Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Realitätsschock für die Grünen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
neues Jahr, neues Glück: Wann haben wir das dringender gebraucht als jetzt? Alle reden von Omikron, im Osten dräut Kriegsgefahr, und draußen herrscht Wetter, das den Namen nicht verdient. Auch der Bauch war schon mal kleiner, der Festtagsbraten und Schwiegermutters Plätzchen haben Spuren hinterlassen. Ach, hätte die weihnachtliche Behaglichkeit doch länger gedauert!
Doch nun ist Montag, der Baum rieselt, der Regen nieselt und die Pflicht ruft. Für viele heißt das Arbeitsbeginn, für die Politik ohnehin, schließlich haben die Neuen in den Ministerien viel vor. "Wir brechen auf in eine neue Zeit", hat der Kanzler in seiner Neujahrsansprache versprochen – oder war das eher als Warnung gemeint? Mit seinen Ampelleuten will er Deutschland umkrempeln: Trotz coronaleerer Kassen sollen Fabriken, Verkehr, Wohnungen, Büros und überhaupt alles, was Energie braucht, in weniger als zehn Jahren grün werden – wobei bislang wohl die wenigsten Bürger begreifen, was dieser gewaltige Umbau bedeutet, doch dazu später mehr.
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Das Jahr hat ja gerade erst begonnen, der richtige Zeitpunkt also für gute Vorsätze. Wirft man einen Blick auf die Titelseiten der bunten Blätter, scheint klar zu sein, welche Vorsätze auch in diesem Jahr Konjunktur haben: Abnehmen (wegen des Bratens, siehe oben), mehr Sport treiben (dito), weniger Stress (und natürlich trotzdem erfolgreich bleiben), mehr Zeit für gute Freunde, gute Bücher, gutes Essen (womit sich der Kreis zum Abnehmen schließt). Sie merken schon: Es ist kein Wunder, dass derlei Vorsätze in der Regel kaum länger als zwei, drei Wochen halten, bevor sie in der Alltagsmühle zerrieben werden.
Alles sinnlos also? Vielleicht nicht ganz. Von Erich Kästner stammt der Satz: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Acht Worte, die mehr Weisheit enthalten als alle bunten Blätter. Schön ist dieser Satz nicht nur wegen seiner lapidaren Klarheit, die wirklich jeder begreift, der kein Brett vorm Kopf hat. Schön ist er auch, weil er zwar im Singular steht, aber den Plural meint. Wir Normalsterblichen, die wir keine großen Schriftsteller sind, dürfen daraus Folgendes ableiten: Es genügt schon, dass wir uns selbst eine gute Tat oder eine konstruktive Verhaltensweise auferlegen, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.
Das ist gar nicht so schwer. Jeden Tag einem Unbekannten ein freundliches Wort sagen, sei es auf dem Weg zur Arbeit oder an der Supermarktkasse. Sonntags das Auto stehen lassen und stattdessen per Rad oder pedes ins Grüne aufbrechen. Einen Baum pflanzen oder wenigstens ein "Bienenhotel" aufhängen. Ein Patenkind in einem armen Land mit einer monatlichen Spende unterstützen. Rücksicht nicht als Schwäche, sondern als Stärke begreifen. Oder ganz einfach jedes Mal, wenn man sich wieder einmal über jemanden aufregt – seien es der Nachbar, die Kollegin, die Politiker oder wer auch immer – kurz innehalten und überlegen, ob die anderen vielleicht doch nicht so viel doofer sind als man selbst. Es gibt viele Möglichkeiten, im Kleinen Großes zu tun. Keine Heldentaten, aber gute Taten. Dinge, die anderen zugutekommen – und die wir zurückbekommen, wenn nur genügend Leute mitmachen. Es ist nicht schwer, ein bisschen Liebe zu geben. Aber es lohnt sich meistens sehr.
Handle so, dass deine Maxime zu einem allgemeinen Gesetz werden kann, hat der alte Kant seinen kategorischen Imperativ ausformuliert. Man muss gar nicht die Nase in ein philosophisches Buch stecken, um den Wert dieses Prinzips zu erkennen. Wenn jeder so lebt, dass alle gut leben können, gibt es weniger Missgunst, weniger Konflikte, weniger Zerstörung. Das ist doch ein schöner Vorsatz für 2022.
Klimatische Verstimmung
Der erste Realitätsschock: So könnte man nennen, was die EU-Kommission der neuen Bundesregierung beschert hat. In einem Verordnungsentwurf stuft die Brüsseler Behörde nicht nur Erdgas, sondern auch die Atomenergie als Übergangstechnologie ein, bis die Energieversorgung in einigen Jahren (hoffentlich) vollständig aus Wind und Solar kommt. Der Plan ist Folge der Erkenntnis, dass sich die ehrgeizigen Klimaziele in der gesamten Union anders nicht erreichen lassen. Und er ist ein Affront gegen Deutschland, das die kleine Gruppe der AKW-Aussteigerstaaten anführt. Frankreich und andere Länder setzen dagegen weiter voll auf Kernenergie, Polen und weitere osteuropäische Staaten wollen neue Meiler bauen. Nur so können sie sich von der klimaschädlichen Kohle lösen. In der deutschen Politik, wo man gern am besten weiß, was gut für Europa ist und was nicht, stoßen diese Pläne auf scharfe Ablehnung. Vizekanzler Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke von den Grünen kanzelten den Entwurf der EU-Kommission harsch ab. "Ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, ist bei dieser Hochrisikotechnologie falsch", fand Herr Habeck.
Im Laufe des Wochenendes mäßigten die Berliner Regierungsvertreter ihren Ton dann – bis es am Ende schließlich hieß, die Bundesregierung "begrüße" den Brüsseler Plan, weil der auch Gaskraftwerke fördere. Es war der fadenscheinige Versuch, den Konflikt kleinzureden, denn ein Zerwürfnis mit der ambitionierten EU-Kommission von Ursula von der Leyen oder gar mit dem wahlkämpfenden französischen Präsidenten Emmanuel Macron kann sich das Team von Olaf Scholz in der wichtigen Klimapolitik nicht leisten. Selbst den Grünen beginnt zu dämmern, dass die eigene Glaubwürdigkeit leidet, wenn man einerseits anderen Ländern Vorgaben machen will, während man sich andererseits von Putins Erdgas abhängig macht.
Man kann nicht alles haben: So sieht sie aus, die deutsche Realität. Wer sowohl aus der Kernenergie als auch aus der Kohle aussteigen will, ohne der Bevölkerung gravierende Einschnitte beim Lebenskomfort zuzumuten, muss Kompromisse machen – kann sich dann aber nicht beschweren, wenn andere Länder dies ebenfalls tun. Ich sage es mal so: Wenn sich die rot-grün-gelbe Regierung erst mal eingegroovt hat, werden wir wohl noch viele Kompromisse sehen. Schließlich wird der Klimaschutz immer dringender.
Rechte Fahnenfeinde
Apropos Europa: Weil Frankreich für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, hat Präsident Macron an Silvester und Neujahr eine Europaflagge am Pariser Triumphbogen hissen lassen – und damit prompt eine Kontroverse ausgelöst. Seine rechtsextreme Herausforderin Marine Le Pen keift über den "Anschlag auf die Identität unseres Vaterlandes" und kündigt eine Beschwerde vor dem Staatsrat an. Der noch rechtsextremere Éric Zemmour wettert ebenfalls gegen die EU-Fahne – und weil die Konservative Valérie Pécresse auch dringend irgendetwas sagen will, stößt sie ins selbe europakritische Horn. Inzwischen ist der Stoff wieder eingerollt, aber wir haben eine Vorahnung davon bekommen, was der Präsidentschaftswahlkampf in unserem Nachbarland noch anrichten kann. Immerhin: Der Eiffelturm, der Élysée-Palast und Dutzende weitere Baudenkmäler erstrahlen noch bis Donnerstag in Europa-Blau. Vive l'Europe!
Zurück in die Klassenzimmer
Überschattet von Corona-Sorgen beginnt heute in mehreren Bundesländern wieder der Unterricht: Zwar ist das genaue Ausmaß der Omikron-Welle wegen der unvollständigen Zählung an den Feiertagen unklar (Deutschland ist ja digitales Entwicklungsland), doch in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen und Rheinland-Pfalz kehren die Schüler aus den Weihnachtsferien in die Klassenräume zurück. Morgen folgt das Saarland, am Mittwoch Hamburg. In Thüringen, wo es heute zunächst mit Heimunterricht losgeht, sollen die Schulen von Mittwoch an selbst entscheiden dürfen, ob sie in Präsenz oder im Distanz- oder Wechselunterricht weiterarbeiten. Während viele Politiker (und noch viel mehr Eltern) die Wichtigkeit des Präsenzunterrichts betonten, haben sich die Kultusminister der Länder aus Sorge vor Omikron zu einer vorzeitigen Krisensitzung verabredet: Am Mittwoch – und damit noch vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzler Olaf Scholz – wollen sie die nächsten Schritte verabreden.
Palast-Festspiele
Das Adlon, die Charité und das KaDeWe waren schon dran – heute um 20.15 Uhr nimmt sich das öffentlich-rechtliche Event-Fernsehen den Ostberliner Friedrichstadt-Palast vor: "Der Palast" heißt die mehrteilige ZDF-Produktion, die Regisseur Uli Edel als opulente "Das doppelte Lottchen"-Variation inszeniert hat. Wer nicht bis abends warten will: Hier ist das Stück schon zu sehen.
Was lesen?
In der Ukraine-Krise verschärfen sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger hat meinem Kollegen Gerhard Spörl erklärt, wie er Putins Drohungen einschätzt – und welche Rolle Deutschland dabei spielt.
Österreichs gescheiterter Ex-Kanzler Sebastian Kurz macht es wie einst Karl-Theodor zu Guttenberg: Nach seinen Mauscheleien lässt er sich von einem windigen Milliardär anheuern und flieht vor den heimischen Skandalen nach Amerika. Die Kollegen des "Stern" berichten über die Details.
Diktatoren haben schon auf die kurioseste Weise ihre Freiheit eingebüßt – aber keiner so wie Manuel Noriega. Was 1989 geschah, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.
Was macht eigentlich Kamala Harris? Die Frage wird immer drängender für Joe Bidens einst so vielversprechende Vizepräsidentin. Viele sehen in ihr mittlerweile eine krasse Fehlbesetzung, berichtet unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns.
Was amüsiert mich?
Deutschlands Klimapolitiker lernen, Kompromisse zu machen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr. Bleiben Sie gesund, fröhlich und zuversichtlich! Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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