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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Messer-Täter von Aschaffenburg Behörden sahen Haft als "unverhältnismäßig"
In Aschaffenburg tötet ein 28-Jähriger zwei Menschen. Der Täter war mehrfach in psychiatrischen Einrichtungen – und kam immer wieder raus. Die Liste der Vorwürfe gegen ihn ist lang.
Was ist in Bayern falsch gelaufen? Haben die Behörden versagt? Diese Fragen werden nach der tödlichen Messerattacke in Aschaffenburg laut.
Am späten Mittwochvormittag ist ein 28-jähriger Afghane in einem Park der bayerischen Stadt auf eine Kindergartengruppe losgegangen. Die Ermittler werfen dem mutmaßlichen Täter vor, mit einem Messer einen Zweijährigen getötet zu haben. Zudem starb ein 41 Jahre alter Passant, der die Kinder schützen wollte. Weitere drei Menschen wurden zum Teil schwer verletzt: ein syrisches Mädchen, eine 59-jährige Erzieherin und ein 78 Jahre alter Mann.
Am Tag nach der Tat versuchen Politiker und Ermittler, Antworten auf die Frage zu finden, ob die Tat hätte verhindert werden können. Fest steht: Der 28-Jährige war für die Polizei kein Unbekannter.
Die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg führte mehrere Verfahren gegen Enamullah O. Zuerst war er im Februar 2024 beim Schwarzfahren erwischt worden, der Beschuldigte musste eine Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen zahlen.
Mai 2024: Beschuldigter will Polizeiwaffe an sich reißen
Das nächste Mal sei O. im Mai auf der Dienststelle des Bundespolizeireviers Aschaffenburg auffällig geworden, teilte die Staatsanwaltschaft t-online mit. Er habe dort um Hilfe gebeten, sei dann aber ausgerastet: Eine Beamtin soll er mit der flachen Hand geschlagen haben. Als ihn Beamte daraufhin zu Boden bringen wollten, habe er nach dem Holster eines der Beamten gegriffen "und im Verlauf der Auseinandersetzung auch die Primärsicherung des Waffenholsters geöffnet".
Drei Polizisten seien verletzt worden, bevor es ihnen gelang, O. zu Boden zu ringen und ihm Hand- und Fußfesseln anzulegen. Der Beschuldigte soll bei seinem Ausraster auf dem Revier der Bundespolizisten unter dem Einfluss von Cannabis gestanden haben.
Juni 2024: O. zieht sich vor Polizisten nackt aus
Keinen Monat später, im Juni 2024, zog sich O. dann laut Staatsanwaltschaft am Hauptbahnhof in Aschaffenburg vor zwei Polizeibeamten komplett aus. Außerdem habe er einen dort befindlichen Streugutbehälter beschädigt.
Anfang August wurden die Beamten ins 20 Kilometer von Aschaffenburg entfernte Alzenau gerufen. Dort lebte O. in einer Unterkunft für Geflüchtete.
August 2024: Verdächtiger schlägt immer wieder Kopf gegen Boden
Am 2. August soll er in Alzenau randaliert und einen Pkw beschädigt haben. Als die Polizei kam, habe sich der 28-Jährige zunächst kooperativ verhalten, dann aber plötzlich wiederholt seinen Kopf gegen den Boden geschlagen. Als er daraufhin "wegen der Gefahr einer Selbstschädigung" ins Klinikum Aschaffenburg gebracht wurde, soll er während der Fahrt einen Rettungssanitäter und einen Polizeibeamten getreten haben.
Die Polizei brachte ihn – wie schon nach dem Angriff auf Polizisten im Mai – vorübergehend in eine psychiatrische Klinik. Aber beide Male wurde er schnell wieder entlassen: Laut Staatsanwaltschaft lagen "in keinem der genannten Verfahren die Voraussetzungen für eine strafrechtliche einstweilige Unterbringung vor". Außerdem hätte es "wegen Unverhältnismäßigkeit" keinen Anlass für einen Haftbefehl gegeben.
Mutmaßlicher Messer-Angriff und weitere Ermittlungen
Weitere Verfahren gegen O. wurden von Staatsanwaltschaften in Schweinfurt und Frankfurt am Main geführt. Am Amtsgericht Schweinfurt erging nach einer tätlichen Auseinandersetzung in einem Anker-Zentrum im März 2023 ein Strafbefehl mit einer Geldstrafe gegen den Mann wegen vorsätzlicher Körperverletzung.
Eine weitere Tat könnte sich zudem in Alzenau zugetragen haben: Wie die "Bild"-Zeitung und RTL berichten, soll O. im August 2024 in der Geflüchtetenunterkunft mit einem Messer auf eine Frau losgegangen. Laut "Bild" handelte es sich um eine Ukrainerin.
Die Zeitung zitierte eine Zeugin des mutmaßlichen Angriffs, die ebenfalls aus der Ukraine stammt: "Er schnitt einer Landsfrau von mir immer wieder in die Haut", sagte die Frau laut "Bild". "Sie schrie um Hilfe, ich alarmierte die Polizei."
Dieser Vorfall ist der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg allerdings bisher unbekannt gewesen. Die Geschichte von der angeblichen Messer-Attacke werde nun überprüft und "selbstverständlich Gegenstand der weiteren Ermittlungen", teilte Oberstaatsanwalt Marco Schmitt t-online mit.
"Wie konnte die Polizei nur so versagen?"
Ein Bewohner der Unterkunft in Alzenau macht den Behörden nun Vorwürfe. Nach all den Vorfällen mit O. fragt er: "Wie konnte die Polizei nur so versagen?" Es hätten doch alle gewusst, "dass der nicht richtig tickt“.
Laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wurden in der Unterkunft des 28-Jährigen nach dem tödlichen Angriff vom Mittwoch Medikamente gefunden. Es müsse nun überprüft werden, nach welchen Kriterien solche Menschen wieder aus einer Klinik gelassen werden, "weil wir sehen, wie gefährlich die Situation sein kann". Laut einer Justizsprecherin stand der Tatverdächtige seit dem 9. Dezember 2024 unter Betreuung, "da der Betroffene aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, seine Angelegenheit rechtlich zu besorgen".
"Das ist Teil des Problems"
Am Donnerstag ordnete eine Haftrichterin die einstweilige Unterbringung des Verdächtigen in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der bayerische Flüchtlingsrat teilte t-online unterdessen mit, den mutmaßlichen Täter und seine Geschichte nicht zu kennen. Auch seine Unterkunft in Alzenau sei den Helfern nicht bekannt: "Und das ist Teil des Problems", meinte Stephan Dünnwald vom Flüchtlingsrat.
Der Helfer wies darauf hin, dass Migranten in Bayern regelmäßig in dezentralen Unterkünften untergebracht würden, "die oft irgendwo am Rande der Gemeinden sind, wo es wenig Beratung gibt, wenig Sprachkurse, wenig Angebote der Teilhabe an dieser Gesellschaft". Zugleich habe die bayerische Politik viele Ehrenamtliche "erschöpft und vergrault". Die Folge sei, dass in vielen Unterkünften Geflüchtete allein gelassen von der Gesellschaft leben würden.
"Wer mit dieser Situation nicht fertig wird, bekommt nicht ernsthaft Hilfe", kritisierte Dünnwald. "Wer Suizidgedanken äußert, kommt für ein paar Tage in die Psychiatrie, wird medikamentös behandelt und wieder entlassen." Wem es wirklich um Prävention gehe, der müsse sich für eine funktionierende Früherkennung sowie ernsthafte therapeutische Angebote einsetzen. Außerdem müsse überdacht werden, ob es sinnvoll sei, "dass Geflüchtete perspektivlos über Jahre in Unterkünften festsitzen".
Einen Amoklauf könne niemand vorhersehen, betont Dünnwald. Wenn solche Gewalttaten überproportional von Geflüchteten verübt würden, "sollte man auch in der Lebenssituation Geflüchteter hier nach den Ursachen suchen".
- Anfrage an die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg
- Anfrage an den bayerischen Flüchtlingsrat
- bild.de: "'Sie wussten alle, dass er nicht richtig tickt'"
- rtl.de: "Er ist der mutmaßliche Kindermörder von Aschaffenburg"
- polizei.bayern.de: Mitteilung des Polizeipräsidiums Unterfranken vom 22. Januar 2025