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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz' Telefonate mit Putin Der Lügner am anderen Ende der Leitung
Das Vertrauen zwischen dem Westen und Russland hat Wladimir Putin zertrümmert. Doch trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine telefoniert Olaf Scholz weiterhin mit ihm. Ist das sinnvoll?
Wladimir Putin hat über Jahre die Ukraine destabilisiert, seit über drei Monaten führt Russland einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Dabei versicherte die russische Führung lange, dass Moskau gar kein Interesse daran habe, die Ukraine anzugreifen. Selbst als schon 120.000 Soldaten an der Grenze aufmarschiert waren, hielt sie an dieser Aussage fest.
Nun wissen wir: Putin hat westlichen Regierungschefs direkt ins Gesicht gelogen.
Das bringt westliche Länder und die Ukraine jetzt in ein Dilemma: Friedensgespräche können nur mit Putin geführt werden. Aber wie soll man den Zusicherungen eines Präsidenten trauen, der bewiesen hat, dass seine Worte nicht viel wert sind? Das ist und bleibt kompliziert.
Gespräche mit Putin machen aktuell keinen Sinn
"Mit Putin kann es keine Basis des Vertrauens mehr geben. Der russische Präsident hat gegen sämtliche Zusagen, Vereinbarungen, internationale Abkommen, die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verstoßen", sagte Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und Berater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, zu t-online. "Er hat nicht davor zurückgescheut, durch seinen brutalen Angriff die Lebensmittelversorgung Afrikas und anderer Kontinente massiv zu stören, Hungersnöte zu verursachen." Putin habe jegliches Vertrauen verspielt und verstehe nur die Sprache der Härte. "Das ist auch seine Sprache."
Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonieren noch in unregelmäßigen Abständen mit Putin. Genaue Details aus diesen Gesprächen werden nicht veröffentlicht. Es sickerte lediglich durch, dass die Staatschefs ihre unterschiedlichen Positionen ausgetauscht haben. Scholz und Macron fordern eine sofortige Waffenruhe. Putin gibt vor, in der Ukraine angeblich Nazis bekämpfen zu wollen.
Bislang hat der Dialog wenig gebracht, denn an den Positionen hat sich seit Kriegsbeginn wenig verändert. Moskau könnte sofort die Kampfhandlungen und damit das Blutvergießen in der Ukraine beenden, aber Putin tut das nicht, weil seine Minimalziele noch nicht erreicht wurden. Er will aktuell keinen Frieden, deshalb sind die Gespräche ergebnislos.
"Putin hält die westeuropäischen Gesellschaften für dekadent"
Grundsätzlich ist es immer besser, sich mit Worten als mit Waffen auseinanderzusetzen. Von daher spricht nichts Prinzipielles gegen Telefonate auch mit einem Kriegsverbrecher", erklärt Heusgen. Es käme laut dem Diplomaten auf den Inhalt der Kommunikation an. "Putin hält die westeuropäischen Gesellschaften für dekadent. Er glaubt, dass das von ihm regierte totalitäre Russland die bessere Durchhaltefähigkeit besitzt und wir unter Inflationsdruck, unter hohen Sprit- und Lebensmittelpreisen weich werden und die Unterstützung für die Ukraine nachlässt."
Der Nachteil der Telefonate mit Putin ist eindeutig: Der russische Präsident nutzt sie für seine Propaganda. Er will vor allem der russischen Bevölkerung suggerieren, dass er auch nach einer friedlichen Lösung im Kampf gegen das "Brudervolk" sucht. Dabei bedient er das Narrativ, dass die vom Westen angeleitete Ukraine Verhandlungen blockiert. Das stimmt nicht, denn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat wiederholt direkte Gespräche mit Putin vorgeschlagen, die der Kreml bisher ablehnt.
Es drängt sich die Frage auf: Warum dann überhaupt reden? Scholz und Macron möchten offensichtlich Gesprächskanäle offen halten, die zu einem späteren Zeitpunkt genutzt werden können. In Berlin und Paris geht man nicht davon aus, dass die Ukraine militärisch so hochgerüstet werden kann, dass sie die russische Armee komplett besiegt.
Zusammen mit den Nato-Partnern haben Deutschland und Frankreich die Strategie, dass der ukrainische Widerstand gestärkt wird, bis Putin irgendwann den Angriff stoppt. Für einen schnellstmöglichen Frieden braucht es dann einen Dialog mit der russischen Führung.
Lügen über Lügen: Was kann der Westen Putin noch glauben?
Dieser Fall könnte mit der Eroberung des Donbass eintreten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte dieses Kriegsziel kürzlich zur Priorität. Doch ob das wirklich stimmt, kann momentan niemand sagen. Schließlich hat Lawrow wiederholt die Lügen des Kremls verbreitet:
- Im Januar sagte er mehrfach, dass Russland die Ukraine nicht angreifen werde. Einen Monat später rollten russische Panzer über die Grenze.
- Im März bezeichnete Lawrow nach den Verhandlungen in Istanbul die ukrainische Führung als Nazis und warf den USA vor, Labore für Biowaffen in der Ukraine zu betreiben. Für Letzteres präsentierte Russland keine Beweise.
- Bei einem erneuten Besuch in der Türkei im Juni gab der russische Außenminister dem Westen und der Ukraine die Schuld an der drohenden globalen Hungersnot. Außerdem sei die Ukraine für die weltweite Getreideversorgung nicht so wichtig. Sein türkischer Amtskollege Mevlüt Çavuşoğlu widersprach ihm öffentlich.
Wegen dieser Lügen ist die Strategie von Scholz und Macron, verbal eher gemäßigt aufzutreten und weiterhin mit der russischen Führung zu reden, im Nato-Bündnis umstritten.
Kritik an Scholz und Hitler-Vergleich
Vor allem in Osteuropa und im Baltikum sehen die politischen Führungen momentan wenig Sinn in einem Dialog mit dem Kreml. Der polnische Präsident Andrzej Duda kritisierte die Telefonate von Scholz und Macron mit Putin scharf. "Ich bin erstaunt über diese ganzen Gespräche, die geführt werden mit Putin im Moment von Kanzler Scholz und von Präsident Macron", sagte Duda "Bild".
"Diese Gespräche bringen nichts. Sie bewirken nur eine Legitimierung eines Menschen, der verantwortlich ist für Verbrechen, die von der russischen Armee in der Ukraine begangen werden", betonte der polnische Präsident.
Um seine Kritik zu untermauern, bemühte Duda einen historischen Vergleich: "Hat jemand so mit Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg gesprochen? Hat jemand gesagt, dass Adolf Hitler sein Gesicht wahren können muss?" Solche Stimmen kenne er nicht. "Alle wussten: Man muss ihn besiegen."
Kritik übte Duda auch an deutschen Unternehmen, denen er vorwarf, ihre Geschäftsinteressen in Russland ungeachtet weiterzuverfolgen. "Mein Eindruck ist – entschuldigen Sie bitte, vielleicht werden sich manche in Deutschland beleidigt fühlen – dass diesem Teil der deutschen Wirtschaft es völlig egal ist, was in der Ukraine ist, was mit Polen ist." Die Haltung der von ihm kritisierten Unternehmen beschrieb Duda so: "Wir wollen Geschäfte machen, Geld verdienen. Wir wollen unsere Produkte verkaufen, wir wollen billig Gas kaufen und Erdöl."
Der Ärger in Polen ist verständlich und exemplarisch für die Sorgen in Osteuropa. Die Bedrohung ist allein wegen der geografischen Nähe größer. Warnungen aus der Region vor einer russischen Aggression wurden auch von Deutschland jahrelang nicht ernst genommen. Wegen der hohen Anzahl an Geflüchteten ist der Krieg in Polen zudem viel präsenter.
Suche nach der richtigen Putin-Strategie
Polens Beispiel zeigt, dass es im westlichen Bündnis unterschiedliche Positionen zur Frage gibt, ob man mit Putin überhaupt Gespräche führen sollte. Die Haltung hängt jeweils mit der Bedrohungslage für das eigene Land zusammen. Das muss aber nicht unbedingt kontraproduktiv sein, solange sich die Gemeinschaft in der Nato und in der Europäischen Union am Ende auf einen gemeinsamen Kurs einigen kann.
Die USA treten mit ihren finanziellen und militärischen Möglichkeiten als Hauptunterstützer der Ukraine auf. Die osteuropäischen Staaten versuchen mit Druck schärfere Sanktionen gegen das russische Regime zu erreichen. Deutschland und Frankreich äußern sich vergleichsweise gemäßigt, um Putin eine Verhandlungstür offenzuhalten.
Diese politische Arbeitsteilung kann funktionieren, wenn sie am Ende eine Lösung bringt, die die Ukraine akzeptiert. Klar ist das keinesfalls, weil es unterschiedliche Ansichten auch über die Kriegsziele gibt. Putin müsse klargemacht werden, dass er das Durchhaltevermögen des Westens ähnlich unterschätzt, "so wie er sich in der Kampfkraft und dem Überlebenswillen der Ukrainer getäuscht hat", sagt Christoph Heusgen zu t-online. "Ihm muss klar werden, dass die transatlantische Gemeinschaft zusammenhält, dass die Sanktionen aufrechterhalten, ja weiter verschärft werden und die Unterstützung der Ukraine gerade erst anläuft."
Das ist gegenwärtig die Hoffnung im Westen. Auch nach über drei Monaten des blutigen Angriffskrieges ist die Lage aber weiterhin unberechenbar, denn Putin hat in den vergangenen Monaten vor allem eines bewiesen: dass man ihm nicht trauen kann. Diese Erkenntnis kam keinesfalls erst durch den Ukraine-Krieg. Egal, wer mit ihm spricht, er darf davor nicht die Augen verschließen.
- Süddeutsche Zeitung: Wie der Weizen aus der Ukraine kommen könnte
- Die Zeit: Der Torwächter des Bosporus
- Statement von Christoph Heusgen
- Mit Material der Nachrichtenagentur afp
- Eigene Recherche