Wider das Tabu Enterbt uns doch endlich!
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Deutschland ist eines der ungleichsten Länder in Europa. Das liegt vor allem an einem Tabuthema, schreibt Autor Yannick Haan in seinem Buch. Ein Auszug.
Als vor ein paar Jahren meine Mutter starb, hat sich mein Leben grundlegend verändert. Wenn ein naher Verwandter stirbt, dann ist das immer ein tiefgehender Einschnitt in das eigene Leben. Noch weitgehender ist der Tod der eigenen Mutter. Es geht auch irgendwie ein Teil von einem selbst.
Doch neben diesem persönlichen Verlust hat sich mit diesem Ereignis noch etwas in meinem Leben verändert: Ich habe geerbt. Keine Millionen, keine Firmenimperien oder Schlösser, aber eine spürbare Summe Geld.
Heute lebe ich in Berlin-Kreuzberg in meiner Eigentumswohnung und ich vermiete zusätzlich eine kleine Wohnung. Auf einen Schlag habe ich mehr Kapital erhalten, als ich es je in meinem Leben mit einer regulären Ertragsarbeit hätte verdienen können. Das Erben hat mich verändert.
Mein Fall ist wahrlich kein Ausnahmephänomen, sondern absoluter Alltag in Deutschland. Von schwindelerregend hohen Summen, die andere erben, bin ich weit entfernt. Und doch hat mich diese Erfahrung zum Nachdenken gebracht.
Mit einem Erbe stellt sich auch immer die Frage, mit welchem Recht man dieses Geld nun eigentlich erhält. Und warum bekommen andere gar nichts oder erben sogar noch Schulden?
Plötzlich ein anderes Leben
Erst mit meinem eigenen Erben, mit meiner eigenen "Anschubfinanzierung" ist mir bewusst geworden, welche Dynamik sich durch dieses Prinzip in die Gesellschaft hineinfräst. Ich habe gesehen, wie das Erben das eigene Leben verändert.
Mein eigenes Leben hat sich plötzlich anders entwickelt als das meiner Freund*innen. Ich habe selten etwas erlebt, das mich von meinen Freund*innen so entfremdet hat wie dieses unhinterfragte Prinzip.
Während die einen weiterhin kaum über die Runden kommen, sich von einem befristeten Job zum nächsten hangeln, sitze ich auf einmal in meiner Eigentumswohnung, im sogenannten Betongold.
Der Autor
Yannick Haan, 36 Jahre alt, ist Publizist, Aktivist und Politiker. Er ist Vorsitzender der SPD Berlin-Mitte, engagiert sich in der Digitalpolitik und arbeitet beim Think Tank iRights Lab. Dieser Text ist ein Teilauszug aus seinem neuen Buch "Enterbt uns doch endlich! Wie das Erben meine Generation zerreißt", das im November im Trabanten Verlag erscheint.
Ein Teil dieses unhinterfragten Prinzips zu sein, lässt einen anders auf die Gesellschaft blicken. Auf einmal spürt man die Dynamik, die vorher aus abstrakten ökonomischen Zahlen bestand.
Eines der Grundprinzipien unseres marktwirtschaftlichen Systems ist es, dass wir durch unser eigenes Handeln unser Leben, unser gesellschaftliches Fortkommen bestimmen können. Es ist das große Versprechen, das mit unserem Wirtschaftssystem einhergeht. Doch ist dieses Versprechen derzeit noch haltbar?
Sind wir durch das Prinzip des Erbens nicht vielmehr auf dem Weg zurück in eine Art moderne feudalistische Gesellschaft? In eine Gesellschaft, in der die Abstammung wichtiger ist als das eigene Handeln?
Unfassbare Summen werden vererbt
Die unfassbar hohen Erbsummen der nächsten Jahre geben uns Hinweise, dass sich in der Gesellschaft etwas verändern wird. Derzeit werden in Deutschland jährlich schätzungsweise rund 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt betrug im Jahr 2021 knapp 500 Milliarden Euro.
Mit den sogenannten Baby-Boomern rollt die eigentliche Erbwelle dabei erst noch auf uns, auf meine Generation, zu. Nun ließe sich argumentieren, dass am Prinzip des Erbens und den derzeitigen hohen Summen nichts zu kritisieren sei. Schließlich wird damit die nächste Generation unterstützt.
Eltern, die für einen gewissen Lebensstandard hart gearbeitet haben, geben ihr Erspartes an die Kinder weiter. Das Erben kann auch einen wichtigen Beitrag zur Generationengerechtigkeit darstellen. Die Eltern leben nicht auf Kosten der Kinder, sondern geben ihnen das eigene Vermögen weiter. Wer kann etwas dagegen haben, wenn Eltern, wenn Großeltern, wenn die Familie füreinander sorgen will?
Doch die Erbsummen, die weitergereicht werden, werden nicht nur immer größer, sondern auch immer ungleicher verteilt. Die Mehrheit in der Gesellschaft erbt nichts oder nur sehr wenig. Dagegen profitiert vor allem das reichste Prozent der Bevölkerung von immer größeren Erbschaften. Sie können ihre Vermögen von Generation zu Generation immer stärker erweitern.
Faktor Erbe ist bei uns entscheidend
Wir sind derzeit auf dem weltweit dritten Platz als Standort für Superreiche. Unter diesen sind in vielen Fällen Angehörige von Familienunternehmen zu finden, deren Vermögen von Generation zu Generation weitergereicht wird.
In den USA oder in Großbritannien sind rund zwei Drittel der Superreichen durch das eigene Handeln vermögend geworden. In Deutschland dagegen haben 67 Prozent zumindest einen Teil ihres Vermögens geerbt. In kaum einem anderen Land ist der Faktor Erbe so entscheidend für die eigene ökonomische Situation wie bei uns.
Schaut man sich die Superreichen in Deutschland an, dann zeigen sich hier vor allem sechs Eigenschaften sehr häufig: Sie sind männlich, haben ein hohes Alter, ihnen fehlt eine Migrationsgeschichte, sie sind westdeutsch, gut gebildet und selbstständig tätig. An diesen Eigenschaften zeigt sich die besondere Schärfe und Dringlichkeit der deutschen Situation.
Das vererbte Vermögen scheint das politische Ziel der Chancengerechtigkeit zu verhindern, ohne dass wir darüber gesellschaftlich je wirklich debattiert haben. Warum steht nicht jede Woche eine andere NGO auf der Straße, um mit tausenden anderen zusammen zu demonstrieren? Warum ist das nicht das Hauptthema der sozialen Verbände in Deutschland? Und warum sind die linken Parteien in der Debatte so verdammt ruhig?
Schaut man in die Programme dieser linken Parteien, so wollen alle mit dem Instrument der erhöhten Steuern ein wenig in die derzeitige Dynamik eingreifen. Doch offensiv nach vorne tragen möchte das keine Partei. Man versteckt es lieber im Kleingedruckten der Wahlprogramme, die sowieso kaum jemand liest. Bei Koalitionsverhandlungen wird die Forderung dann auch regelmäßig wieder schnell in die Schublade gesteckt und fallen gelassen.
Erben vollzieht sich im Dunkeln
Es sollen möglichst wenige von der politischen Forderung erfahren, so scheint es. Dies liegt, so meine Vermutung, in aller Regel an der Mehrheitsmeinung innerhalb der Bevölkerung. Fälle wie meiner werden von einer Mehrzahl der Menschen nicht kritisch gesehen, sondern ausdrücklich begrüßt. Fragt man nach einer Erbschaftssteuer, dann äußert eine Mehrheit der Befragten ihre Bedenken.
Eine Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov hat ergeben, dass 70 Prozent der Deutschen die Besteuerung von Erbschaften unfair findet – obwohl es sich hierbei um einen sehr milden politischen Eingriff handelt. Nur jeder Fünfte befürwortet grundsätzlich eine Besteuerung von Erbschaften.
Doch wie geht eine solche Haltung mit unserem Gerechtigkeitsempfinden einher? Warum wollen anscheinend auch viele Menschen, die gar nichts erben, nicht, dass ich einen kleinen Teil meines Erbes an die Allgemeinheit abgebe?
Erben, das ist mir in den letzten Jahren noch einmal bewusst geworden, vollzieht sich im Dunkeln. Wenn ein Freund einen Elternteil verliert, dann fragen wir zu Recht erst einmal nicht nach dem Erbe, sondern wir versuchen, die Person zu trösten, ihr Halt zu geben. Daher ist das vererbte Geld noch schambehafteter als beispielsweise unser Einkommen durch Arbeit. Bereits über dieses Einkommen wird in Deutschland sehr wenig und nur sehr ungern gesprochen.
Das Erben ist daher ein Prozess, der sich außerhalb der Öffentlichkeit vollzieht. Ihm fehlt jegliche Bühne für eine gesellschaftliche und politische Debatte. Die meisten Erben entziehen sich auch sehr bewusst der medialen und gesellschaftlichen Beurteilbarkeit. Dabei wäre diese heute so verdammt notwendig.
Das Versprechen des Kapitalismus geht verloren
Ich mache mir wirklich Sorgen um die zukünftige Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft. Wir sind auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft, in der nur noch die Herkunft zählt und immer weniger die eigene Leistung. Das große Versprechen des Kapitalismus geht zunehmend vollends verloren. Es bleiben uns am Ende nur noch die negativen Folgen dieses Wirtschaftsprinzips erhalten.
Die soziale Beweglichkeit unserer Gesellschaft nimmt immer weiter ab. Heute hat in unserer Ökonomie der Faktor Kapital die Arbeit als wichtigste Quelle für Reichtum aber auch als Ursache für Ungerechtigkeit abgelöst. Mit einer regulären Arbeitsstelle wird derzeit kaum noch jemand reich.
Doch Kapital hat die Tendenz, ungerechter verteilt zu sein. Außerdem zahlen wir auf Kapital deutlich weniger Steuern. Während bei meiner monatlichen Gehaltsabrechnung ein nicht unbeträchtlicher Teil an den Staat abfließt, war das bei meiner Erbschaft nicht der Fall.
Klar, ich musste auch in diesem Fall einen kleinen Teil an den Staat abgeben. Ich zahle natürlich auch Steuern auf meine Wohnungen. Aber das Verhältnis zwischen Einkommen und Abgaben ist ein grundlegend anderes. Es kommt mir ehrlich gesagt recht grotesk vor, wie wenig Steuern bei meinem Erbe angefallen sind. Es ist immerhin Geld, für das ich nicht gearbeitet habe.
Und eines habe ich in den letzten Jahren gelernt: Wer über Kapital verfügt, wem Immobilien gehören oder wer Firmenanteile besitzt, dem eröffnen sich weitere Möglichkeiten. Vermögen gibt einem eine Sicherheit, Dinge auch einfach mal auszuprobieren, es bietet einem ein Umfeld mit mehr Möglichkeiten.
Meistens potenzieren sich diese Möglichkeiten im Laufe des Lebens immer weiter, während ein großer Teil der Gesellschaft einfach stecken bleibt. So entstehen ökonomische Dynamiken, die sich selbst beschleunigen. Und es gerät langsam etwas ins Rutschen.
Lasst uns also über das Erben reden!
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- Teilauszug aus Yannick Haans Buch "Enterbt uns doch endlich! Wie das Erben meine Generation zerreißt", Trabanten Verlag, 2022