Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Für Millionen Deutsche wird der Urlaub zum Drama
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Hurra, der Hochsommer ist da! Gestern 30 Grad im Westen und im Süden, heute 32 Grad im Osten, sogar Hamburg knackt die Dreißigermarke. Als erstes Bundesland startet Nordrhein-Westfalen heute in die Sommerferien, bald folgen weitere. Landauf, landab wächst die Vorfreude auf den Urlaub. Also los, bevor der Corona-Schlamassel wieder beginnt: Schnell an einen schönen Ort zischen, das Leben genießen, herrlich!
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Wenn es denn so einfach wäre. Der Weg in den Urlaub entpuppt sich in diesem Jahr für Millionen Reisende als Drama. An den Flughäfen stehen sie stundenlang in Warteschlangen vor der Sicherheitsschleuse oder am Kofferband, weil Personal fehlt. Immer mehr Flüge fallen komplett aus. So mancher Airport verhängt bereits eine "Passagier-Triage". Die Züge sind von 9-Euro-Mobilisten überfüllt, wenn sie denn fahren. Pünktlichkeit ist bei der Bahn eh passé. Auf den Autobahnen schleicht man von Baustelle zu Baustelle und blecht Unsummen für den Sprit, weil der Tankrabatt versickert.
Und wenn man es dann doch irgendwie ans Ziel geschafft hat, zum Beispiel in Oberitalien, gibt es kein Wasser. Nein, nicht nur kein Wasser im Pool, auch kein Wasser aus dem Hahn. Wegen der Rekord-Dürre beginnen italienische Kommunen, ganzen Ortschaften das Wasser abzudrehen; die Lage in Ligurien, im Piemont und rund um den Gardasee ist besonders prekär. Wer nach Spanien oder Griechenland jettet, mag mehr Glück haben, wird aber über die massiv gestiegenen Preise staunen: Mietwagenverleiher verlangen vielerorts doppelt so viel wie im vergangenen Jahr; schon ein Familieneinkauf im Supermarkt oder ein Abendessen im Restaurant kann die Urlaubskasse leeren. Von den Hotelpreisen ganz zu schweigen.
Ja, die Urlaubsfreude verfliegt dieser Tage fix. Oder man nimmt es, wie es ist, und macht das Beste draus: Vielleicht ist das ja jetzt ein guter Zeitpunkt, mal was ganz anderes auszuprobieren. Rucksack auf, raus aus dem Haus und los in die Natur, soweit die Füße tragen: Wie wäre das? Oder mit Satteltaschen aufs Rad, und ab? Flussufer und Küsten, Gebirge und Täler, Wälder und Felder: Deutschland bietet so viele schöne Landschaften, die sich erwandern oder durchradeln lassen, das garantiert jeder glücklich wird. Das Chaos auf Flughäfen, Bahnhöfen und Autobahnen überlässt man dann getrost den Gestressten.
Erst reformieren, dann wachsen
Nun ist es offiziell: Die Europäische Union hat der Ukraine den Status als Beitrittskandidatin gewährt, in Kiew darf man nun von der Mitgliedschaft im mächtigsten Wirtschaftsbund der Welt träumen. Außerdem mehren sich die Stimmen, die Albanien und Nordmazedonien nach jahrelangem Warten schnell aufnehmen wollen. So viel Euphorie schwingt durch die Brüsseler Flure, dass man einfach mal nüchtern feststellen muss: Weder das eine noch das andere wird bald geschehen. Die EU ist gegenwärtig nicht in der Lage, weitere Länder aufzunehmen. Sie ist ein gefesselter Koloss, und gefesselt hat sie sich selbst.
Die Entscheidungsstrukturen der Union sind nicht nur träge und in Teilen undemokratisch, sie sind auch unpraktikabel. Das unselige Einstimmigkeitsgebot erlaubt es Autokraten wie Viktor Orbán, Reformen zu blockieren und die anderen Staaten zu erpressen. Der Rat der Staats- und Regierungschefs ist eine intransparente Kungelrunde. Ein Bürgerkonvent hat im Mai konkrete Vorschläge gemacht, was geändert werden muss, um die EU effizient und bürgernah zu gestalten. Politiker aller Staaten applaudierten laut.
Doch passiert ist seither nichts. Zwar fordern Kanzler Olaf Scholz und andere Regierungschefs in ihren Reden Reformen – doch sie tun nichts Konkretes dafür. Auch der französische Wirbelwind Emmanuel Macron hat seit seiner Parlamentswahlschlappe erkennbar das Interesse an europäischen Themen verloren. Solange diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten bestehen bleibt, sind die großspurigen Erweiterungsversprechen kaum mehr als heiße Luft.
Ja, für die Ukraine mag der Kandidatenstatus ein politisches Symbol sein. Vielleicht kann er auch die wirtschaftliche Entwicklung befördern. Allzu große Erwartungen sollte man in Kiew daran aber lieber nicht knüpfen. Im derzeitigen Zustand wäre die EU gar nicht in der Lage, rechtsstaatliche Grundregeln und deren verbindliche Kontrolle in einem korrupten Land wie der Ukraine sicherzustellen. Sie schafft es ja schon in Bulgarien, Rumänien, Polen und Ungarn nicht. Erst müssen die EU-Staaten ihre gemeinsamen Entscheidungsprozesse reformieren. Gelingt ihnen das nicht, wird die EU nicht wachsen. Sondern als gefesselter Koloss zwischen den Blöcken Amerika und China zerrieben.
Weg damit!
In der Bundestagsdebatte über die Abschaffung des Paragrafen 219a, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelt, ging es hoch her: Während FDP-Justizminister Marco Buschmann es "absurd" nannte, dass Ärzte keine ausführlichen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche öffentlich anbieten dürfen, sorgte sich die CDU, dass die Streichung des Strafgesetzparagrafen den Eindruck erwecken könne, Abtreibungen seien normale ärztliche Heilbehandlungen. Nach Auffassung der Unionsfraktion ist das unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens; auch die AfD-Fraktion lehnt die Streichung ab. Der Linken wiederum geht sie nicht weit genug: Sie möchte gleich auch noch den Paragrafen 218 abschaffen, sodass Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich nicht mehr strafbar wären.
Wenn das Parlament heute über die Abschaffung des Werbeverbots abstimmt, sollte die Mehrheit dennoch sicher sein: Die Ampelparteien haben das Projekt im Koalitionsvertrag vereinbart und sind sich einig. Auf der Besuchertribüne wird auch die bekannteste Gegnerin des Paragrafen 219a sitzen: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wurde erstmals 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf ihrer Website Informationen zur Abtreibungsmethodik bereitgestellt hatte. Der Entwurf der Ampelparteien sieht vor, dass Urteile wie dieses nachträglich aufgehoben werden.
Gegen den Hunger
Kurz vor dem G7-Gipfel in Elmau rückt die Bundesregierung die weltweite Ernährungssicherung in den Blick: Außenministerin Annalena Baerbock, Agrarminister Cem Özdemir und Entwicklungsministerin Svenja Schulze haben für heute Vertreter der G7-Staaten sowie weiterer Länder und Organisationen zur Konferenz nach Berlin eingeladen. Insbesondere geht es darum, den von Russland blockierten Export von Getreide aus der Ukraine zu ermöglichen. Etwa 20 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Lagerstätten, die in Afrika bitter fehlen, sind Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge betroffen.
Ein folgenschwerer Mord
Es geschah am Vormittag des 24. Juni 1922 im Berliner Villenviertel Grunewald: Auf dem Weg von seinem Privathaus ins Auswärtige Amt wurde Reichsaußenminister Walther Rathenau heute vor 100 Jahren von zwei rechtsradikalen Attentätern durch Schüsse aus einer Maschinenpistole ermordet. Kein anderes Ereignis hat die Weimarer Republik so erschüttert wie diese Tat, Millionen Menschen bekundeten Trauer und Protest. Das Kalkül der Attentäter, einen Bürgerkrieg zu provozieren, fruchtete zwar nicht. Doch die Lehren aus dem Attentat wurden zu wenig beherzigt – mit dramatischen Folgen, wie unser Zeitgeschichteredakteur Marc von Lüpke schreibt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier legt heute am Ort des Attentats einen Kranz nieder. Auf seine anschließende Rede im Deutschen Historischen Museum folgt eine Diskussion mit dem vielsagenden Titel: "Von Weimar nach Berlin? Zum Charakter antidemokratischer Gewalt in Deutschland".
Die Heldin des Tages …
… heißt Marietheres Wübken. Die 97-Jährige aus Nottuln nahe Münster in Nordrhein-Westfalen hat sich mitsamt ihrem Rollator auf einen 100 Kilometer langen Spendenlauf begeben, um Geld für arme Kinder in Kenia zu sammeln. Wegen einer Covid-Infektion musste sie zeitweise pausieren, heute will sie ihr Ziel erreichen. Stark!
Was lesen?
Wirtschaftsminister Robert Habeck hat die Gas-Alarmstufe ausgerufen. Was das für Verbraucher bedeutet, erklären meine Kollegen Frederike Holewik und Mauritius Kloft.
Die deutschen Panzerhaubitzen 2000 sind in der Ukraine eingetroffen. Diese Waffen könnten den Krieg verändern, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
Jeder Bürger soll jetzt überall Waffen tragen dürfen: Mit einem weitreichenden Urteil hat der Oberste Gerichtshof in den USA das Waffenrecht liberalisiert. Warum die Entscheidung in die Katastrophe führen könnte, analysiert unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns.
Die documenta sorgt für negative Schlagzeilen – aber was ist auf der Kunstausstellung in Kassel eigentlich sonst zu sehen? Unser Kolumnist Wladimir Kaminer berichtet von skurrilen Erlebnissen.
Einerseits die Verpflichtung von Weltstar Sadio Mané, andererseits die Querelen um den möglichen Abgang von Robert Lewandowski: Beim FC Bayern herrscht Unruhe. Unser Bayern-Experte Patrick Mayer hat sich von Lothar Matthäus erklären lassen, was in München los ist.
Was amüsiert mich?
Die Ampelleute setzen das Volk richtig unter Druck.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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