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Zwölf Tote bei Flutkatastrophe an der Ahr: Lebenshilfe bangt heute um Zukunft


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Katastrophe an der Ahr
Zwölf Flut-Tote: Lebenshilfe bangt heute um die Zukunft


Aktualisiert am 14.07.2022Lesedauer: 8 Min.
Lebenshilfehaus Sinzig: Vor einem Jahr starben dort bei der Flut zwölf Menschen. Heute steht es leer, und der Vorsitzende Ulrich van Bebber bangt um die Zukunft.Vergrößern des Bildes
Lebenshilfehaus Sinzig: Vor einem Jahr starben dort bei der Flut zwölf Menschen. Heute steht es leer, und der Vorsitzende Ulrich van Bebber bangt um die Zukunft. (Quelle: Thomas Frey, dpa/Lars Wienand)
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Zwölf Flutopfer in einer Lebenshilfe-Einrichtung: t-online-Redakteur Lars Wienand erlebte 2021, wie sich die Tragödie entfaltete. Eine Rückkehr an diesen Ort.

"Hier war Fröhlichkeit und Leben", sagt Ulrich van Bebber. Er steht vor einem Haus, dem im Erdgeschoss der Putz fehlt. Die Flügel der Eingangstür sind mit einer Kette über beide Griffe verschlossen, und die Tür war auch mal versiegelt. Drei langsam verbleichende Aufkleber der Polizei zeugen davon, das Datum lässt sich noch lesen. 15.7.2021 steht auf dem ältesten.

Das war der Tag, an dem die Fröhlichkeit und zwölf Leben hinter der Tür endeten. "Jeder fragt sich, ob er irgendwas hätte anders machen müssen", sagt Ulrich van Bebber, der Vorsitzende der Lebenshilfe im Kreis Ahrweiler, die so stolz war auf das Lebenshilfehaus in Sinzig.

An jenem 15. Juli war t-online das einzige Medium vor Ort in Sinzig, als immer deutlicher wurde, was dort passiert war. Die Szenerie beim Eintreffen: In angrenzenden Straßen laden Menschen bereits verdreckten Hausrat auf Anhänger, am Rand des überfluteten Gebiets spritzen Hausbesitzer von ihren Hofeinfahrten Schlamm, der im kräftigen Sonnenschein nach dem starken Regen schon zu trocknen beginnt.

Am Lebenshilfehaus in einer ruhigen Seitenstraße ist den Mitarbeitern der Lebenshilfe ebenso wie Einsatzkräften und den direkten Nachbarn klar: Es ist etwas Schreckliches passiert.

"Da wollen Sie nicht hin"

Ein Feuerwehrmann hält an einer Absperrung einen Mittsiebziger zurück. Er könne da nicht durch in Richtung Lebenshilfehaus, "das wollen Sie auch nicht". Der Mann sucht seine Tochter Mary, eine Bewohnerin. Ein anderer Feuerwehrmann erzählt, sie müssten später Leichen bergen. In einer nahen Schule kommen Eltern weinend aus Gesprächen mit Notfallseelsorgern, dort ist vom DRK eine Anlaufstelle für Angehörige von Vermissten eingerichtet worden.

"Wir waren so froh, dass die so schnell da waren", sagt van Bebber ein Jahr später. "Man ist so hilflos." Die Angehörigen überhaupt zu verständigen, war kaum möglich: Auch das Büro der Lebenshilfe in Bad Neuenahr-Ahrweiler war überflutet worden, die Computer hatten unter Wasser gestanden. "Wir hatten keine Telefonnummern." Für manche Angehörige wurde es ein Schrecken ohne Ende, auch wenn ihnen die Wahrheit fast gewiss war: "Wir durften nichts sagen, die Todesnachrichten hat die Polizei nach neun Tagen übermittelt, als alle mit DNA sicher identifiziert waren."

In Sinzig darf t-online aber auch erleben, wie sich nach Stunden des Bangens am späten Nachmittag Bewohnerin Carola und ihre Cousine in einem Ausweichquartier glücksselig in die Arme fallen. Die ungetrübte Freude hält nur kurz, aus Carola sprudelt heraus, was sonst so offen keiner sagt: "Es sind so viele tot!"

Bis die Pressestelle der Polizei im 40 Kilometer entfernten Koblenz das auch offiziell bestätigt, werden noch rund drei Stunden vergehen. Um 20.22 Uhr ist die Meldung bei t-online.de zu lesen.

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Sie wird sofort in einigen Tickern und Liveblogs aufgegriffen, in denen alle großen Medien über die Flut informieren. Kurz nach 21 Uhr nennt der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz eine Zahl: neun Tote. Die Zahl der bis dahin bekannten Opfer an der Ahr hat sich damit schlagartig auf 28 erhöht.

Die "tragischste Geschichte der Flut"

Die "tragischste Geschichte der Flut" nennt es einen Tag später die "Bild"-Zeitung. Tatsächlich sind sogar zwölf Bewohnerinnen und Bewohner der Behinderteneinrichtung im Schlaf in ihren Betten vom Hochwasser der Ahr überrascht worden und ertrunken.

Eine Platte neben einem Baum vor dem Eingang erinnert an sie. Kerzen, die schon lange nicht mehr gebrannt haben, stehen daneben, Gemälde liegen in dem Beet, und ein kleines Polizeiauto steht da.

Ulrich van Bebber steht davor und sagt: "Wir hatten zunächst gedacht, das Haus wieder zu beziehen. Es geht nicht." Das sei für die Bewohner und die Mitarbeiter nicht vorstellbar.

Neben einer Nachtdienstkraft waren 38 Menschen in der Unglücksnacht hier. Heute leben 15 Bewohner in einem umgebauten Hotel elf Kilometer entfernt, zehn wohnen in einem Caritas-Zentrum 25 Kilometer entfernt, in dem ein Trakt frei war.

Die Unterbringung ist ein Provisorium und bereitet dem Lebenshilfe-Vorsitzenden zunehmend Sorgen. "Die Mietverträge laufen Ende 2024 aus, und wir wollen neu bauen. Wieder alle zusammen unter einem Dach, wir sind ja eine große Familie." 800 Meter vom Lebenshilfehaus entfernt auf der anderen Seite der Ahr ist die ebenfalls von der Flut schwer getroffene Werkstatt der Caritas, in der viele der Bewohner lange gearbeitet hatten.

Kommunalpolitik Sinzig entscheidet gegen Lebenshilfe

Für das Sinziger Grundstück, auf dem die Lebenshilfe gerne neu bauen würde, hat die Sinziger Kommunalpolitik in dieser Woche Weichen gestellt. Es lief für die Lebenshilfe schlecht. Auf dem betreffenden Gelände wird wohl die Feuerwehr ein neues Domizil bekommen. "Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass es noch eine Lösung für ein neues Zuhause in der Stadt Sinzig gibt", erklärt van Bebber. Die Feuerwehr braucht auch dringend einen neuen Standort. Da, wo sie eigentlich hinziehen sollte, ist Überflutungsgebiet. Und jetzt, nach der Flut, spielt das eine Rolle.

Als die Lebenshilfe vor der Flut Pläne vorgelegt hatte, das Erdgeschoss noch in Richtung Ahr zu erweitern, gab es die Genehmigung der Behörden. Dabei lag das Lebenshilfehaus im Bereich eines Hochwassers, wie es eigentlich nur alle 200 Jahre zu erwarten ist, aber mit der Kilimakrise wahrscheinlicher wird. Van Bebber: "So viel zur Hochwasserprävention."

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Aber auch für ihn war unvorstellbar, was in der Nacht geschehen ist. "Ich hatte den Meteorologen Sven Plöger im Fernsehen gesehen mit der Warnung vor extremen Niederschlägen." Plöger hatte nicht sagen können, wo sie niedergehen. "Aber man fragt sich hinterher schon, hätte man etwas anders tun können und müssen. Jeder fragt sich das."

Es nagt an ihm, es nagt an anderen. "Die Angehörigen haben uns die Menschen anvertraut, und wir haben es nicht geschafft, sie zu schützen. Wir konnten nichts machen, aber wir haben eine Verantwortung für die Menschen."

Die Fläche, die für eine Erweiterung vorgesehen war, liegt zwischen Hauptgebäude und dem Zweifamilienhaus, in dem selbstständigere Bewohner eine eigene Gruppe bildeten. Die allein anwesende Nachtwache aus dem Haupthaus hatte sie ins höher gelegene große Gebäude holen wollen. Mit den ersten vier hatte der Mann das geschafft. Dann kam er mit den verbliebenen vier nicht mehr raus, das Wasser stieg zu schnell.

"Zwei Stunden früher der Hinweis ..."

Sie retteten sich ins Obergeschoss. Vom Fenster aus war zu sehen, wie die Ahr unerbittlich das Erdgeschoss des Hauptgebäudes unter Wasser setzte. "Zwei Stunden früher der Hinweis, und es hätte niemand sterben müssen", sagt van Bebber. Erst nach 23 Uhr verließ die Nachricht das Kreishaus, dass dort Katastrophenalarm ausgerufen worden sei und die Häuser 50 Meter zu beiden Seiten der Ahr evakuiert werden sollen.

Die Lebenshilfe ist rund 200 Meter vom Flusslauf entfernt.

Wer sich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterhält, merkt auch, wieso an eine ganz schnelle Evakuierung nicht zu denken war. Sie haben es mit Menschen zu tun, die auch ihren eigenen Kopf haben, die, mitten in der Nacht geweckt, nicht einfach aufspringen.

Es gab Kritik, wie die Lebenshilfe die Menschen mit nur einem Mitarbeiter in der Nacht alleinlassen konnte. Es ist auch eine Frage, was der Staat bezahlen will. Es war ebenfalls Mitte Juli im Jahr 2016, als die Bauaufsicht beim Kreis nach einer Begehung festhielt, dass eine einzige Nachtwache für die Einrichtung nicht ausreiche. Der Antrag der Lebenshilfe an das rheinland-pfälzische Sozialministerium für eine zweite Person im Nachtdienst liegt t-online vor, die Kosten waren durch den Pflegesatz nicht gedeckt. Das Ministerium lehnte ihn ab. Es wurde in eine verbesserte Meldeanlage investiert.

Zwölf Tote bedeuten auch Einnahmeeinbruch

Nach der Flut hat das Mainzer Ministerium der Lebenshilfe bereitwilliger Geld zugebilligt. Schließlich hat die menschliche Tragödie auch eine nüchterne betriebswirtschaftliche Seite. Hinter den Toten stehen nicht nur Alfons, Annemarie, Brunhilde und neun weitere Namen. Die Lebenshilfe verlor in der Nacht auch ein Drittel ihrer Einnahmen. "Eigentlich hätten wir Leute entlassen müssen", sagt van Bebber.

Dazu ist es komplizierter und personalintensiver, die Menschen aufgeteilt an zwei Standorten zu betreuen. "Das hat das Land auch gesehen." Einige Mitarbeiter sind gegangen. Fluktuation gibt es immer, das Geschehen rund um die Nacht spielte in einem Fall eine Rolle, lieber woanders arbeiten zu wollen. Schuldzuweisungen seien die Ausnahme gewesen, sagt van Bebber, "und die fand ich unsäglich, wenn man Ende der Kette die kleinen Leute an den Pranger gestellt werden".

Die Staatsanwaltschaft hat wegen der Toten im Lebenshilfehaus einen Prüfvorgang zunächst separat geführt. Das Todesermittlungsverfahren ist wie bei den übrigen Toten der Ahrflut, insgesamt sind es 134, in einem anderen Verfahren aufgegangen, heißt es von der Staatsanwaltschaft Koblenz auf Anfrage. Es richtet sich gegen den damaligen Landrat des Kreises, Jürgen Pföhler, und ein Mitglied des Krisenstabs, und es geht um fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung ggf. im Amt durch Unterlassen.

Der Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse sagte schon im August, für die Toten in Sinzig sei "anzunehmen, dass sie bei einer früheren, deutlicheren Warnung vor den Gefahren und bei einer früheren, deutlicheren Evakuierungsanordnung hätten gerettet werden können".

"Staat versagt beim Schutz Hilfsbedürftiger"

An der Ahr bewegt kaum eine Frage die Menschen so wie die, ob Pföhler strafrechtlich belangt wird. Es geht aber eigentlich darum, ob niemand Verantwortung trägt, wenn Unvorstellbares passieren kann: "Du denkst, Du bist in Deutschland, da gibt es Katastrophenschutz", sagt van Bebber, selbst Kreistagspolitiker für die FDP. "Und dann versagt der Staat, besonders hilfsbedürftige Personen zu schützen. Das hat mein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit erschüttert."

Aus dem Erdgeschoss hat es nur ein Mann durch das Fenster nach draußen geschafft. Wegen seiner Hilferufe geht von Nachbarn um 2.58 Uhr einer der zahllosen Anrufe bei der Polizei ein.

Etwa zu dieser Zeit schickt t-online eine Anfrage an die Pressestelle der Kreisverwaltung. Auf der Facebook-Seite des Kreises waren die dringenden Hilferufe von Menschen zu lesen, die auf Dächern verzweifelt auf Hubschrauber warteten.

Schon um 5.16 Uhr ist die Reaktion da: "Zur Beantwortung laden wir Sie zu unserer heutigen Pressekonferenz ein." In der Nachbarschaft des Lebenshilfehauses hören Menschen den Mann im Wasser immer noch verzweifelt um Hilfe rufen, er könne sich nicht mehr lange halten. Ein Boot kommt für ihn doch noch rechtzeitig.

Der t-online-Reporter erreicht die Pressekonferenz nicht. 62 Brücken sind in der Nacht zerstört und 13 beschädigt worden, und die Kreisverwaltung liegt auf der anderen Ahrseite: Luftlinie nicht weit weg und doch unerreichbar. An den Trümmern einer Brücke steht eine Frau, stellvertretende Pflegedienstleiterin, sie müsste eigentlich die Kollegin in einer Klinik drüben ablösen.

Da im Haus, sagt sie und zeigt die Straße runter auf ein Gebäude, da ist in der Nacht auch eine Frau ertrunken, die noch mal in den Keller wollte. Schlimm. Aber in Sinzig sei es ganz schrecklich, habe er gehört, sagt ein Mann. "Da haben sich wahrscheinlich die armen Menschen bei der Lebenshilfe nicht mehr retten können."

Die Pressekonferenz der Kreisverwaltung wäre am Tag nach der Flutnacht nicht der Ort gewesen, um wirklich das Ausmaß des Schreckens der Flut zu ermessen. Sinzig schon.

Wieder vermehrt Traumatherapie

Im Juli 2022 erfordert es im Kontakt mit verschiedenen Stellen der Lebenshilfe Überzeugungskraft, um ein Treffen zu erreichen. Auf keinen Fall in einer der beiden Einrichtungen, macht der Vorsitzende deutlich. "Die Bewohner sollen das als ihr Zuhause empfinden, da kommt auch nicht laufend fremder Besuch."

Und der Jahrestag wühle ohnehin schon viel auf. "Trauer und Depression kommen wieder, es sind viele, die noch zu kämpfen haben. Manche wollen auch gar nicht mehr konfrontiert werden." Es gebe auch wieder mehr Bedarf für Traumatherapie. "Es bohrt noch, und es kommt manchmal situativ hoch." Da reicht dann manchmal schon ein Spiel auf dem Tisch, das einer der Verstorbenen besonders gerne gespielt hat.

Zwischendurch, sagt er, da war neuer Elan aufgekommen. "Wir hatten nach vorne geschaut und überlegt, neue Wohnformen auszuprobieren. Es gab viele Ideen. Aber wir sehen ja keinen Fortschritt." Die ungeklärte Grundstücksfrage lastet schwer auf der Lebenshilfe.

Dabei gäbe es sogar eine Idee, was aus dem Lebenshilfehaus werden könnte, wenn alle Pläne aufgingen: Van Bebber blüht auf, als er erzählt, wie es wäre, hier einen integrativen Kindergarten einzurichten. Hinter ihm schwirren Hummeln um die wild wachsenden Blumen. Vielleicht könnte das Lebenshilfehaus doch irgendwann wieder ein Ort von Leben und Fröhlichkeit werden.

Verwendete Quellen
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