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Streit um die documenta: Was für ein Irrsinn!


Meinung
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Streit um die documenta
Was für ein Irrsinn!

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 23.06.2022Lesedauer: 6 Min.
Figurendarstellung "People's Justice" auf der Dokumenta in Kassel: Das Kunstwerk ist nicht antisemitisch, sagt Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Figurendarstellung "People's Justice" auf der Dokumenta in Kassel: Das Kunstwerk ist nicht antisemitisch, sagt Wladimir Kaminer. (Quelle: Swen Pförtner/dpa)
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Die documenta ist in den Schlagzeilen – aber aus anderen Gründen als gedacht. Wladimir Kaminer war vor Ort und hat sich sein ganz eigenes sympathisch-skurriles Bild gemacht.

Alle fünf Jahre beginnt mitten im Sommer in Kassel die documenta, nach eigener Bezeichnung "die weltweit bedeutendste Ausstellung der zeitgenössischen Kunst". Sie dauert 100 Tage und soll Kassel in die Hauptstadt der Künstler verwandeln. An diesen Tagen wird dort ausschließlich Englisch gesprochen, im Straßenverkehr ist rund um die Uhr Rushhour angesagt.

Außerhalb der documenta ist Kassel eine gemütliche Kleinstadt, die durchaus einen eigenen Charme besitzt, in den Biergärten werden für müde Bergwanderer Drillinge mit grüner Soße serviert, die Kanumannschaften trainieren in der Fulda (dem Fluss, nicht der Stadt) und im Stadtmuseum zeigt man seit 100 Jahren die Ausstellung "Der Aufstieg des Bürgertums". Also Bilder von rechtschaffenen Bürgern und ihrem Porzellan.

(Quelle: Frank May)


Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Im Sommer 2021 erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".

Die zeitgenössische Kunst kommt dann wie ein Gewitter über Kassel, überschwemmt die Stadt und spült ganz anderes Volk an die Ufer der Fulda. An diesen Tagen wirkt Kassel größer, und die grüne Soße wird bunt.

Schnell lernte ich bei meinem Besuch vor wenigen Tagen, die Einheimischen von den Künstlern und Kunstliebhabern zu unterscheiden. Wie alle Menschen, die ihre Einzigartigkeit zur Schau stellen wollen, waren die angereisten Kunstliebhaber meistens uniformiert.

Die Frauen benutzten knallrote Lippenstifte und trugen große, schwarz umrahmte Puck-Brillen. Sie sahen aus wie Biene Maja, die beim Honigklau erwischt wurde. Die Männer trugen Panamas und einen gepflegten Schnäuzer an der Oberlippe. Es waren Menschen, die professionell die zeitgenössische Kunst bewundern. Die Einheimischen und die Touristen, die eine Familienkarte gekauft haben, liefen durch die Stadt mit Prospekten, Ausstellungskatalogen und fragendem Gesichtsausdruck: Wo ist denn jetzt die Kunst?

Auf der Suche nach der Kunst

Die Kunst war überall und nirgends, sie hat ein wandelbares Wesen, sie kann sich in 100 Vogelscheuchen verwandeln, in einer Straßenbahn fahren, auf den Asphalt vorm Bahnhof gekritzelt sein oder auf einem Teller serviert werden. Der arme Mann mit Bart, der in der Unterführung rumänische Lieder zum Besten gibt, kann ein zeitgenössischer Künstler sein, so wie die Frau, die ihr Kind auf der Bank am Brunnen stillt.

In den Tagen der documenta muss man in Kassel aufpassen, dass man aus Versehen nicht auf die Kunst tritt, die Kunst nicht zu hastig aufisst oder versehentlich kaputt macht. Denn alles hier ist Kunst und jeder Mensch ein Künstler. Dieses Jahr fand die "documenta fifteen" nach dem Lumbung-Prinzip statt: Die Ausstellung wurde von einem indonesischen Künstlerkollektiv kuratiert, das andere Kollektive eingeladen hat.

Sie kamen aus Thailand, Hongkong, Afrika, Australien, Palästina und Vietnam, es waren mehr als 1.500 Künstler aus der ganzen Welt unterwegs, ihre Werke waren jedoch nicht mit ihren Namen signiert. Sie waren in einer kollektiven solidarischen Arbeit entstanden.

Warum nicht einfach mit den Künstlern reden?

Bleiben wir bei Indonesien. Es gab viel Aufregung um das Werk "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi. Machen wir es kurz: Ein Schwein und der Mossad spielen eine Rolle, hinter alledem soll ein antisemitisches Motiv stecken. Inzwischen ist "People's Justice" deinstalliert.

Ich kann aus zwei Gründen etwas zur Debatte beitragen. Einmal, weil ich selbst jüdischer Herkunft bin – und schon aus diesem Grund (leider) etwas über Antisemitismus weiß. Andererseits war ich in Kassel und habe mit den betreffenden Künstlern wie auch mit den Protestierern gegen sie gesprochen. Was viele Empörte derzeit sicher nicht getan haben. Daher kann ich mit Fug und Recht behaupten: Hass auf Juden spielt bei "People's Justice" keine Rolle.

Schauen wir uns das Bild doch genauer an. Denn nicht nur eine Figur mit Schweinenase ist darauf abgebildet, sondern viele sind verzerrt, amerikanische GIs wie indonesische Soldaten, die einst das blutige Werk des Diktators Suharto beim Abschlachten der Kommunisten in Indonesien verrichteten. Das Bild ist eine politische Karikatur, ob sie gut oder schlecht ist, bleibt dem Betrachter überlassen.

Fest steht, dass auch in meiner sowjetischen Jugend Figuren in Magazinen derart dargestellt worden sind: Uncle Sam, Chiles Despot Augusto Pinochet oder eben der Mossad. Nun den israelischen Geheimdienst als stellvertretend für das Judentum in der ganzen Welt anzusehen halte ich, nun ja, für wenig hilfreich, um den Hass auf Juden in der Welt zu bekämpfen.

Dass nun nur noch über den sogenannten Antisemitismusvorfall bei der documenta gesprochen wird, ist schade. Denn es gibt Hunderte Künstlerinnen und Künstler, über deren Werke ebenfalls diskutiert werden sollte. Kommen wir daher zur Ausgangsfrage zurück: Wer ist in Kassel der Künstler?

Das Lumbung-Prinzip benennt übrigens auf Indonesisch eine Reisscheune, die nach der Ernte gemeinschaftlich benutzt wird, zum Chillen und Abhängen. Dort wird die überschüssige Ernte verteilt, es wird gesungen und getanzt. Also ging es auf der documenta ums Teilen und Ausgeben, ums gemeinsame Schaffen und Wiederverwerten.

Gärten sind sehr wichtig

Wir könnten, wenn wir wollten, alles wiederverwertbar machen. Sogar die Kunstwerke. Sehr große Kunstwerke könnten zum Beispiel in viele kleinere geteilt werden und viele Menschen glücklich machen. So habe ich in einem Pavillon einen riesengroßen Hundekopf aus Plüsch gesehen, eine alte Theaterdekoration, die durchaus in 1.000 kleine Katzen geteilt werden sollte.

In einem anderen Pavillon fuhren schnurrbärtige Ex-Kinder Skateboard, riesige Fächer aus Kuhhaut wurden über die Skater geschwenkt. Der Geist der Kuh sei noch immer in den Fächern zu Hause und wolle dringend gemolken werden, erklärte mir eine sehr ernste Künstlerin aus Thailand. Den vietnamesischen Garten hinter der Lolita Bar fand ich sehr eindrucksvoll, er glich einem Tempel und war die ganze Zeit von vietnamesischen Familien aus ganz Deutschland überfüllt.

Angeblich legt jede Familie, die aus Vietnam auswandert, als Erstes einen Garten an, ganz egal wie weit weg von zu Hause sie sind. Es gibt drei Arten von Pflanzen, die in jedem Haushalt nicht fehlen dürfen: die Pflanzen zum Schmecken, die zum Heilen und die zum Meditieren. Das Künstlerkollektiv legte in Kassel einen großen Garten an, der mit Samen von Pflanzen ihrer in Deutschland lebenden Landsleute entstand.

Die Vietnamesen konnten in diesem Garten die Samen austauschen, die ihnen zu Hause fehlen. LGBTQIA- Personen organisierten gleich neben dem Kräutergarten ihre eigenen Partys, von denen die bürgerliche Gesellschaft ausgeschlossen war.

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Ich durfte nicht feiern

Die bürgerliche Gesellschaft, sonst so überheblich und fein, wollte schon gern zur Party, musste aber draußen bleiben. Ich war auch zur Party nicht zugelassen, durfte dafür aber im vietnamesischen Garten ausnahmsweise Kräuter pflücken, die ich noch nie im Leben gekostet habe. Man durfte die Kunst in Kassel eben auch essen.

Ein in der Corona-Pandemie pleitegegangenes chinesisches Restaurant hatte einen eigenen Ausstellungsort bekommen, ihn in eine traditionelle chinesische Kantine verwandelt und dort 100 Gerichte aus 100 Ländern zum Bewundern und Verzehren ausgestellt. Abends ging es in der ganzen Stadt mit Partys los, mit Musik, Tanz, Gesang und indonesischem Karaoke. Nicht alle Besucherinnen waren mit dem Konzept der documenta glücklich.

"Ich vermisse die schönen Dinge", sagte eine Dame kopfschüttelnd, als sie aus dem afrikanischen Zelt rauskam, wo die Müllcontainer mit alter Kleidung ausgestellt waren, die jedes Jahr zu Tausenden nach Afrika geschickt werden und das dortige Textilien-Gewerbe kaputtmachen. In gewisser Weise hatte sie recht. Die schönen Dinge der documenta waren nicht unbedingt in den Zelten, in den Ausstellungsräumen zu finden, es waren die Kollektive, die wunderbaren Menschen, die auf einmal die Stadt Kassel bevölkerten.

Die ganze documenta ist im Grunde ein Spiegel unseres Treibens, sie zeigt, was falsch läuft und wie wir es besser machen könnten. Sie führt uns die Ausgrenzung, Ausbeutung, den Geiz und die Verschwendung vor. Die Botschaft der "größten Ausstellung" klingt unmissverständlich. Alles auf diesem Planeten geht früher oder später zu Ende, nur die menschliche Kreativität ist grenzenlos, wir können mit allen Problemen fertig werden, wenn wir in Kollektiven arbeiten, teilen und chillen lernen.

Und die Kunst? Die Kunst ist überall, man kann sie riechen und schmecken, sehen und hören, man kann sie anfassen und sogar mitnehmen. Das ganze Leben ist eine Kunst. Doch das größte Kunstwerk bleibt der Mensch.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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