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Russland-Ukraine-Krise: Europa steht vor einem großen Krieg


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Die Zeichen stehen auf Sturm

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.02.2022Lesedauer: 6 Min.
Transport von russischen Panzern: Der Aufmarsch geht weiter.Vergrößern des Bildes
Transport von russischen Panzern: Der Aufmarsch geht weiter. (Quelle: Russian Defense Ministry Press Service/AP//dpa)

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Die Zeichen stehen auf Sturm. Es ist leider keine gewagte Prognose mehr, dass Europa kurz vor einem großen Krieg steht. Vor weniger als 48 Stunden hat Russland die Region der Ukraine, die sich teilweise in der Hand prorussischer Separatisten befindet, als selbstständige Republiken anerkannt. Noch in derselben Nacht kletterten Wladimir Putins Soldaten in ihre Fahrzeuge, um sich auf den Weg ins Kampfgebiet zu machen. Jetzt stehen sich die Armeen Russlands und der Ukraine an einer Frontlinie gegenüber, an der seit acht Jahren scharf geschossen wird. Mit seiner martialischen Fernsehrede hat Putin den Weg für das schlimmste Szenario freigemacht: den Großangriff auf die gesamte Ukraine.

Die Antwort auf die Aggression nimmt im Westen Formen an. Gestern hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Ostseepipeline Nord Stream 2 auf Eis gelegt – vorerst, damit die Tür nicht endgültig zugeschlagen ist, bevor russische Panzer das Feuer eröffnen. Postwendend drohte der Kreml mit Vergeltung in Form einer Preisexplosion für Gas. "Herzlich willkommen in einer neuen Welt", ätzte Ex-Präsident Dmitri Medwedew, und damit hat er sogar recht. Die deutsche Entscheidung läutet eine neue Phase des Konflikts ein: Die westlichen Verbündeten beginnen, ihre Politik der strategischen Mehrdeutigkeit aufzugeben. Es wird nicht mehr nur in Geheimdienstberichten davon geraunt, dass Putin sich für Krieg entschieden habe. Jetzt ist es für jedermann erkennbar. Die Karten kommen auf den Tisch.

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Die Fakten lassen wenig Raum für Zuversicht, dennoch ist das ungläubige Kopfschütteln unter Russlandbeobachtern immer noch groß. War das russische Säbelrasseln nicht eigentlich ein Bluff? Ist der Preis eines Krieges nicht viel zu hoch für den Kreml? Es drohen ja harte, jahrelange Sanktionen, die EU machte gestern den Anfang. Das bevorstehende Blutvergießen in der Ukraine wird die wirtschaftliche Stagnation Russlands zementieren. Es blockiert die dringend nötige Transformation weg vom Öl- und Gas-Export, obwohl auch Putin weiß, dass die Energiewende kommt und die Tage fossiler Brennstoffe gezählt sind. Einreiseverbote können der Kreml-Elite den Zugang zu ihren Luxusvillen in Londons Nobelvierteln verwehren und ihren Kindern die Ausbildung in Eton und Oxford. Der langfristige Schaden für Russland ist also immens. Wie kann es sein, dass Putin das alles so egal ist?

Die Antwort passt in ein Wort: Verblendung. Die klügste Kosten-Nutzen-Analyse ist nichts wert, wenn in der politischen Führungsetage keine rationalen Entscheidungen mehr getroffen werden. Das kommt in der Politik tatsächlich öfter vor und betrifft nicht nur die abgeschottete Clique hinter den hohen Mauern des Kremls. Das Paradebeispiel in der jüngsten Geschichte stammt aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung: Entscheidungen im Weißen Haus und im Pentagon in Washington haben 2003 den gesamten Nahen Osten in eine bis heute dauernde Krise gestürzt. Richtig aufräumen wollten die amerikanischen Herrschaften, erst im Irak den Diktator Saddam beseitigen und dann ratzfatz nebenan die iranischen Mullahs in Rente schicken. Präsident George W. Bush tischte der Welt eine Räuberpistole von angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak auf. Mit ein bisschen Abstand, aus Europa, konnte man sich kaum vorstellen, dass dieser Quatsch verfängt. Auch die immensen Risiken einer Intervention lagen offen zutage. Trotzdem schlugen die amerikanischen Kriegstreiber zu.

Die Kapitel des irakischen Debakels lesen sich wie ein Skript für die Eskalation der Gegenwart. Der Weg zum Krieg war frei, weil Medien und Bevölkerung bereit waren, der Bedrohungserzählung der Regierenden zu folgen – ganz egal, wie absurd die Behauptungen erschienen. Dank einer vom Kreml kontrollierten Propagandamaschinerie sieht es heute in Russland nicht anders aus: Putin kopiert das amerikanische Drehbuch und lässt nicht einmal die fingierte Gefahr durch "ukrainische Massenvernichtungswaffen" aus.

Doch das Opium der Verblendung gibt es nicht nur fürs Volk. Geheimdienstberichte wurden damals auf dem langen Weg zum Schreibtisch des US-Präsidenten zurechtgetrimmt, bis sie dem entsprachen, was er und sein Beraterstab hören wollten. Ob Putin einen ähnlichen Schmarrn serviert bekommt, wissen wir nicht. Die Schönfärbung von Berichten gemäß den Erwartungen der Führung hat in Russlands Apparat jedoch eine Tradition, die noch in die Zeit der Sowjetunion zurückreicht. So gerüstet kann man vieles planen, auch an der Wirklichkeit vorbei. Die Invasoren im Irak haben es vorgemacht und sich auf den rasanten militärischen Durchmarsch fokussiert, aber einen realistischen Plan für die Zeit danach nicht für nötig erachtet. Man erwartete jubelnde, befreite Iraker – stattdessen machten Attentäter, Scharfschützen und Autobomben den Eroberern das Leben zur Hölle. Wenn Putin von seinen eigenen Worten auch nur ein Quäntchen selbst glaubt, dann kalkuliert er mit einem ukrainischen Volk, dass sich der Wiedervereinigung mit Russland mehrheitlich mit Inbrunst entgegensehnt. Seine Soldaten werden für diesen Irrtum bezahlen.

An der Wurzel allen Übels steht der Wille zur Macht. George W. Bush und seine Entourage wollten den Irak-Feldzug mit jeder Faser und waren bereit, ihn eiskalt durchzuziehen. Die Fakten mussten sich dem Willen fügen. Diese Verblendung sehen wir nun auch im Kreml – zum Beispiel in dieser grotesken Szene im russischen Sicherheitsrat.

Es ist eine Berufskrankheit: Wer es bis an die Spitze einer waffenstarrenden Nuklearmacht geschafft hat, muss als gefährdet gelten – erst recht, wenn keine freien Wahlen den Amtsinhaber an die rettende frische Luft setzen können. Putin ist vor ewigen 22 Jahren in die Schaltzentrale der Macht eingezogen und hat den Weg seither nicht mehr herausgefunden. Das rächt sich. Für ihn, für uns alle und am schlimmsten für die Ukrainer. Niemand weiß, ob der Dauerpräsident zur klugen Abwägung noch fähig und mit dem Mittel der Sanktionen noch erreichbar ist. Es sieht nicht so aus. Eine neue Ära hat begonnen, wir stehen an der Schwelle eines Krieges mitten in Europa. Eine andere Ära endet: Die Zeit der Zusammenarbeit mit Russland ist vorbei.

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Falls Sie im Süden oder Osten wohnen: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen heiteren Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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