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Hochzeitskorsos: "Die Härte des Staates wird das Problem nicht lösen"


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Phänomen Hochzeitskorsos
"Die Härte des Staates wird das Problem nicht lösen"

Von Daniel Schreckenberg

Aktualisiert am 30.04.2019Lesedauer: 3 Min.
Eine türkische Autokolonne in Berlin (Symbolbild): Immer wieder muss die Polizei bei Autokorsos eingreifen.Vergrößern des Bildes
Eine türkische Autokolonne in Berlin (Symbolbild): Immer wieder muss die Polizei bei Autokorsos eingreifen. (Quelle: imago-images-bilder)

Keine Woche vergeht ohne Meldung über Hochzeitskorsos, die über die Stränge schlagen. Warum vor allem Kinder von Einwanderern einen Hang zur Eskalation haben, ist für Experten eindeutig.

Zwei Meldungen allein aus dieser Woche: Bei einem Hochzeitskorso in Hannover steigt ein Mann aus dem Auto, zielt mit einer Schreckschusspistole in die Luft und feuert mehrfach. Passanten schrecken auf und rufen die Polizei. Bei Kamen schleichen mehrere Autos mit Schrittgeschwindigkeit über die drei Fahrstreifen der Autobahn – ganz ohne Stau. Auch hier sollte ein Ehebündnis gefeiert werden. In beiden Fällen waren es wohl arabische Familien, die die Hochzeit eines Familienmitgliedes standesgemäß zelebrieren wollten.

Immer häufiger kommt es vor, dass Hochzeitsgesellschaften in Deutschland ihre Feier auf die Straße verlegen. Allein bei 32 Hochzeitskorsos musste die Polizei in NRW an einem Wochenende Mitte April eingreifen. "Das Phänomen ist nicht neu", sind sich Experten sicher. Doch aus Einzelfällen wird mittlerweile ein ernstes Problem.

"Seit vielen Jahren gibt es den Brauch, die Freude über eine Hochzeit auch mit Straßensperren zu zeigen", erklärt Kazim Erdoğan, studierter Psychologe und Soziologe aus Berlin-Neukölln. In dem multikulturellen Stadtteil leitet er den Verein "Aufbruch", hat dort die deutschlandweit erste Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer ins Leben gerufen. Für ihn ist klar, warum das Phänomen mittlerweile so oft die Schlagzeilen beherrscht: "Die Enkelkinder der ehemaligen Gastarbeiter kommen nun ins heiratsfähige Alter. Deshalb haben auch die Hochzeiten zugenommen." Und mit ihnen die Korsos. "Die werden zu einem Problem", sagt Erdoğan.

"Toleranzgrenze ist überschritten"

So sehr, dass sich in Nordrhein-Westfalen Landesinnenminister Herbert Reul zu einem Machtwort gezwungen sah: "Wenn Hochzeitsgesellschaften sich und andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr bringen, werden die Toleranzgrenzen unserer Gesellschaft klar überschritten", stellte der CDU-Politiker klar.

Vorausgegangen war ein besonders spektakulärer Fall einer Hochzeitsgesellschaft. Ende März brachte eine Hochzeitsgruppe durch gezielte Bremsmanöver den Verkehr auf der A3 bei Ratingen vollständig zum Erliegen.

Eine Zivilstreife beobachtete die Aktion: Die Beamten sahen einen Sportwagen, dessen Fahrer vor der Sperre eine "Donut"-Spur – eine kreisrunde Reifenspur – zog. Ein Beifahrer filmte die Aktion. "Die Blumendekorationen auf und an den Fahrzeugen, die Äußerungen und Kleidung der Beteiligten sprachen dafür, dass es sich um eine Hochzeitsgesellschaft handelte", heißt es im abschließenden Polizeibericht. Die Polizei hat nun eine Sonderkommission eingerichtet. Auch Reul verspricht mehr Anzeigen und Strafverfahren: "Das ist rücksichtsloses Verhalten, für das mir jedes Verständnis fehlt und das wir nicht hinnehmen."

"Die Härte des Staates wird das Problem nicht lösen", glaubt hingegen Erdoğan. Vielmehr müsse mit den jungen Männern gesprochen, die Gefahren, in die sie sich und andere Verkehrsteilnehmer bringen, erklärt werden. "Wir müssen mit den Menschen reden und ihnen klar machen, wie man in Deutschland eine Hochzeit feiern kann."

Denn die Ursachen für die "Exzesse", wie Reul die Korsos in NRW nennt, seien deshalb keineswegs reine Provokationen oder ein Zeichen von Ablehnung gegenüber dem Staat, so Erdoğan, sondern müssten als "spontane Ausbrüche der Freude gesehen" werden. Mit einem einfachen Ziel.

"Die Menschen wollen maximale Aufmerksamkeit", sagt Ahmet Toprak. Er ist Soziologie-Professor an der Fachhochschule in Dortmund und Autor zahlreicher Bücher über männlich-muslimische Milieus. Er ist sich sicher: Die Hochzeitskorsos sind deshalb jetzt wieder verstärkt in der Öffentlichkeit, weil sich immer mehr Muslime in Deutschland alten Brauchtümern und Traditionen hingeben.

Um das zu verstehen, ist ein Blick in die frühere, ländliche Türkei notwendig. Hochzeiten wurden dort über mehrere Tage gefeiert. Das Fest begann dabei meist damit, die Braut von ihrer Familie abzuholen. Die Familie des Mannes machte sich gemeinsam auf den Weg – der Korso entstand. Gemeinsam mit der Frau ging es weiter. "Das war ein Moment der Freude. Und der sollte sichtbar und auffällig sein", erklärt Toprak. Dabei wurde auch in die Luft geschossen – von Männern, als Zeichen für ihre Männlichkeit.

"Protzkarren" – zeigen, was man hat

Auch sogenannte "Protzkarren" – hochmotorisierte Autos, die meist in den Hochzeitskorsos vorzufinden sind, lassen sich so erklären. Toprak: "Man zeigt der Welt damit, was man hat. Selbst wenn die Wagen nur geleast oder gemietet sind." Dass mittlerweile so oft Autobahnen das Ziel von Korso-Blockaden geworden sind, habe dagegen keine historische Tradition. Wie auch? Denn Autobahnen gab es lange Zeit nicht in der Türkei. Auch ein kultureller oder religiöser Hintergrund fehle hier völlig, sagt Toprak.


Der kommt, so der Sozialwissenschaftler, erst bei einem anderen Punkt wieder ins Spiel: Der Sexualität. Die sei in der muslimischen Öffentlichkeit kein Thema. Mit einer Ausnahme: "Die Hochzeit ist die Legitimierung für Sex. Deshalb wird der Weg dorthin oftmals so laut und provokant inszeniert."

Verwendete Quellen
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