Russlands Truppenaufmarsch "Wir müssen vom 'worst case' ausgehen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.In der Ukraine-Krise verschärfen sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger erklärt, wie er Putins Drohungen einschätzt – und welche Rolle Deutschland spielt.
Wolfgang Ischinger zählt zu den international erfahrensten Diplomaten. Der frühere deutsche Botschafter in den USA leitet 2022 zum letzten Mal die Münchner Sicherheitskonferenz, aus der er in 14 Jahren ein Ereignis von Weltrang machte.
t-online: Herr Ischinger, an der Grenze zur Ukraine stehen rund 100.000 russische Soldaten in Gefechtsbereitschaft. Die Nato hält ihre
schnelle Eingreiftruppe in Alarmbereitschaft. Was trauen Sie Wladimir Putin zu?
Ischinger: In solchen Fällen sollten wir immer zwischen Fähigkeiten und Absichten unterscheiden. Die militärischen Fähigkeiten sind angesichts der
aktuellen massiven Truppenkonzentration an der russischen Westgrenze außerordentlich bedrohlich. Bei den Absichten müssen wir im Prinzip immer vom "worst case" ausgehen. Persönlich traue ich Putin sehr viel zu, insbesondere nach der Annexion der Krim im Jahr 2014. Ich halte ihn aber nicht für einen Hasardeur.
In seiner Pressekonferenz kurz vor Weihnachten sagte Putin, der Westen müsse ihm Sicherheitsgarantien geben, und zwar sofort. Die Logik ist: Entweder ihr gebt mir, was ich will, oder ich nehme es mir.
Putin pokert mit sehr hohem Einsatz. Er kalkuliert damit, dass der Westen, vor allem Europa, angesichts seiner Drohung mit Krieg einknickt. Sein Problem besteht aber darin, dass er irgendwann von dem Baum wieder herunterklettern muss, auf den er so hoch gestiegen ist, ohne sein Gesicht zu verlieren, falls Europa doch nicht einknicken sollte.
Putin sagte schon öfter, der Westen habe Russland "dreist getäuscht" und Russland "faktisch beraubt". In der Sache meint er die Ausdehnung der Nato nach Osten. Wie viel Wahrheit steckt in diesen wüsten Vorwürfen?
Keinerlei Wahrheit steckt darin. Das Geraune über mündliche Versprechungen im Jahr 1990 rund um die Wiedervereinigung Deutschlands ist spätestens seit 1997 hinfällig oder nur noch für Historiker interessant, weil Russland mit der Unterschrift unter die Nato-Russland-Grundakte damals, also vor 24 Jahren, die Nato-Erweiterung nach Osten akzeptierte.
Wolfgang Ischinger (74) leitet seit 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz, einen Pflichttermin für Staats- und Regierungschefs, Außenminister und Berater aus aller Welt. Zuvor war er Botschafter in den USA und Großbritannien. Ischinger gilt als herausragender Kenner der internationalen Politik – und als überzeugter Europäer.
Hoffentlich nicht. Putins Erpressung ist eine Bewährungsprobe für den Westen, für die Nato und die Europäische Union. Ich gebe zu, dass wir in der Defensive sind. Die europäische Sicherheitsordnung ist schwer erschüttert. Viel zu lange hat auch die deutsche Regierung an die schöne Vision umfassender Partnerschaft mit Russland geglaubt. Seit 2008, dem Krieg gegen Georgien, spätestens aber seit der Annexion der Krim 2014 ist dieser Traum ausgeträumt, aber viele in Berlin wollten es immer noch nicht wahrhaben.
Gehört die Ukraine, gehört Georgien in die Nato? Um beide Staaten geht es Putin ja immer wieder.
Spätestens seit der Charta von Paris im Jahr 1990 gilt das Prinzip freier Bündniswahl. Wäre es entsprechend dem Geist und den Buchstaben der Nato-Russland-Grundakte gelungen, das Verhältnis zu Russland auf eine grundsätzlich neue, kooperativere Basis zu stellen, dann gäbe es heute keinen Grund für einen tiefgreifenden Konflikt.
Das Projekt ist jedoch aus verschiedenen Gründen gescheitert. Wir wissen schon seit 15 Jahren, dass eine Nato-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine aus russischer Sicht das Überschreiten einer roten Linie bedeuten würde. Deshalb stellten sich Deutschland und Frankreich von Anfang an gegen Amerika, das beiden Staaten den Weg in die Nato ebnen wollte. Daran hat sich bisher – leider – nichts geändert.
Putin legt Wert darauf, mit den USA direkt zu verhandeln und verlangt wieder nach Garantien, dass die Ukraine, aber auch Georgien weder Aufnahme in die Nato noch in die EU finden. Sollte sich Präsident Biden darauf einlassen und wie weit kann er gehen?
Natürlich sollte Washington mit Moskau verhandeln. Aber die Aufnahme Georgiens und der Ukraine steht seit Langem nicht mehr auf der Tagesordnung der Nato, auch wenn sich das Bündnis prinzipiell zur eventuellen Mitgliedschaft der beiden Staaten bekennt, da Georgien wie der Ukraine die Wahl der Bündnisse nun einmal freisteht. Joe Biden kann und will diesem Grundsatz nicht abschwören.
Könnte die Nato passiv bleiben, falls russische Truppen tatsächlich die Ukraine besetzen?
Hoffentlich herrscht in Moskau Unsicherheit über eine westliche Reaktion. Das wirkt abschreckend.
Wie lässt sich dieser Konflikt entschärfen und welche Rolle könnte Deutschland dabei einnehmen?
Berlin spielte bisher und spielt auch jetzt, gemeinsam mit Frankreich, eine operativ wichtige Rolle bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die auf Frieden im Donbas zielen. Kanzler und Außenministerin sollten sich intensiv gegenüber Moskau engagieren, aber bitte in engster Abstimmung mit der EU und insbesondere mit den unmittelbar gefährdeten östlichen Partnerländern. Wir dürfen dabei die erhebliche deutsche Glaubwürdigkeitslücke wegen Nord Stream 2 nicht außer Acht lassen.
Für Deutschland ist Nord Stream 2, die Gasleitung von Wyborg nach Lubmin, in die Auseinandersetzung mit Russland verwoben. Kanzler Olaf Scholz sagt kühl, die Inbetriebnahme sei eine unpolitische Entscheidung einer Behörde, der Netzagentur. Wie weit kommt er mit dieser Ausrede?
Richtig ist, dass die Bundesnetzagentur und die EU-Kommission zurzeit einen bürokratischen Entscheidungsprozess zur Zertifizierung der Pipeline durchführen. Aber natürlich ist Nord Stream 2 längst zum Gegenstand geostrategischer Auseinandersetzungen geworden, nicht zuletzt durch die deutsch-amerikanische Vereinbarung vom Juli 2021, mit der Deutschland sich unter anderem zu Maßnahmen verpflichtete, sollte Russland die Gaslieferungen als Waffe einsetzen.
Es handelt sich also um ein hochpolitisches und stark umstrittenes Projekt von strategischer Bedeutung, das die Glaubwürdigkeit deutscher Politik einem erheblichen Stresstest aussetzt.
Die Verträge für Nord Stream 2 hat Gerhard Schröder in seinen letzten Kanzlertagen unterzeichnet. Lubmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern, das Manuela Schwesig regiert, Scholz ist SPD-Kanzler. Ist die Gasleitung eine SPD-Pipeline?
Die Regierung Merkel hielt 16 Jahre lang an dem Projekt fest, gegen alle Einwände. Daran darf die CDU erinnert werden.
Wie soll die Ampelregierung Ihrer Meinung nach angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine vorgehen?
Ich würde dringend empfehlen, einerseits Putin völlig im Unklaren über die deutsche und europäische Reaktion im Falle militärischer Aktionen zu belassen. Russland sollte befürchten müssen, dass die Pipeline stillgelegt wird. Dazu würde ich der deutschen Regierung engste Abstimmung mit unseren östlichen Partnern, einschließlich der Ukraine, nahelegen.
Im Jahr 2005, als der Vertrag mit Gazprom zustande kam, lagen die Verhältnisse anders. Seither veränderte sich Putin zur Kenntlichkeit. Ist es aus heutiger Sicht nicht verhängnisvoll, dass sich Deutschland von Russland energiepolitisch abhängig macht?
Deutschland ist ja nicht das einzige Land in Europa, das auf mittlere Sicht auf Gas angewiesen bleibt. Wo sind denn nach Kohle- und Atomausstieg die besseren Alternativen? Unabhängig davon war und ist die deutsche Nord-Stream-Politik das Gegenteil eines diplomatischen Meisterstücks.
Sämtliche östliche Nachbarn sowie das Europäische Parlament, dazu Frankreich und die USA zugleich derart massiv zu vergrätzen und damit die eigene europapolitische Glaubwürdigkeit zu untergraben – so viel selbstverschuldetes Missgeschick ist der deutschen Außenpolitik schon lange nicht mehr passiert.
Die neue Außenministerin Annalena Baerbock hat neulich von wertegeleiteter Außenpolitik gesprochen. Ist das ein Maßstab, der Ihnen einleuchtet?
Die deutsche Außenpolitik war von je her wertegeleitet. Entscheidend ist, ob es gelingt, Werte und Interessen in Einklang zu bringen.
Welchen Eindruck haben Sie von Baerbock gewonnen?
Viel hängt davon ab, ob es ihr gelingt, die ersten Monate als erste deutsche Außenministerin fehlerfrei hinter sich zu bringen. Bisher ist ihr dieses Kunststück nach meinem Eindruck gut gelungen. Der professionelle Apparat des Auswärtigen Amtes hilft ihr dabei.
Haben Sie Vertrauen in die Ampelregierung und was erwarten Sie sich von ihr?
Ich erhoffe mir einen Aufbruch nach einem Jahrzehnt des Status-quo-Denkens. Dass wir in der Digitalisierung Nachholbedarf haben, sollte jedem spätestens in der Pandemie klar geworden sein. Vor allem aber erhoffe ich mir mehr Mut zur Führung, nicht nur in der Klimapolitik.
Sie sind ein Diplomat aus der Genscher-Schule. Was kann deutsche Diplomatie nach Ihrer Erfahrung erreichen und worauf sollte sie sich beschränken?
Deutschland kann und muss der "Enabler" für eine handlungsfähigere EU sein. Wenn wir unsere politisch-ökonomische Macht zu Gunsten einer geeinigten und respektierten EU einsetzen, liegen wir richtig.
So kann die neue Bundesregierung auch ihrem Versprechen, mehr Führungsverantwortung zu übernehmen, am besten gerecht werden. Dabei wird Rücksichtnahme auf die kleineren EU-Mitglieder wichtig sein, die sich niemals marginalisiert fühlen dürfen. Zugleich sollten wir in der Außenpolitik nicht vor Überlegungen zu einem Kerneuropa zurückschrecken. Das Tempo der EU darf nicht vom Langsamsten definiert werden.
Dass Deutschland eine größere Rolle in der internationalen Politik spielen sollte, ist fast ein Gemeinplatz. Welche Empfehlungen würden Sie dem Kanzler und seiner Außenministerin geben?
Bitte außenpolitisch mit einer Stimme sprechen – mit oder ohne nationalen Sicherheitsrat. Und: Die G7- Präsidentschaft im Jahr 2022 beherzt nutzen, um die westliche Welt aus der Defensive herauszuführen.
Die Münchner Sicherheitskonferenz, die Sie leiten, ist ein Tummelplatz für internationale Konfliktzonen. Findet Sie wie geplant im Februar statt und mit wem?
Ich bin gedämpft optimistisch, dass wir trotz Omikron eine richtige, also nicht nur virtuelle Konferenz organisieren können. Sicher aber wird die Zahl der Teilnehmer massiv reduziert sein und wer da ist, muss sich täglich PCR-Tests unterziehen. Schon jetzt haben sich zahlreiche hochrangige Delegationen aus der ganzen Welt angemeldet.
Sie geben die Konferenzleitung danach ab. Was war ein besonders guter Augenblick für Sie in Ihren 14 Jahren, was ein besonders negativer?
Es gab seit 2008 eigentlich keine negativen Erlebnisse, aber wirklich viele Höhepunkte, die sich mir ins Gedächtnis eingebrannt haben. Der jüngste Höhepunkt war der erstmalige – wenn auch virtuelle – Auftritt eines amtierenden US-Präsidenten im Februar 2021 mit der Botschaft: "We are back!"
Besonders erfreulich ist für mich persönlich, dass ich vor drei Jahren die Münchner Sicherheitskonferenz mit ihrem großartigen Team in eine von mir gegründete Stiftung einbringen konnte. Als Chef der Stiftung werde ich der Konferenz eng verbunden bleiben und meinen Nachfolger Christoph Heusgen tatkräftig unterstützen.
Herr Ischinger, danke für das Gespräch.