine Aufgaben nur noch eingeschränkt erfüllen kann. Bei der Spionage muss er beispielsweise die akribischen deutschen Datenschutzregeln beachten. Klingt absurd, ist es auch. Manchmal frage ich mich, wann wir hierzulande verstehen, dass man sich in einer Welt der Spießruten nicht mit Wattebäuschen verteidigen kann. Und dass wir nur so lange frei bleiben, wie wir unsere Freiheit schützen.
Es geht ums Geld
Wie immer in der Ampelregierung war es ein harter Kampf, aber heute soll es so weit sein: Nach monatelangem Streit will das Kabinett den Haushaltsentwurf für 2024 und die mittelfristige Finanzplanung bis 2027 verabschieden. FDP-Finanzminister Christian Lindner plant für das nächste Jahr mit Ausgaben von 445,7 Milliarden Euro und einer Neuverschuldung von 16,6 Milliarden Euro – womit er die Schuldenbremse eingehalten und sein großes Ziel erreicht hätte.
Weitere Kabbeleien unter den Koalitionären sind dennoch zu erwarten: Familienministerin Lisa Paus will sich nicht damit abfinden, für das grüne Herzensprojekt der Kindergrundsicherung nur zwei statt zwölf Milliarden Euro zu bekommen. Tatsächlich kann man fragen, warum Kinder hierzulande vergleichsweise schlechter gestellt sein sollen als Rentner. Der Kanzler wollte die Antwort bis Ende August vertagen – stattdessen ist nun eine Debatte über das Elterngeld entbrannt: Soll es Gutverdienern gestrichen werden? Olaf Scholz wird in der heutigen Regierungsbefragung im Bundestag dazu kritische Fragen ernten.
Neue Gentechnik-Pläne
Getreide, das mit der Klimakrise klarkommt, Pflanzen, die ohne Pestizide gegen Schädlinge geschützt sind – wäre das nicht was? So scheint die EU-Kommission zu denken, die heute neue Pläne zum Umgang mit Gentechnik in der Landwirtschaft vorstellt. Die Brüsseler Behörde plant eine Lockerung der bisherigen Regelungen: Gentechnisch veränderte Pflanzen, deren Eigenschaften auch durch konventionelle Zucht hätten erreicht werden können, sollen künftig keiner Kennzeichnung mehr bedürfen.
Was viele Wissenschaftler begrüßen, stößt aber auch auf Kritik: So warnt das Bundesamt für Naturschutz vor unbeabsichtigten Genom-Veränderungen und negativen Folgen für die biologische Vielfalt. Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch sorgt sich um die Erkennbarkeit von Genfood im Supermarkt. Wie sich die Ampelregierung positioniert, ist noch unklar.
Ohrenschmaus
Wer den Rock'n'Roll liebt, wird die neue Dokumentation "AC/DC – Forever Young" auf "Arte" nicht verpassen wollen. Darin erklärt Gitarrist Angus Young, welcher einfache Gedanke die Band zu ihrem Knaller "High Voltage" inspirierte (ab Minute 8:20). Und das Ergebnis? Hören Sie hier.
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Zum Schluss
Familienpolitik made in Germany:
Ich wünsche allen Familien mehr Unterstützung und uns allen einen ergiebigen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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