Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das wird Deutschlands Rolle in der Welt verändern
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal haben auch erwartbare Ereignisse aufsehenerregende Folgen. Klar, wenn Eilmeldungen auf dem Handy bimmeln, weil ein Amokfahrer mehrere Menschen ins Verderben reißt, weil in der Ukraine Raketen einschlagen oder weil die Europäische Zentralbank ihre Geldpolitik ändert, schrecken wir auf und lesen eilig die neuesten Nachrichten. Wir sind schockiert oder alarmiert, am Abendbrottisch oder vor dem Fernseher versuchen wir, die Neuigkeiten zu verarbeiten. Anders bei absehbaren Begebenheiten, die der demokratische Prozess nun mal vorsieht: Die nehmen wir höchstens aus dem Augenwinkel wahr, unterdrücken vielleicht ein leises Gähnen und wenden uns schnell wieder dem nächsten Candy-Crush-Level oder anderen spannenden Dingen zu.
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So wird es wohl auch heute Vormittag sein: Wenn die Vertreter der 16 Bundesländer im Bundesrat dem Sondervermögen für die Bundeswehr zustimmen, dürfte das öffentliche Interesse überschaubar bleiben. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für den neuen Grundgesetzartikel 87a gilt als sicher; SPD, Grüne und FDP haben sich längst mit CDU und CSU geeinigt, vor einer Woche hat schon der Bundestag mit großer Mehrheit zugestimmt. Dann muss der Gesetzestext nur noch veröffentlicht werden, und schon können die Uniformträger an der Schuldenbremse vorbei 100 Milliarden Euro für neue Kampfjets, Hubschrauber, Schiffe, Panzer, Munition, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte und so weiter ausgeben. Die Debatte über das Für und Wider, das Wann und Wie des Waffengroßeinkaufs ist im Eiltempo geführt worden; angesichts von Putins Angriffskrieg hat die Politik bewiesen, dass sie auch Galopp kann.
Trotzdem ist es angebracht, Candy Crush und all die anderen vermeintlich wichtigen Dinge heute für einige Minuten beiseitezulassen und sich zu vergegenwärtigen, welchen gewaltigen Schritt unser Land da gerade unternimmt. Wenn die Planer im Verteidigungsministerium den Geldberg halbwegs sinnvoll ausgeben, wird die Bundeswehr zur stärksten Armee der EU aufsteigen. Abgesehen von Frankreichs Atombomben wird kein anderer Staat der Union mit einer so üppig ausgestatteten Truppe aufwarten können. Das mag einerseits selbstverständlich erscheinen, wenn man bedenkt, dass Deutschland das wirtschaftlich potenteste und politisch einflussreichste Land Europas ist. Andererseits ist es alles andere als selbstverständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass die Bundeswehr in den Merkel-Jahren zu einer eher belächelten als gefürchteten Pannen-Armee herabgesunken ist.
Das wird sich nun ändern, die Bundeswehr gewinnt massiv an Feuerkraft. Das kann man begrüßen, weil es durchaus möglich ist, dass der Kreml weiter zündelt und dass in Washington nach Joe Biden wieder ein Typ wie Trump ans Ruder kommt, dem Europas Sicherheit schnurzegal ist. "Wir werden akut bedroht und angegriffen", sagt General Martin Schelleis in einem viel beachteten Interview. Man kann die massive Aufrüstung der Bundeswehr aber auch ein bisschen fürchten.
Mit Waffen und Armeen ist es immer dasselbe: Wenn sie da sind, werden sie eingesetzt. Sind sie stark, werden Generäle und Politiker Gründe und Möglichkeiten suchen, sie stärker einzusetzen. Erste Vorboten davon waren diese Woche zu beobachten, als der Kanzler bei seinem Besuch in Litauen ankündigte, zur Unterstützung der baltischen Staaten eine Kampfbrigade an die russische Grenze zu schicken. Weitere Pläne werden folgen, und sie können durchaus gut begründet sein. In Nordafrika und im Nahen Osten brodeln gefährliche Konflikte, Terroristen und die Klimakrise verschärfen sie. Und was geschieht eigentlich, falls Putin den Rest des Donbass und der Schwarzmeerküste erobert, um dann zu erklären: So, jetzt könnt ihr einen Waffenstillstand haben? Was, wenn die Ukrainer dann eine internationale Friedenstruppe zur Bedingung machen und alle Blicke sich auf das große Deutschland und dessen erstarkende Armee richten?
Nicht ausgeschlossen, dass deutsche Soldaten bald an vielen weiteren Konfliktherden gefordert sein werden. Wie auch immer man dazu steht, vor so einer Entwicklung sollte niemand die Augen verschließen. Deshalb schauen wir heute Vormittag lieber genauer hin, wenn im Bundesrat die Hände gehoben werden. Denn manchmal haben auch erwartbare Ereignisse aufsehenerregende Folgen.
Weitere Termine
Der Bundesrat will heute noch weitere wichtige Gesetzesvorhaben des Bundestags durchwinken. Dazu zählen der Bundeshaushalt 2022, die Rentenerhöhung zum 1. Juli, der neue gesetzliche Mindestlohn von 12 Euro, der Pflegebonus, weitere Corona-Steuerhilfen und das Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen. Außerdem soll die Frist zur Abgabe der Steuererklärung bis Ende Oktober verlängert werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz bricht zu seiner ersten Balkan-Reise auf, Stationen sind Belgrad, Pristina und Thessaloniki. Im Mittelpunkt steht die EU-Erweiterung, aber auch hier wird es um die verschlechterte Sicherheitslage gehen. Unsere Reporterin Miriam Hollstein ist dabei.
In Berlin ermittelt die Polizei die Hintergründe der Amokfahrt am Kurfürstendamm. Der 29-jährige Täter wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Unser Reporter Jannik Läkamp hat am Tatort recherchiert.
In Frankreich herrscht vor der ersten Runde der Parlamentswahl am Sonntag Anspannung. Der kürzlich wiedergewählte Präsident Emmanuel Macron könnte seine Parlamentsmehrheit verlieren. Dann wäre er wohl gezwungen, große Zugeständnisse an das Bündnis aus Linkspartei, Sozialisten, Grünen und Kommunisten zu machen. Ein eventuell notwendiger zweiter Wahlgang fände eine Woche später statt.
Im Prozess um die Anschläge von 2015 in Paris halten die Staatsanwälte ihre Plädoyers. Dabei wollen sie bekannt geben, welche Strafen sie für die 20 Angeklagten fordern. Terroristen ermordeten damals 130 Menschen, der "Islamische Staat" soll sie geschickt haben.
In Washington hat die erste öffentliche Anhörung des Untersuchungsausschusses zum Angriff auf das Kapitol stattgefunden. Die Sitzung nach monatelanger Aufklärungsarbeit wurde zur besten Sendezeit im Fernsehen übertragen. Trotzdem halten immer weniger Amerikaner den damaligen Brandstifter Donald Trump für schuldig, berichtet unser US-Korrespondent Bastian Brauns.
Klimaminister Robert Habeck will eine bundesweite Marketingkampagne zum Energiesparen vorstellen. Sie soll nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommen, sondern die Bürger locker-flockig zu kleinen Schritten animieren. Im Bad einen neuen Duschkopf einbauen und so. Ob das reicht?
Was lesen?
Droht im Herbst eine harte Corona-Welle? Mit welchen Szenarien Virologen wie Christian Drosten rechnen, erfahren Sie hier.
Wladimir Putin vergleicht sich mit Zar Peter dem Großen: Wie dieser wolle er "russische Erde" zurückholen. Ist es überhaupt sinnvoll, dass Kanzler Scholz noch regelmäßig mit dem Kriegstreiber spricht? Mein Kollege Patrick Diekmann erklärt die Hintergründe.
Sollen die Laufzeiten der letzten drei deutschen Atomkraftwerke doch verlängert werden? Finanzminister Christian Lindner pirscht sich an einen politischen Sprengsatz heran, berichtet die "Süddeutsche Zeitung".
Was begeistert mich?
Arbeiten kann man ja sogar an wunderschönen Orten. An so einem Ort durfte ich mit lieben Menschen einige außergewöhnliche Stunden verbringen. Nun weiß ich wieder: Sevilla ist unbedingt eine Reise wert!
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag. Im Wochenend-Podcast diskutieren Lisa Fritsch, Sven Böll und Peter Schink morgen über Angela Merkels erstes Interview nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft. Von mir lesen Sie ab Montag wieder mehr Tagesanbrüche.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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