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Nach Münster: Reise durch ein nicht verunsichertes Land?


Meinung
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Attacke in Münster
Beobachtungen aus der Ruhezone

MeinungVon Jonas Schaible

Aktualisiert am 08.04.2018Lesedauer: 6 Min.
Rettungshubschrauber beim Botanischen Garten in Münster: Während Rettungskräfte die Verletzten des Attentats versorgen, genießen andere Menschen den beginnenden Frühling.Vergrößern des Bildes
Rettungshubschrauber beim Botanischen Garten in Münster: Während Rettungskräfte die Verletzten des Attentats versorgen, genießen andere Menschen den beginnenden Frühling. (Quelle: Martin Rupik/dpa)
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Wie geht die Gesellschaft mit einem Anschlag um? Über die Jahre haben sich Routinen herausgebildet. Auf dem Weg nach Münster fällt auf, wie sehr sich die Reaktion auf Gewalt mechanisiert hat.

Wenn es so aussieht, als sei ein Terroranschlag geschehen, machen sich Ermittlungsbehörden auf die Suche nach dem Täter. Politiker schicken Kondolenzbotschaften. Nachrichtenseiten setzten Live-Ticker auf, ziehen Redakteure zusammen, um die Bruchstücke zu sichten und zu sammeln. Und sie schicken Reporter los, wenn nicht gerade zufälligerweise jemand vor Ort ist.

Auch ich mache mich am späten Samstagnachmittag auf den Weg von Berlin nach Münster. Ich bin Teil der gesellschaftlichen Routinen im Umgang mit Attentaten.

Als ich aufbreche, weiß ich: Erst am Abend werde ich vor Ort sein. Erst am Tag nach dem Vorfall kann ich mich wirklich umschauen und umhören, erst dann werde ich mit Menschen sprechen. Wahrscheinlich werden einige erzählen, dass sie erschüttert seien, andere verängstigt, einige auch gelassen. Zeugen werden vielleicht berichten, alles sei schnell gegangen, denn der Anschlag dauerte ja nur einige Sekunden. Doch während der Stunden im Zug bin ich ruhiggestellt.

Lernen, wie die Gesellschaft auf Terror reagiert

Ich kann nicht mehr tun, als zu lesen und zu beobachten. Nein, anders: Ich kann einfach nur lesen und beobachten. Ohne Eile, ohne Hektik, ohne Druck.

Ich nutze die kurze Reise deshalb für eine andere Art Recherche – im Netz und auf Nachrichtenseiten, im Bus, am Bahnhof und im Zug, in den Gesprächen der Menschen und in meinen Gedanken. Was macht der Terror mit einem Land, fragt man nach Attentaten gern. Man hofft, vor Ort etwas darüber zu erfahren. Aber wie erspürt, erfährt, bemisst und beschreibt man Stimmungen, selbst wenn vor einem Absperrbänder flattern?

Vielleicht kann man auf den dreieinhalb Stunden Fahrt zum Tatort schon etwas über ein Land lernen, das sich an den Terror gewöhnt hat. Über eine Gesellschaft, die womöglich gar nicht verunsichert ist, obwohl das gern beschworen wird. Und über ihre Routinen, um auf den Terror zu reagieren.

Alles sieht nach einem islamistischen Attentat aus

Als ich mich in Berlin auf den Weg mache, weiß man: In Münster ist ein Kleinlaster in ein Altstadt-Café gerast und hat mindestens zwei Menschen getötet. Ein Anschlag mit Lastwagen, wie in Nizza, Stockholm, Berlin. Menschen im Café als Ziel, wie in Paris. Das Muster scheint klar, die Erinnerungen werden wach. Alles sieht nach einem islamistischen Attentat aus.

Man weiß zu diesem Zeitpunkt auch schon, dass sich der mutmaßliche Täter erschossen hat. Es scheint keine akute Gefahr mehr zu drohen.

Unterwegs schicken mir Nachrichtenseiten eine neue Information aufs Smartphone, die vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen: Der Täter soll ein älterer Deutscher sein. Das entspricht nicht dem klassischen Täterprofil islamistischer Attentäter. Er sei geistig verwirrt, offenbar zwei Jahre psychologisch behandelt worden. Kein Terror also, melden die Medien. Keine Kontakte zu bekannten Terrorgruppen, heißt das wohl.

"Drehst du jetzt wieder um?"

Merkwürdig ist die unausgesprochene Erleichterung, die mit diesem Informationsschnipsel einhergeht. Kein Muslim, kein Islamist, nicht der Islamische Staat. Nur ein labiler Einzeltäter.

Trotzdem sind mindestens drei Menschen tot, viele schwer verletzt.

In der Berichterstattung wird aus dem mutmaßlichen Anschlag ein Vorfall, aus dem mutmaßlichen Terroristen ein Verwirrter, ein Amokläufer.

Ich bekomme eine private Nachricht: "Drehst du jetzt wieder um?"

Natürlich nicht. Das hieße, der Deutung zu folgen, weil der Täter Jens R. zu heißen scheint und im Sauerland geboren sein soll, sei alles weniger schlimm. Andererseits kam mir die Frage auch schon in den Sinn. Was gibt es zu erzählen, wenn alles nicht so schlimm ist?

Ist es wirklich nicht so schlimm?

Es zählt, wer tötet und warum

Doch auch dieses Muster hat sich längst etabliert, natürlich nicht gesteuert, aber doch erkennbar: Nach 9/11, nach dem "War on Terror", nach der "Terroromiliz Islamischer Staat" wird Terrorismus genannt, was Terrorgruppen tun. Was dessen Attentäter umtreibt, ob sie psychisch labil oder in Behandlung sind, wird überlagert von der Ideologie ihrer Organisation. Sie werden verstanden als Stellvertreter, tatsächlich als Soldaten des Islamischen Staates, wie er sie nennt.

Fehlt diese Verbindung, lässt die paralysierende Kraft der Tat nach. Für die Angehörigen der Toten und Verletzten, für die Verletzten selbst sind solche Unterscheidungen egal. Aber für die gesellschaftliche Reaktion gilt: Es fühlt sich nicht an wie Terror, wenn der Täter weiß ist und deutsch und verwirrt und Jens. Es fühlt sich nicht so schrecklich an, wenn es Amoklauf heißt statt Terroranschlag.

Später am Abend zitiert ein Reporter des "Tagesspiegel" einen jungen Mann: "Die Angst war irgendwie weg" – als klar wurde: keine Islamisten. Also ging er Fußball schauen.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose, sagt man, um zu zeigen, dass Dinge eben sind, wie sie sind. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie ist es wert, wiederholt zu werden: Ein Lkw, der in eine Menschenmenge rast, ist nicht dasselbe wie ein Lkw, der in eine Menschenmenge rast. Entscheidend ist, wer rast. Wer tötet. Und warum.

Unterwegs: Ruhezone

Immer wieder linse ich verstohlen auf einen Handybildschirm: Ich erahne Fotos, Whatsapp-Chats, Videos, Fußballfotos auf Facebook. Keine Nachrichtenseiten, keine Liveticker, kein Twitter. Am Bahngleis höre ich: keine Gespräche über den Anschlag. Im Zug höre ich: keine Gespräche über den Anschlag. Ein junges Paar neben mir holt Skatkarten aus der Tasche und spielt. Über den Sitzen klebt ein Band, darauf steht: Ruhebereich. Quiet zone. Area del silenzio.

In meiner Hand halte ich die Unruhezone. Twitter: Ständig neue Botschaften über #Münster. Einige Nutzer schreiben, es sei sicher ein Muslim gewesen. Selbst wenn er Jens heißt, bestimmt heiße er eigentlich anders. Darüber empören sich andere. Der Täter heiße Jens, er sei Deutscher, akzeptiert es.

Die einen sind enttäuscht, weil ihr Feindbild nicht bestätigt wurde. Die anderen fast erleichtert, weil die Vorurteile der Rechten entlarvt wurden.

Angst vor der Instrumentalisierung

Auch diese Erkenntnis muss man festhalten: Zumindest bei vielen von denen, die sich online aktiv in die Diskussion einschalten, ist die Angst vor Anschlägen an sich hinter eine Angst zweiter Ordnung zurückgetreten – hinter die Angst vor der Instrumentalisierung der Tat. Womöglich hat diese Instrumentalisierung auch wirklich weitreichendere Folgen in einem Land, dessen Spitzenpolitiker testen, wer lauter und vernehmlicher deklamieren kann, dass der Islam dazu gehöre oder eben nicht.

Ansonsten laufen die Prozesse der Terror-oder-nicht-Terror-Beobachtung an. Terrorexperten analysieren. Tatort-Schauspieler und Politiker kondolieren. Jemand merkt kritisch an, Politiker dürften auch schweigen. Die "FAZ" meldet zunächst, der mutmaßliche Täter sei 27, andere Medien schreiben 48. Die FAZ korrigiert sich. Nutzer krakeelen, da sehe man es: die Medien zu nichts zu gebrauchen. Immer noch finden sich Kommentare, die ein islamistisches Attentat voraussetzen. Die Polizei in Münster ruft zur Ruhe auf, man solle keine Bilder vom Tatort machen und keine Gerüchte verbreiten. Social-Media-Redaktionen haben eine bemerkenswerte Souveränität im Umgang mit Notlagen entwickelt.

Helfen

Vor dem Krankenhaus in Münster bildet sich eine Schlange: Viele wollen Blut spenden, wollen helfen. Viel mehr, als nötig wären. Man will etwas tun, auch das ist eines dieser widerkehrenden Muster,

Dann meldet unter anderem das ZDF, der Täter solle Kontakte in die rechtsextreme Szene gehabt haben. Spekulationen kommen auf, er sei in der AfD gewesen. Belege gibt es auf den ersten Blick keine. Handy aus, Ruhezone.

Später, im Regionalzug nach Münster, plaudern die, die plaudern, auffallend heiter. Über Fußball, Schalke und Duisburg, über den fairen Umgang mit Freunden, über das Leben als Schülerin. Andere lesen ein Buch, hören Musik, schlafen. Der Handyempfang ist schlecht. Erzwungene Ruhezone.

Die Nachbereitung beginnt

Am späten Samstagabend riecht es in Münster nach Sommer. Menschen flanieren, trinken, lachen. Ein Polizist isst einen Döner. Nicht weit vom Bahnhof liegt die Straße der Wohnung des Täters. Die Straße ist gesperrt, Polizisten und Feuerwehrleute stehen in kleinen Grüppchen herum, der Einsatz dauert zu diesem Zeitpunkt schon viele Stunden an. Sie wirken nicht übermäßig angespannt, eher im Gegenteil.

Der Täter, heißt es am späten Abend, habe einen spektakulären Suizid angekündigt. Stück für Stück kommen die Informationen an die Öffentlichkeit. Die Nachbereitung hat begonnen. Wie jedes Mal.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen



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