Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine fatale Entscheidung
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
CDU-Chef Friedrich Merz hat den Kanzler am Wochenende frontal angegriffen. Auf dem Parteitag der Schwesterpartei CSU in Augsburg warf er Olaf Scholz vor, der respektloseste Bundeskanzler zu sein, den Deutschland je gesehen habe.
Ins Detail ging Merz nicht, weitgehend unklar blieb, was er dem Kanzler genau vorwirft. Aber "Respekt" gegenüber allen ist eben eines der größten Versprechen von Scholz. Merz wollte dem offensichtlich etwas entgegensetzen. Und die Halle applaudierte.
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Doch statt die Regierung eher oberflächlich zu attackieren, sollte der CDU-Chef lieber an seine eigene Partei appellieren. In der gärt es nämlich ziemlich. Und das in einer Weise, die nicht nur Respekt vermissen lässt, sondern auch ein tiefergehendes Verständnis von Demokratie, christlichen Werten und Wahrhaftigkeit den eigenen Wählern gegenüber. Das zeigt sich vor allem an zwei Fällen.
Fall Nummer 1: Der Thüringer Landtagsabgeordnete und ehemalige Fraktionschef Mike Mohring, einer der prominentesten Politiker im Landesverband, plädierte am Wochenende dafür, die Ausgrenzung der AfD im Erfurter Parlament zu beenden. Übersetzt bedeutet das offenbar: Mohring will künftig AfD-Abgeordnete in wichtige Funktionen im Parlament wählen und wohl auch mit dem rechtsextremen AfD-Landesverband kooperieren.
Zur Erinnerung: Mohring war bereits 2020 ein zentraler Strippenzieher, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD und CDU zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten gewählt wurde. So löste Mohring in Thüringen eine politische Krise aus und stürzte auch die Bundespartei in ein derartiges Chaos, dass die damalige Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer schließlich zurücktrat und der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, sowie Mohring ihre Ämter verloren.
Mohring, der nun wieder nach oben strebt, scheint daraus nichts gelernt zu haben. Dass der AfD-Landesverband vom Verfassungsschutz beobachtet wird? Kein Problem für ihn, sagt er nun: Das bedeute ja "nicht mehr und nicht weniger, als dass es für den Verfassungsschutz Anhaltspunkte gibt, dass die AfD nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht".
Anhaltspunkte? Wer Björn Höcke, den Thüringer AfD-Chef, schon hat reden hören, der kann über solche Verharmlosungen nur den Kopf schütteln. Denn Höcke fantasiert recht offen vom Umsturz, glorifiziert die NS-Vergangenheit und zitiert Nazi-Größen. Es braucht keinen Verfassungsschutz, es braucht nur Augen, Ohren und ein wenig Verstand, um schnell zu begreifen: Dieser Landesverband ist rechtsextrem.
Natürlich weiß Mohring das sehr genau, er hört Höcke schließlich regelmäßig im Parlament. Doch die AfD ist in Thüringen laut Umfragen derzeit stärkste Kraft.
Mohrings Gebaren ist eine fatale Entscheidung für die Macht und gegen das Gemeinwohl, die auch gegen die Weisung des CDU-Vorsitzenden verstößt. Merz hatte sein Amt mit dem Versprechen angetreten, dass es keine Kooperation mit der AfD gibt, nirgendwo. Deswegen muss ihm der Auftritt von Mohring Warnung und Auftrag zugleich sein: Er muss handeln – sonst kann dieser Mann ihn in Bedrängnis bringen.
Wie aber reagiert Merz? Er schweigt. Und das womöglich, weil Mohring ihn bei der Wahl zum Chef der Bundespartei unterstützt hat. Nun scheint das bisschen AfD-Schmuserei kein veritables Problem zu sein.
Dazu passt Fall Nummer 2, bei dem Merz zweifelhafte Einstellungen und Kumpeleien seiner Leute mit Rechtsaußen schon länger ignoriert: Im sächsischen Bautzen haben Unbekannte in der Nacht zum Freitag offenbar einen Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim verübt – wenige Tage, bevor die ersten von insgesamt 200 Bewohnern einziehen sollten. Und wenige Tage, nachdem die AfD gegen das Gebäude demonstriert hat – oder wie es im Parteisprech heißt: "gegen die unkontrollierte Migrationswelle". Die Tat reiht sich ein in eine Serie von mutmaßlichen Anschlägen auf Flüchtlingsheime in den vergangenen Wochen, die alle in Ostdeutschland begangen wurden.
Das Landeskriminalamt ermittelt, CDU-Innenminister Armin Schuster spricht von einer "fremden- und menschenfeindlichen" Tat. Die Aufklärung hat angeblich oberste Priorität.
CDU-Landrat Udo Witschas aber legt eine andere Priorität offen und lässt sich unter anderem so zitieren: Der Schutz solcher Einrichtungen sei immer so groß wie die Einstellung der Bevölkerung dazu. "Deswegen kann ich auch nicht glauben, dass diese Menschen, die hier verbrecherisch handeln, aus unserer Heimat sein sollen. Das ist für mich unfassbar."
Noch bevor ermittelt wurde, spricht Witschas die Menschen vor Ort also von jeder Schuld frei. Rechtsextreme? Doch nicht bei uns!
Angesichts von Witschas Hintergrund ist das nicht wirklich überraschend, er sorgte schon mehrmals bundesweit für Schlagzeilen. In der Corona-Pandemie weigerte er sich, als stellvertretender Landrat die einrichtungsbezogene Impfpflicht durchzusetzen und machte den geplanten Rechtsbruch auf einer "Querdenker"-Demonstration bekannt. Und zuvor, weil er über Facebook recht vertraulich und intensiv mit dem ehemaligen NPD-Kreisverbandschef kommunizierte.
Ein Grund, um einzugreifen? Das Gespräch zu suchen? Auf öffentliche Distanzierung zu dringen? Offenbar nicht für die CDU-Spitze, und auch nicht für Friedrich Merz. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass Rechtsaußen-Positionen in Bautzen gut ankommen: Hier schneidet die AfD noch stärker ab als im restlichen Sachsen.
Mit seinem Schweigen zum sächsischen Landrat Witschas und zum Thüringer Landespolitiker Mohring bekommt Merz' Brandmauer gegen rechts, die er einst versprach, Löcher. Damit schadet er dem politischen Diskurs.
Vermutlich wird der Schaden für seine Partei aber sogar noch größer sein. Denn bisher haben CSU und CDU selten davon profitiert, wenn sie die AfD kopierten. Zuletzt wurden die Christdemokraten bei der Landtagswahl in Niedersachsen abgestraft, nachdem Merz ukrainischen Flüchtlingen "Sozialtourismus" vorwarf. Rund 40.000 Wähler der CDU wechselten zur AfD.
Brasilien entscheidet
Wer wird im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas die nächsten vier Jahre regieren? Der linke Ex-Präsident Lula da Silva, der Brasilien einst mit Sozialprogrammen groß und wirtschaftlich stark machte, dann aber wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis saß? Oder der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro, der wirtschaftliche Stärke durch Ausbeutung der Natur verspricht, Waffengesetze gelockert hat und die staatlichen Institutionen sowie die Wissenschaft anzweifelt?
Zum zweiten Mal in diesem Monat waren 146 Millionen Brasilianer am Sonntag zur Wahl aufgerufen, um über diese Frage zu entscheiden. Denn beim ersten Mal fiel das Ergebnis zu knapp und für beide Kandidaten zu schwach aus: 48 Prozent für Lula, 43 Prozent für Bolsonaro. Nun scheint die Entscheidung gefallen zu sein – hauchknapp: Lula kommt nach Mitteilung des Wahlamts in der Nacht zu Montag auf 50,84 Prozent der Stimmen, Bolsonaro auf 49,16.
Schon jetzt aber ist klar: Das Land ist zerrissen, ähnlich wie in den USA sind die Mehrheiten zwischen den politischen Lagern dünn und flexibel. Deswegen stehen Brasilien, ganz unabhängig vom Ausgang der Wahl, nun vermutlich auch unruhige Wochen bevor. Die Stimmung ist angespannt, Experten warnen vor einem Ausbruch von Gewalt. Warum uns Europäer die Lage und die Wahl in dem Land dringend interessieren müssen, warum sie unser aller Leben betreffen und verändern können, erklärt meine Kollegin Sonja Eichert hier.
Was heute noch ansteht
Außenministerin Annalena Baerbock besucht mit einer Wirtschaftsdelegation und Bundestagsabgeordneten für knapp drei Tage Kasachstan und Usbekistan. Bei der Reise in die früheren Sowjetrepubliken dürfte angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine auch die Energiekrise eine Rolle spielen.
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Das historische Bild
"Schwarzhemden" nannten sich die Gefolgsleute von Benito Mussolini, 1922 kam der "Duce" dank ihnen und eines Bluffs in Italien an die Macht. Wie das geschah, lesen Sie hier.
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Als rauschende Riesen verschrien, sind Windräder dennoch das Rückgrat der Energiewende. Ein neuer Prototyp erreicht nun Höchstleistungen, die man zuvor für unmöglich gehalten hätte. Was das bedeutet, erklärt meine Kollegin Theresa Crysmann.
Deutschland ist eines der Länder in Europa, in dem Reichtum am ungleichsten verteilt ist. Das liegt vor allem an einem Tabuthema, schreibt Autor Yannick Haan in seinem Buch: dem Erben. Lesen Sie hier exklusiv einen Auszug.
Sebastian Deisler wurde als Ausnahmetalent gefeiert, wusste um seine Begabung – doch scheiterte tragisch. Mein Kollege Alexander Kohne hat den bewegten Weg des Supertalents, das seine Karriere mit nur 27 Jahren beendete, nachgezeichnet.
Was amüsiert mich?
Wie unser Karikaturist Mario Lars auf Markus Söder und Friedrich Merz beim CSU-Parteitag blickt:
Ich wünsche Ihnen einen wundervollen freien Tag – und allen Berlinern: Kopf hoch, bald ist Frauentag. Morgen begleitet Sie Florian Harms hier wieder in den Tag.
Herzliche Grüße
Ihre
Annika Leister
Politische Reporterin
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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