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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach der Amokfahrt Wenn Seehofer in Münster spricht, aber nicht zu Münster
Ein Innenminister, der nicht zu hören ist, Tote aus einer anderen Stadt und ein Pferd vor einer Eisdiele: Auf der Suche nach den Folgen der Amokfahrt in Münster zeigt sich, dass Gräueltaten weniger an den Ort gebunden sind, als es scheint.
Zu dritt schieben sie sich durch die Menge: Bundesinnenminister Horst Seehofer, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, Landesinnenminister Herbert Reul. Sie kommen aus der Straße, die auch der Amokfahrer Jens R. nahm, als er am Samstagnachmittag mit seinem Campingbus auf das Restaurant "Großer Kiepenkerl" zuraste. Sie treten an die Statue auf dem Platz vor der Gaststätte, vor der schon Blumen liegen. Was sie dann tun, ist kaum zu erkennen. Kamerateams haben die Reihen hinter den Politikern geschlossen. Die Mediengesellschaft versperrt die Sicht.
In einem zweiten Ring, mit einigen Metern Abstand, stehen Münsteraner, die gekommen sind, um zu trauern. Oder zuzuschauen, wie die Politiker trauern. Die Stadtgesellschaft lugt vergeblich. Eine Ansprache gibt es nicht.
Wenige Minuten später schiebt sich der Pulk ein Stück die Straße hinauf, weg vom Tatort. Laschet spricht in die Kameras, dann Seehofer, der aus der Menge herausragt. Diesmal drängt sich der Ring aus Medienvertretern noch enger heran.
"Man hört ja nichts"
Zwei ältere Männer stehen mit etwas Abstand und unterhalten sich.
"Das kannst du heute Abend alles im Fernsehen sehen."
"Man hört ja nichts."
"Ne."
Der Bundesinnenminister ist extra aus Berlin angereist, um sich am Tatort sehen zu lassen. Es sind viele Gründe für diesen Besuch denkbar. Vielleicht wollte er dem Protokoll Genüge tun und signalisieren, dass die Regierung sich kümmert. Vielleicht wollte er Trost spenden. Oder sich ein Bild machen. Vielleicht wollte er sich auch nur selbst inszenieren. Was auch immer ihn wirklich trieb, er musste dazu hierherkommen, in die Innenstadt von Münster.
Seehofer musste in Münster sprechen. Aber er spricht nicht zu Münster, sondern zu den Kameras. Er spricht zur Mediengesellschaft – und zwar exklusiv.
Die Versuchung ist groß, über die Stadt zu schreiben
Wenn irgendwo ein Terrorist oder ein Amokläufer Menschen tötet, dann wird der Ort zur Chiffre für den Vorfall: Nizza. Breitscheidplatz. Stockholm. "Bataclan". "Charlie Hebdo". Aber auch Sandy Hook, Columbine, Charleston. Die große Ausnahme: 9/11. Da wurde ein Tag zum Begriff, der Anschlag gelöst vom Ort – vielleicht, weil er direkt empfunden wurde als Anschlag auf den Westen an sich.
Doch in der Regel denken wir den Terror zusammen mit dem Ort. Wir suchen vor Ort nach Spuren und Antworten, nach Leid und Trost, nach Tätern und Opfern. Die Verführung ist groß, über eine verheerte, geschockte, verunsicherte oder widerständige Stadt zu schreiben.
Dabei zeigt sich in Münster, dass sich in Münster vieles auch nicht zeigt. Dass so ein Attentat zwar an einem Ort stattfindet, sich dann aber von ihm löst, um manchmal wieder zu ihm zurückzukehren. Dass sich viele Fragen anderswo besser beantworten lassen und manche Antworten für anderswo bestimmt sind.
Messe für Münster, außer in Münster
Am Sonntagvormittag läuten in Münster die Glocken. Die Schläge hallen von den Häusern wider, werden hin und her geworfen, werden verschluckt und verzerrt. Eine Kakophonie der Trauer und der Andacht, die tatsächlich weite Teile Münsters durchdringt. Im Dom St. Paulus versammelt sich die Gemeinde zur Messe. Man würde erwarten, dass dieser Gottesdienst ganz im Zeichen der Amokfahrt steht, dass alles andere hinter dem Andenken daran zurückstehen muss.
Die gesamte Berichterstattung auf t-online.de:
- Gastwirt schildert, wie er die Amokfahrt von Münster erlebte
- Amokfahrer von Münster hinterließ Lebensbeichte
- Alle Informationen zum mutmaßlichen Täter
- Reaktionen auf die Tragödie
- Reporter Jonas Schaible über den Umgang mit der Gewalt
- Überwältigender Andrang beim Blutspenden
Doch dieser Gottesdienst wird vom "Deutschlandfunk" übertragen, als Radiomesse für die ganze Republik. So etwas ist lange geplant, aufwendig vorbereitet. Musiker sind gekommen, Mikrofone installiert, der Ablauf ist so abgestimmt, dass er radiotauglich ist. Los geht es um 10.05 Uhr, weil dann die Übertragung beginnt.
"Wir können weder einfach das Vorhergesehene tun, noch alles ändern", sagt ein Geistlicher zu Beginn.
Noch richtiger wäre: Alle anderen Kirchen können alles ändern, aber wir, ausgerechnet wir können es nicht. Wir würden sonst die Erwartung von Zehntausenden Menschen enttäuschen. Wahrscheinlich könnte man an diesem Tag in Bottrop, Passau und Sögel viel besser erleben, wie eine Gemeinde auf eine solche Tat reagiert. Nur im Dom in Münster kann sich nicht alles nach Münster richten.
Café-Besucher zählen
Während der Gottesdienst noch läuft, verteilt einige Hundert Meter entfernt ein junger Mann vor einem italienischen Restaurant Speisekarten und Aschenbecher auf den Tischen. Ein Polizeiauto fährt vorbei. Noch sind keine Besucher da.
Zwei Stunden später sitzt ein einziger Mann vor einem Tisch und trinkt Kaffee. Ob er kurz gezögert habe, sich in ein Straßencafé zu setzen? Nein, wirklich nicht.
Am Nachmittag sind fast alle Plätze gefüllt. Mehrere Journalisten kommen vorbei. Auch sie wollen wissen, ob die Menschen keine Angst hätten? "Blöde Frage", schiebt eine Reporterin selbst nach, "sonst wären sie ja nicht hier."
Blöde Frage, irgendwie, aber sie stellt sich doch und so stellt man sie doch. Anderswo erzählen Cafébesucher, sie hätten sich die Frage jedenfalls auch gestellt.
Das Pferd vor der Eisdiele
Dabei strahlt auch in Münster die Sonne, brechen auch in Münster die ersten Blätter an den Zweigen durch, blühen auch in Münster schon einige Bäume. Womöglich ist die Verunsicherung in Münster nicht viel größer als anderswo, warum auch? Ganz sicher ist die Gefahr in Münster nicht höher als anderswo.
Am Nachmittag, in Sichtweite vom "Kiepenkerl", warten Menschen in einer Schlange vor einer Eisdiele. In der Schlange steht: eine junge Frau mit Pferd.
"Dürfen wir mal streicheln?"
"Holt sich das Pferd auch ein Eis?"
Es gibt eine immerwährende Gleichzeitigkeit von Tragik und Schönheit, Tragik und Komik, Tragik und Alltag. Manchmal keine 200 Meter entfernt voneinander. Die Eisdiele in Münster ist der Tragik, alles in allem, nicht mehr verpflichtet als eine Eisdiele in München oder Kiel.
Die Opfer waren Gäste
Und dann sind da noch die Opfer, die Jens R. ermordete, bevor er sich selbst erschoss. Einige der Verletzten schweben wohl noch immer in Lebensgefahr. Bisher starben eine 51-Jährige aus dem Kreis Lüneburg und ein 65-Jähriger aus dem Kreis Borken. Gäste also. Touristen wohl, keine Münsteraner jedenfalls. Wollte man vom Leid erzählen und von den Leben, die beendet wurden – Münster wäre nicht der geeignetste Ort.
Einer jener Münsteraner, die sich nahe dem "Kiepenkerl" eingefunden haben, weil für sie der Ortsbesuch zur Bearbeitung des Erlebten gehört, erzählt von den Stunden am Samstag, als er zuerst Helikopter kreisen hörte und dann in den Livetickern auf seinem Handy erfuhr, wieso. Der Mann, 35 Jahre alt, habe sich dann mit Freunden getroffen, das war geplant, aber er habe auch das Bedürfnis gehabt, zu reden. Natürlich habe er sich auch umgehört, ob jemand betroffen sei, den er kennt. "In so einer kleinen Stadt ist das ja wahrscheinlich", sagt er. "Wobei: Im 'Kiepenkerl' sind vor allem Touristen – da trifft man eigentlich nie Freunde von mir."
Selbst der Tatort, mitten in Münster, ist nicht so sehr Münster, wie man meinen könnte.