Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Digitaler Forensiker "Das Video aus Butscha war nicht gefakt – es zeigt echte Tote"
Der Hochschulprofessor Dirk Labudde ist eine Art Sherlock Holmes des Digitalen: Er wertet digitale Spuren aus. In einem neuen Buch schildert er seine spannendsten Fälle.
Kann die Aussage des Sängers Gil Ofarim stimmen, dass er wegen seiner Davidstern-Halskette antisemitisch beleidigt wurde? Ist das Video aus dem ukrainischen Butscha, auf dem ermordete Zivilisten zu sehen sind, möglicherweise ein Fake?
Wenn bei Straftaten Videos, Handyauswertungen oder sonstige digitale Spuren eine Rolle spielen, ist der Bioinformatiker Dirk Labudde immer häufiger der Mann, an den sich die Behörden wenden. Mit seinem Team rekonstruiert er auch Tatorte oder Bewegungsabläufe, um zu helfen, dass die Täter überführt werden. In seinem neuen Buch "Digitale Forensik", das er mit der Journalistin Heike Vowinkel verfasst hat, schildert er seine interessantesten Fälle – und warum er einmal grandios scheiterte.
t-online: Schauen Sie gern "Tatort"?
Dirk Labudde: Nur ausgewählte, vor allem den Münsteraner "Tatort" mag ich. Aber tatsächlich habe ich früher sehr gerne die CSI-Krimi-Serie geguckt, weil mich interessiert hat, welche Techniken dort verwendet werden.
Wie lautet das Urteil des Experten?
Na ja, man muss schon öfter mal lächeln. Vor allem wegen des Umgangs mit Zeit angesichts des wenigen Personals. Die Methoden sind realistisch, aber ich kenne keinen, der es schaffen würde, ein Massenspektrometer zu bedienen und gleichzeitig Hardwaredevices auszuwerten.
Sie sind selbst seit 2014 als eine Art besonderer Ermittler unterwegs. Sie arbeiten als digitaler Forensiker. Wie sind Sie als Bioinformatiker und Hochschulprofessor denn dazu gekommen?
Das war purer Zufall. Die Polizeidirektion Chemnitz hat sich an den Rektor meiner Universität Mittweida gewandt: Sie hätten so viel mit der Auswertung von digitalen Geräten im Zusammenhang mit Autodiebstählen zu tun – ob wir sie da einmal mit einer Weiterbildung unterstützen könnten. Ich habe mich bereit erklärt. Daraus hat sich der Studiengang digitale Forensik entwickelt.
Dirk Labudde, geboren 1966, hat Theoretische Physik und Medizin studiert und ist seit 2009 Professor für Bioinformatik an der Hochschule Mittweida. 2014 hat er dort den Studiengang Digitale Forensik gegründet.
Was muss man unter digitaler Forensik verstehen?
Bei der digitalen Forensik werden digitale Geräte wie Smartphone, Fitnessuhren oder Computer auf Spuren ausgewertet, die helfen können, Straftaten aufzuklären.
Das ist eine sehr enge Definition. Sie machen ja viel mehr.
Genau. Eigentlich geht es darum, die analoge und die digitale Welt zusammenzuführen. Man kann reale Asservate wie Schuhe oder Tatwaffen digitalisieren und analog gefundene Spuren integrieren.
Ein konkretes Beispiel?
2016 kam es in Leipzig im Rockermilieu zu einer Schießerei, bei der ein Mann getötet wurde. Wir haben ein Video von der Tat analysiert. Dabei haben wir eine Methode aus der Medizin angewandt, die zum Beispiel bei der CT-Analyse mehrere Schichten übereinanderlegt. Wir haben zusätzliches Bildmaterial mit eindeutigen Merkmalen der Beteiligten auf das Video gespielt, bis man tatsächlich die Teilnehmer der Schießerei identifizieren konnte. Auch den Täter.
In einem anderen Fall haben Sie einmal eine ganze Brücke rekonstruiert.
Ja, das war die Teufelstalbrücke bei Jena. 1991 war dort ein zehnjähriges Mädchen entführt und ein paar Tage später tot unter der Brücke aufgefunden worden. 2016 wurde in Thüringen eine "Sonderkommission Altfälle" gegründet, die sich auch mit diesem Fall noch einmal beschäftigte und ihn mit ähnlichen Straftaten verglich. Schnell geriet ein Verdächtiger ins Visier. Er gestand, das Mädchen mitgenommen zu haben, behauptete aber, es an der Brücke ausgesetzt zu haben. Diese war aber in der Zwischenzeit abgerissen und neu aufgebaut worden.
Wir haben uns dann unter viel Mühen die alten Baupläne besorgt und die alte Brücke vollständig digital rekonstruiert. Mit einer Simulation von Fall, Geschwindigkeit und Auffindeort des Körpers des Mädchens konnten wir nachweisen, dass es nicht unabsichtlich gestürzt sein konnte.
Aber es hätte theoretisch auch selbst gesprungen sein können.
Das ist richtig. Aber da half ein toxikologisches Gutachten aus den früheren Ermittlungen, dem zufolge es starke Beruhigungsmittel erhalten hatte und niemals physisch in der Lage gewesen wäre, alleine zu springen. Es musste geschubst worden sein. Der Täter wurde dann auch verurteilt.
Auch im Fall des Sängers Gil Ofarim, der angab, in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden zu sein, sind Sie in die Ermittlungen involviert.
Dazu darf ich nichts sagen. Mein Stand ist, dass der Staatsanwalt die Anklageschrift jetzt an das zuständige Gericht übermittelt hat.
Allgemeiner gefragt: Was ist in so einem Verfahren Ihre Rolle?
Wir hatten den Auftrag, das Videomaterial unter bestimmten Fragestellungen zu analysieren. Zum Beispiel: Was konnte man in der Hotellobby unter diesen Lichtverhältnissen erkennen und was nicht.
Was sind die Grenzen der digitalen Forensik?
Ich sehe da keine. Es gibt so viele Technologien aus anderen Gebieten, die man auch für die Forensik nutzen könnte. Aus der Spieleindustrie oder aus der Medizin. Oder die neueste Fitnessuhr, der smarte Kühlschrank. All das kann man prüfen, was man daraus für die digitale Forensik nutzen kann.
Wenn künftig ein Mord in einer Wohnung stattfindet, kann man also zum Beispiel Alexa auswerten und prüfen, ob sie Hinweise auf den Täter geben kann?
Ja, das wird teilweise auch schon gemacht. Je mehr Spuren man hat, umso eindeutiger.
Ein persönliches Desaster haben Sie beim sogenannten Goldmünzenraub erlebt. 2019 standen in Berlin drei Tatverdächtige vor Gericht, die angeklagt waren, aus dem Bode-Museum eine 100 Kilogramm schwere Goldmünze gestohlen zu haben. Sie traten als Gutachter auf, wurden von der Verteidigung zerlegt. Die Angeklagten wurden verurteilt, aber Ihr Gutachten spielte dabei keine Rolle. Was lief schief?
Eigentlich ist nichts schiefgelaufen. Aber wir haben die politische Tragweite des Falls unterschätzt. Ich stand sieben Topanwälten auf der Gegenseite gegenüber. Mein Team und ich hatten eine neue Methode ausprobiert, bei der es darum ging, durch eine Simulation des Bewegungsprofils wie in Computerspielen zu zeigen, dass die drei vermummten Personen auf einem Überwachungsvideo des Museums mit ziemlicher Sicherheit die drei Tatverdächtigen waren. Ich habe das in der Verhandlung viel zu wissenschaftlich vorgetragen. Und konnte nicht auf alle Fragen antworten: etwa auf die, ob nicht rein theoretisch irgendein anderer Mensch auf der Welt ein fast identisches Bewegungsprofil haben könnte.
Aber wenn das so ist, kann man ja auch nicht eindeutig den Täter identifizieren.
Nein, man kann nur zuordnen. Aber es ist wie mit den Fingerabdrücken. Als die Daktyloskopie erstmals angewandt wurde, wusste man auch noch nicht, ob ein Fingerabdruck wirklich universell einzigartig ist oder ob theoretisch irgendwo auf der Welt ein Mensch mit identischem Fingerabdruck ist. Was wir wussten: Die Skelette von den Verdächtigen auf dem Video und den Angeklagten waren gleich.
Haben Sie Zweifel, dass es die Täter waren?
Nein, nicht den geringsten. Jetzt könnten wir auch belegen, dass die Möglichkeit, dass es jemand anderes gewesen sein könnte, extrem unwahrscheinlich ist.
Sie waren auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg als Experte tätig.
Ja, die Deutsche Welle hat uns um eine Überprüfung gebeten, ob das Video mit den getöteten Zivilisten aus Butscha inszeniert sein könnte. Weil behauptet wurde, einer der Toten habe sich bewegt. Wir haben eine klassische Videoanalyse gemacht. Ergebnis: Die scheinbare Bewegung des Leichnams war eine optische Illusion: Sie kam durch die Krümmung des Außenspiegels des fahrenden Fahrzeugs, aus dem gefilmt wurde, und durch die Tropfen auf der Windschutzscheibe zustande. Das Video war nicht gefakt – es zeigt echte Tote.
Sie beschäftigten sich auch viel mit Deep Fake, also absichtlich manipulierten Videos. Ihr Fazit: Der Laie kann das gar nicht mehr unterscheiden.
Ja, weil bei Deep Fake die Bearbeitungssysteme so gut geworden sind, dass man das nicht mehr mit dem normalen Auge unterscheiden kann. Da hilft nur der Einsatz von künstlicher Intelligenz, die diese Videos herausfiltert. Man muss Technik mit Technik schlagen.
In Ihrem Buch schildern Sie noch andere Einsatzmöglichkeiten der digitalen Forensik.
Ja, wir konnten zum Beispiel dank des Fundes eines 9000 Jahre alten Schädels im österreichischen Wöllersdorf mittels 3D-Modell das Gesicht des ältesten Toten Österreichs rekonstruieren, eines Mannes aus der Steinzeit. Für einen Dokumentarfilm haben wir außerdem den Tod eines amerikanischen Soldaten rekonstruiert, der im thüringischen Oberdorla 1945 kurz vor Ende des Krieges aus dem Hinterhalt erschossen wurde. Wir haben dann einigen Bewohnern mit einer VR-Brille in einer Simulation gezeigt, wie das damals abgelaufen sein muss. Es war sehr bewegend. Damit kann man Geschichte anders begreiflich machen.
Trotzdem stoßen Sie bei den klassischen Ermittlungsbehörden mit Ihren Methoden immer wieder auf Widerstand.
Ja, manchmal bekommt man ein "Das machen wir schon immer so" als Reaktion zu hören. Das ist ein harter Satz. Ich glaube, solche neuartigen Methoden müssen sanft eingeführt werden. Man muss zeigen, was der Mehrwert ist. Ich habe aber auch erlebt, dass Ermittler Feuer und Flamme für unsere Arbeit waren.
Sollte es mal einen "Tatort" zum Thema "Digitale Forensik" geben?
Gute Idee! Es gibt ja schon Fälle, die komplett digital aufgeklärt wurden, etwa durch die Auswertung von Chat- und Browserverläufen. Es würde den Leuten zeigen, was mit solchen Methoden alles möglich ist. Ich stünde als Berater zur Verfügung, wenn es zeitlich passt. (lacht)
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Labudde.
- Zoom-Interview mit Dirk Labudde