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Ukraine-Krieg: Die nächste russische Bedrohung


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Tagesanbruch
Die nächste russische Bedrohung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.12.2022Lesedauer: 6 Min.
Russischer Kampfpilot beim Einsatz in der Ukraine.Vergrößern des Bildes
Russischer Kampfpilot beim Einsatz in der Ukraine. (Quelle: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

heute möchte ich eine Prognose wagen: Es ist ziemlich kalt gerade – also wird es ein langer, harter Winter werden! Das merkt man ja schließlich, sobald man vor die Tür tritt. Klare Sache: So schnell wird es nicht wieder warm.

Zugegeben, diese Prognose dürfte jedem Meteorologen das Wasser in die Augen treiben. Selbst für Wetteramateure ist die hanebüchene Schlussfolgerung sofort erkennbar. Aus dem Stand des Thermometers in diesem Moment lässt sich keinesfalls die langfristige Entwicklung ableiten. Die Genauigkeit einer Vorhersage nimmt selbst mithilfe von Satelliten und ausgefeilten Computermodellen rapide ab, sobald man mehr als ein paar Tage vorausschaut. Wie das Wetter in drei, vier Wochen aussieht, müssen selbst Vollprofis mehr oder weniger raten. Und in ein paar Monaten? Wer weiß das schon.

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Aus dem Hier und Jetzt die Zukunft ableiten zu wollen, ist eine Falle, die man beim Wetter leicht erkennt – in die man auf anderen Gebieten aber umso schneller tappt. Vielleicht ist es deshalb in Deutschland stiller um den Krieg in der Ukraine geworden. Ja, es geschehen dort immer noch schreckliche Dinge, es wird gekämpft und gestorben, der Strom fällt aus und die Leute frieren. Gewiss, der Krieg wird noch dauern. Aber die Russen werden ihn nicht mehr gewinnen. Jetzt geht es eben noch eine Weile hin und her. Irgendwie werden die Ukrainer Putins Truppen schon weiter zurückdrängen, und dann sehen wir weiter. Hand aufs Herz: Wie viele von uns haben diese Erwartung unausgesprochen im Hinterkopf?

Ich möchte deshalb heute tatsächlich eine Prognose wagen – aber nicht über das Wetter, sondern darüber, was das nächste Jahr im Ukraine-Konflikt mit sich bringen könnte. Die Unwägbarkeiten eines Krieges stellen zwar die wildesten Wetterkapriolen in den Schatten, und es ist wenig wahrscheinlich, dass man mit einer langfristigen Vorhersage richtig liegt. Aber eigentlich macht das nichts. Denn allein für den Versuch, einen Blick in die Zukunft zu riskieren, muss man sich mit den Chancen und Risiken befassen, die auf die Ukraine, Russland und Europa zukommen. Das schafft Klarheit. Manches bleibt dem Zufall überlassen, aber es gibt genug, mit dem man rechnen kann.

Zum Rechnen kann man beispielsweise Kilometer zählen. Russlands Armee ist an den meisten Frontabschnitten zurückgedrängt worden. Die Gebietsverluste haben paradoxerweise dazu geführt, dass Moskaus Generälen die Verteidigung des verbliebenen Rests jetzt leichter fällt. Die Front ist zusammengeschnurrt, insbesondere im Süden der Ukraine. Die Versorgungswege dort sind kürzer geworden, Soldaten deshalb auch schneller an neue Brennpunkte zu verlegen. Ein Netz von Abwehrstellungen durchzieht mittlerweile das russisch besetzte Gebiet. Ukrainische Offensiven werden es dort nun viel schwerer haben.

Russlands Militärs lernen dazu. In den ersten Monaten des Krieges detonierten ihre Präzisionswaffen oft neben den Zielen. Inzwischen zeigt der erschreckend effektive Beschuss ukrainischer Kraftwerke und Umspannstationen, dass Putins Militärplaner ihre Hausaufgaben gemacht haben. Die Zielkoordinaten stimmen. Die Angreifer wissen offenkundig gut darüber Bescheid, wo sie das ukrainische Stromnetz am härtesten treffen können. Die Attacken sollen nicht nur die Bevölkerung terrorisieren, eine neue Fluchtwelle stimulieren und die Wirtschaft lähmen. Es steckt auch militärisches Kalkül dahinter: Mit heftigen Angriffswellen von Marschflugkörpern und Scharen billiger Kamikaze-Drohnen zwingt Putins Kommandeur Sergej Surowikin die ukrainischen Verteidiger, ihre besten Luftabwehrraketen massenhaft zu verfeuern. Das wird zum Problem.

Eigentlich werden moderne, konventionelle Kriege aus der Luft beherrscht. Aber seit dem Frühjahr trauen sich die russischen Piloten nur noch kurz und nicht sehr weit in den ukrainischen Luftraum. Beim Tiefflug werden sie von kleinen, tragbaren Waffen bedroht, die die Ukrainer in großer Zahl aus dem Westen erhalten haben. In größeren Höhen werden die Jets zum Ziel von Flugabwehrsystemen, die noch in der Sowjetunion entwickelt wurden. Aber deren Munition schmilzt schnell dahin. Die Folgen sind schwerwiegend: Wenn es nicht gelingt, die ukrainische Flugabwehr mit Nachschub zu versorgen, werden russische Kampfjets und Bomber bald wieder über das Kriegsgebiet fliegen. Für die Bevölkerung würde sich der Bombenterror vervielfachen, und die ukrainische Armee müsste unter radikal verschlechterten Bedingungen kämpfen.

Auch am Boden dreht sich alles um die Logistik. Leere Arsenale und mangelnde Munition werden darüber entscheiden, wer in die Offensive geht oder sie erdulden muss. Beide Seiten kämpfen mit der Knappheit. Über das Ausmaß wird unter Experten jedoch intensiv debattiert. Der Chef des estnischen Militärgeheimdienstes rechnet vor, dass Russland seine Artillerie wohl noch ein weiteres Kriegsjahr gut mit Munition versorgen kann. Auch im Westen wird die Produktion hochgefahren, sie kann aber mit dem enormen Verbrauch an Granaten kaum Schritt halten. All das muss man nüchtern feststellen. Bei dem Gedanken, dass sich der beiderseitige "Waffenverbrauch" in Töten und Sterben niederschlägt, kann einem aber kurz auch übel werden.

Wind, Schnee und Kälte setzen beiden Seiten zu und erschweren in der nächsten Zeit große Offensiven. Aber spätestens im Frühjahr geht es wieder los. In der Zwischenzeit bereiten sich die Armeen auf die nächste Phase des Krieges vor: Ukrainische Soldaten trainieren in Deutschland und Polen komplexe Operationen in Großverbänden, die USA wollen sogar noch weitergehen. Russlands eilig einberufene Reservisten haben bisher nur als mies ausgerüstete Gurkentruppe Schlagzeilen gemacht – doch nun mehren sich die Zeichen, dass die Mobilmachung bis zum Frühjahr schlagkräftigere Einheiten hervorbringen wird. Erst dann dürfte sich bemerkbar machen, dass es tatsächlich sehr, sehr viele Soldaten sind, die Putin zusätzlich aufs Schlachtfeld schickt.

Was heißt das alles also für unsere Prognose? Mit Sicherheit lässt sich immerhin eines feststellen: Von vermeintlichen Gewissheiten über den Kriegsausgang darf man sich nicht einlullen lassen. Das Blatt kann sich jederzeit wenden. Es ist klug, sich auf einen langen Konflikt einzustellen, der vielleicht sogar noch Jahre dauert, ob uns das gefällt oder nicht. Die Ukraine wird Ersatz für ihre Waffen aus Sowjetzeiten brauchen, weshalb wir in Deutschland voraussichtlich auch über Kampfpanzer und rote Linien neu debattieren werden. Ich muss gestehen, eine erbauliche Vorhersage ist das nicht. Aber eine Hoffnung gibt es: Eine Prognose ist eine Prognose. Vielleicht ist sie ja falsch.

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Deckel drauf oder nicht?

Es fehlte nicht viel, aber schlussendlich konnten sich die EU-Energieminister bei ihrem letzten Sondertreffen wieder nicht auf einen europäischen Gaspreisdeckel einigen. Vor allem bei der Frage, ab welchem Preis die Sperre greifen soll, lagen die Länder auseinander: Von 160 bis 220 Euro je Megawattstunde habe die Spanne gelegen, heißt es – also deutlich unterhalb der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Grenze von 275 Euro. Deshalb dürfte das Ringen um einen Kompromiss beim heutigen Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel auf höherer Ebene weitergehen, auch wenn dort eigentlich die Ukraine-Hilfen und das transatlantische Verhältnis auf der Agenda stehen. Kanzler Olaf Scholz, der gestern in seiner Regierungserklärung seine Sorge vor schädlichen Nebenwirkungen des Deckels wiederholte, befindet sich dabei – zusammen mit den ebenfalls skeptischen Niederlanden, Österreich, Dänemark und Ungarn – im Lager der Minderheit. Die meisten Staaten, darunter die Schwergewichte Italien und Polen, befürworten einen strikten Preisdeckel und hoffen, so die Kosten für Firmen und Haushalte zu senken.

Strittig ist nicht nur das Preisniveau des Deckels, sondern auch die Art und Weise, wie er beschlossen werden soll: Einstimmig, wie die Regierungschefs im Oktober vereinbart hatten, oder doch per Mehrheitsentscheidung? Spätestens dann könnte es eng werden für die Deckelskeptiker.


Ein Schiff wird kommen

Gesperrte Straßen, Publikumsverbot, Drohnen-Flugverbot: Wenn heute das mit LNG beladene Spezialschiff "Höegh Esperanza" in Wilhelmshaven anlandet, gelten verschärfte Sicherheitsregeln, denn die Behörden fürchten Störaktionen von Klimaaktivisten. Für die Politik dagegen ist die schnelle Flüssiggaslieferung ein Grund zum Feiern: Zum Festakt des Terminals am Samstag haben sich neben Kanzler Scholz auch Wirtschaftsminister Robert Habeck und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil angekündigt. Das erste Gas soll am 22. Dezember ins deutsche Pipeline-Netz fließen, wobei das Schiff als schwimmender Tank und gleichzeitig zur Verdampfung des Stoffs genutzt wird: Noch an Bord wird das Gas umgewandelt und dann an Land gepumpt.


Was lesen?

Nikita Chibrin ist als russischer Soldat desertiert. Was er erzählt, ist erschreckend, schreibt mein Kollege Tobias Eßer.


Gute Nachricht: Die Folgen des Ukraine-Krieges treffen die deutsche Wirtschaft wohl nicht so dramatisch wie gedacht. Allerdings nur unter einer Voraussetzung, erklärt mein Kollege Florian Schmidt.




Was amüsiert mich?

Vielleicht haben die Aktivisten ja doch Erfolg?

Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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