Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das Jahrhundert-Experiment
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
ja, ich habe es schon getan – und mir am Wochenende das 9-Euro-Ticket heruntergeladen. Bei der Deutschen Bahn und vielen Verkehrsverbünden startet der Verkauf heute. Offiziell los geht es dann am 1. Juni: Für 30 Cent pro Tag kann jeder in ganz Deutschland den Nahverkehr nutzen. Das wäre auch ohne die derzeit hohe Inflation ein sensationelles Angebot, das ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
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Nein, ich fordere Sie jetzt nicht auf, im Schnäppchen-Sommer nach Sylt zu fahren oder an den Königssee. Ich möchte dort kein Besuchsverbot bekommen. Aber Sie könnten doch mal richtig gemütlich Deutschland durchqueren.
Wie wäre es mit einer Tour von Flensburg nach Oberstdorf per Regionalexpress? Um 5.15 Uhr gehts los – und nach achtmal Umsteigen sind Sie sechzehneinhalb Stunden später in den Alpen. Zugegeben, das ist ein langer Tag. Aber mit dem ICE sind Sie auch nur rund fünf Stunden früher da.
In unter zwölf Stunden schaffen Sie es sogar von West nach Ost. Es reicht, wenn Sie um 7.22 Uhr in Aachen den Regionalexpress nehmen, um nach vier Umstiegen pünktlich zum Abendessen in Frankfurt/Oder zu sein. In Bad Oeynhausen (Kurstadt!), Braunschweig (Einkaufszentrum im Schloss!) und Magdeburg (besser als sein Ruf!) haben Sie jeweils mehr als eine halbe Stunde Aufenthalt. Da ist auf jeden Fall etwas Sightseeing drin.
Wobei diese Reiserouten natürlich ohne Gewähr sind. Wie wir alle wissen, kommt es bei der Bahn in äußerst seltenen Einzelfällen hin und wieder zu ganz leichten Verzögerungen im Betriebsablauf. Aber, kein Scherz: Züge des Nahverkehrs sind notorisch pünktlicher als ICEs und ICs.
Es gibt also ab Juni ungeahnte Möglichkeiten für kleine und große Weltentdecker. Kein Wunder, dass der US-Fernsehsender CNN Deutschland bereits zum "bezahlbarsten Reiseziel" dieses Sommers ausgerufen hat.
Heißt es bei Rabattaktionen sonst "Alles muss raus", gilt dann bei Bussen und Bahnen: "Alles muss rein." Willkommen beim größten Verkehrsexperiment seit Jahrzehnten, vielleicht sogar des Jahrhunderts (hier finden Sie alle wichtigen Informationen zum 9-Euro-Ticket).
Bei aller Freude über den quasi-kostenlosen Nahverkehr geht es natürlich auch darum, aus der in einer Nachtsitzung der Koalition geborenen Aktion sinnvolle Schlüsse zu ziehen.
Zur Beurteilung des Erfolgs stellen sich vor allem drei Fragen:
- Wie viele Menschen kaufen das Ticket?
- Steigen tatsächlich auch Autofahrer um?
- Was passiert eigentlich ab September?
In einer Umfrage des ARD-Deutschlandtrends gaben vor Kurzem 44 Prozent der Befragten an, das 9-Euro-Ticket auf jeden Fall oder wahrscheinlich zu nutzen. Nur rund ein Viertel erwies sich als überzeugungsresistent. In anderen Erhebungen war das Ergebnis ähnlich.
Die Verkehrsunternehmen kalkulieren entsprechend damit, dass rund vier von zehn Bürgern zugreifen: Sie gehen von 30 Millionen verkauften Tickets pro Monat aus.
Sollten es tatsächlich so viele werden, wäre die Aktion bereits ein Erfolg. Und das Ergebnis würde dafür sprechen, dass es beim Nahverkehr eben nicht anders ist als bei sonstigen Produkten: Eine Preissenkung steigert die Nachfrage.
Auch wenn die Preise für Busse und Bahnen schon jetzt bei weitem nicht kostendeckend sind, schrecken sie eben viele Menschen ab. So werden für ein Monatsticket in einigen Regionen 100 Euro oder sogar mehr fällig. Klar, oft existieren günstigere Jobtickets. Und berücksichtigt man alle Ausgaben, ist ein Auto auch ziemlich teuer. Aber die meisten Leute vergleichen eben den Ticketpreis mit den Benzinkosten.
Und was in Debatten des Berliner Politikbetriebs gern vergessen wird: Auf dem Land hat der Nahverkehr oft eher potemkinsche Ausmaße: Es existieren zwar Haltestellen, aber es kommen keine Busse.
Ein weiteres Kriterium für den Erfolg des 9-Euro-Tickets ist deshalb auch, ob nicht nur in den Städten mehr Menschen ihr Auto stehen lassen, sondern auch auf dem Land. Natürlich wird das Experiment durch den parallel existierenden Tankrabatt verzerrt. Aber trotz allem ist der Nahverkehr im Vergleich zum Auto so günstig wie nie. Gut möglich also, dass selbst dort, wo das Angebot bescheiden ist (weil nur alle zwei Stunden oder noch seltener ein Bus kommt), die Nachfrage steigt.
Eine nicht ganz unplausible Bilanz des dreimonatigen Experiments könnte lauten: In den Städten waren die Bahnen voller denn je, und in ländlichen Regionen saßen überhaupt mal Menschen im Bus.
In diesem Fall wäre das 9-Euro-Ticket eine Erfolgsgeschichte. Nur: Was passiert dann? Sagen Politiker "Och schön, dass wir es mal ausprobiert haben, aber nun kommen wieder schlechte Zeiten"?
Als wir Olaf Scholz in unserem t-online-Interview kürzlich fragten, ob ab September tatsächlich wieder die Mai-Welt gelte, antwortete er vielsagend: "Die Maßnahmen sind befristet. Ansonsten haben wir ja bewiesen, dass wir uns die Lage stets genau anschauen." Vom Politikerdeutsch ins Bürgerdeutsch übersetzt heißt das: "Wenn das 9-Euro-Ticket erfolgreich ist, überlegen wir uns, wie der Nahverkehr dauerhaft attraktiver wird."
Das heißt natürlich nicht, dass Busse und Bahnen künftig spottbillig sein werden. Aber es würde zumindest bedeuten, dass die Politik endlich Ernst macht mit einem Versprechen, das sich seit Jahrzehnten in Sonntagsreden wiederfindet, dessen Umsetzung an Werktagen aber hakt: dem massiven Ausbau des Nahverkehrs in allen Teilen der Republik.
Dazu gehören auch deutlich attraktivere Preise. Damit sind nicht nur günstigere Tarife gemeint, sondern auch einfachere. Ist das noch Zone 5 oder schon 6? Darf ich um 16 Uhr das Fahrrad mitnehmen oder erst wieder um 18 Uhr? Sind drei Kinder inklusive oder nur zwei? Diese Fragen sollte sich künftig niemand mehr stellen müssen.
Natürlich ist es bis dahin noch ein sehr langer Weg – schöne Grüße vom deutschen Planungsrecht und den grotesk anmutenden Fürstentümern namens "Nahverkehrsverbünde". Aber ein erfolgreicher 9-Euro-Sommer eröffnet die größte Chance seit einer gefühlten Ewigkeit, dass endlich genug Druck auf der Pipeline ist. Alle Beteiligten wären endlich gefordert, das ausgegebene Ziel, die Fahrgastzahlen in Bussen und Bahnen bis 2030 zu verdoppeln, mit realistischen, konkreten Maßnahmen zu hinterlegen.
Und den Nahverkehr endlich zu einem Erfolg für alle Bürger zu machen.
Termine des Tages
Gestern Niger, heute Senegal – und dann Südafrika: Olaf Scholz sucht auf seiner Reise in mehrere afrikanische Länder angesichts der komplizierten geopolitischen Lage Verbündete gegen autoritäre Staaten wie China und Russland. Auch deshalb ist es als Signal zu deuten, dass der Kanzler – im Gegensatz zu seiner China-affinen Vorgängerin – in seiner bisherigen Amtszeit noch nicht in Peking war.
Am Donnerstag reist Scholz nach Davos. Dort beginnt heute das Weltwirtschaftsforum. Bei dem Treffen, das normalerweise im Januarschnee stattfindet, diskutieren Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft über aktuelle Themen. Entsprechend geht es in diesem Jahr darum, wie rasch sich die globale Ökonomie von der Corona-Pandemie erholt und welche Folgen der Ukraine-Krieg hat. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist heute Vormittag per Video für eine Rede zugeschaltet. Mein Kollege Florian Schmidt ist vor Ort und berichtet für Sie aus den Schweizer Bergen. Hier beantwortet er die wichtigsten Fragen zum Event.
Probleme gibt es auch in den vermeintlich besten Familien zuhauf: Der ehemalige spanische König Juan Carlos trifft zum Abschluss seines kurzen Besuchs in der Heimat König Felipe VI. Höflich formuliert, wahrt sein Sohn Distanz zu seinem umstrittenen Vater.
Schafft der HSV den Aufstieg in die erste Liga? Das entscheidet sich im zweiten Relegationsspiel gegen Hertha BSC ab 20.30 Uhr in Hamburg. Zumindest die Ausgangslage ist gut: Das Hinspiel in Berlin gewann der HSV mit 1:0.
Was lesen?
Daniel Mützel ist gerade erst aus der Ukraine zurückgekehrt. Dort hat er auch den Kommandeur des tschetschenischen Scheich-Mansur-Bataillons getroffen, auf den 500.000 Dollar Kopfgeld ausgesetzt sind. Die Miliz kämpft an der Seite der Ukraine gegen die russischen Truppen.
"Das Video aus Butscha war nicht gefakt – es zeigt echte Tote." Das sagt der digitale Forensiker Dirk Labbude, der hilft, Mordfälle und andere Straftaten aufzuklären. Im Gespräch mit Miriam Hollstein schildert der Professor seine wichtigsten Fälle.
RB Leipzig hat den DFB-Pokal gewonnen, wird aber nicht gerade von Glückwünschen überhäuft, wie Lars Wienand berichtet. David Digili überrascht das nicht. Seine Meinung: selbst schuld.
Am Sonntagabend lief der letzte "Tatort", in dem Meret Becker die Kommissarin Nina Rubin spielte. Steven Sowa hat die 53-Jährige erzählt, warum beim Abschied nicht alles so lief, wie sie es sich ursprünglich gewünscht hatte.
Apropos Kriminalität: Ihre Liebe war groß, aber mörderisch. 1934 starb dieses berühmte Gangsterpaar im Kugelhagel. Wer die beiden waren, lesen Sie hier.
Was mich amüsiert
Falls Sie gedacht haben sollten: "Jetzt, da Corona gefühlt erst einmal vorbei ist, kehrt Ruhe an der Virusfront ein" ... leider nein.
Bleiben Sie bitte gesund!
Morgen schreibt an dieser Stelle mein Kollege David Schafbuch für Sie.
Ihr
Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell
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Mit Material von dpa.
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