Tagesanbruch Omikron wird brutal
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
unter Wissenschaftlern herrscht in diesen Tagen eine Nervosität wie zum Auftakt der Pandemie vor fast zwei Jahren. Kein Wunder. Die Virusvariante Omikron verbreitet sich mit beispielloser Wucht. Schneller als die "britische Variante", die inzwischen Alpha heißt und uns das letzte Weihnachtsfest verhagelt hat. Schneller als deren Nachfolgerin Delta, die uns im Herbst überrumpelt hat. Virologen und Epidemiologen hat die Ignoranz vieler Politiker an den Rand der Verzweiflung getrieben, aber überrascht hat die Aggressivität des Coronavirus' die Profis nicht. Alles bekannt, alles vorhergesagt. Aber jetzt kommt etwas herangerauscht, bei dem auch den Experten die Muffe geht.
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Anderswo hat Omikron bereits zugeschlagen. In Südafrika, Schottland, England oder Dänemark sieht der Anstieg der Infektionszahlen aus, als habe jemand eine Aufwärtskurve zeichnen wollen und sei mit der Hand plötzlich nach oben weggerutscht. Die Omikron-Infektionen sind keine anschwellende Welle, sondern eine vertikale Wand. Exponentielles Wachstum – aber schneller als je zuvor. Es stockt einem der Atem.
Atemberaubend ist eigentlich alles verlaufen, seitdem die neue Variante in Botswana und Südafrika zum ersten Mal aufgefallen ist. Noch nie zuvor hat eine ungewöhnliche Beobachtung im Labor so schnell einen weltweiten Katastrophenalarm ausgelöst. Seit drei Wochen jagen Wissenschaftler unter Hochdruck neuen Erkenntnissen hinterher. Forschungsergebnisse und Studien prasseln im Stundentakt auf Politiker, Journalisten und die Öffentlichkeit ein. Der Wissensstand verändert sich rasant.
Das ist gut, birgt aber zugleich ein Risiko: Frühe, noch wenig gesicherte Erkenntnisse verankern sich trügerisch im kollektiven Bewusstsein. Wie sich das anhört, während man in der Familie, mit Freunden oder Kollegen über Corona spricht, kommt Ihnen vielleicht vertraut vor: "Omikron ist doch irgendwie harmloser, hab ich gehört." Oder: "Soll jetzt ja schlimmer für die Kinder sein." Ja, es stimmt, das schwirrte alles so herum. Dass diese Feststellungen inzwischen ein paar Fußnoten bekommen haben, hat sich leider noch nicht überall herumgesprochen.
An dieser Stelle ist es Zeit für etwas Erfreuliches. Aus Südafrika haben wir erfahren, dass seit Beginn des Omikron-Ausbruchs jüngere Kinder häufiger mit Covid im Krankenhaus behandelt werden. Das klingt nicht gut und sieht in der Statistik besorgniserregend aus. Aus den Kliniken ist aber noch etwas anderes zu hören: eine "anekdotische Evidenz", also das, was die Ärzte berichten, ohne dass es statistisch erfasst wird. Ein erheblicher Teil der Kinder kommt demnach nicht wegen Corona ins Krankenhaus, sondern wegen anderer Malaisen – und beim routinemäßigen Test fällt die Covid-Infektion nebenbei auf. Der Anstieg der Kinder-Hospitalisierungen mit Covid ist deshalb nicht unbedingt ein Zeichen größerer Gefahr für die Kleinen. Sondern eher ein Signal, dass der Erreger draußen vor dem Hospital rasant grassiert. Entsprechend viele Kinder gelangen in die Statistik, sobald sie ins Krankenhaus kommen – egal, weswegen. Das ist eine gute Nachricht, und es gibt gleich noch eine dazu: Die absolute Zahl der Covid-hospitalisierten Kinder ist trotz dieses Anstiegs gering.
Also alles halb so schlimm? Auch diese Information erreicht uns aus Südafrika: Es gibt zwar unfassbar viele Infektionen, aber auf den Covid-Stationen geht es vergleichsweise undramatisch zu. Kurze Aufenthalte, schnelle Entlassungen, weniger Menschen am Beatmungsgerät. Auch der Anteil der Infizierten, die ins Krankenhaus müssen, ist niedriger als bei Delta – trotz nach wie vor niedriger Impfquote, und auch dann noch, wenn man berücksichtigt, dass die südafrikanische Gesellschaft jünger und deshalb weniger gefährdet ist als die europäische. Der Grund liegt im menschlichen Immunsystem: In den betroffenen Regionen Südafrikas haben die meisten Menschen bereits eine Covid-Infektion durchgemacht, mitunter auch zwei. Und obwohl es inzwischen sicher ist, dass Omikron sich an der Immunabwehr der Genesenen zunächst vorbeimogeln kann, reicht das in der Regel nicht für einen dramatischen Verlauf. Genesen oder geimpft hat man Omikron eine spürbare Abwehr entgegenzusetzen.
Doch die Risiken sind gewachsen. Eine der größten Krankenversicherungen Südafrikas hat ihren Datenschatz durchforstet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass mit zwei Impfungen der Schutz vor schwerer Krankheit auf 70 Prozent zurückgegangen ist. Das ist wieder eine dieser frühen, unsicheren Erkenntnisse, die sich noch verändern werden, aber immerhin ein erster Anker für unsere Erwartungen. Und damit die Zahl nicht zu Missverständnissen führt: Sie bedeutet nicht, dass man im Fall einer Infektion mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit ungeschoren davonkommt, zu 30 Prozent aber in der Notaufnahme landet. Das wäre schlimm und ist nicht so.
Wirksamkeit bedeutet: Einen Ungeimpften erwartet nach der Infektion, abhängig vom Alter, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Krankenhaus, aber für einen vergleichbaren Geimpften fällt dieses Risiko um 70 Prozent geringer aus. Das hört sich gleich viel besser an, und deshalb ist die reduzierte Wirksamkeit kein Grund zur Panik (wenn man geimpft ist). Aber zugegeben, der Schutz fiel vorher besser aus. Zum Glück lässt sich der Mangel beheben: Die dritte Spritze bringt die Sache wieder ins Lot. Während Delta uns zum Boostern noch gedrängelt hat, brüllt Omikron uns die Botschaft jetzt direkt ins Ohr: schnellstens impfen!
Eines allerdings kann selbst die dritte Impfdosis wahrscheinlich nicht aus der Welt schaffen: Omikron ist so ansteckend, dass die Welle der Infektionen mit Impfen allein nicht aufzuhalten sein wird. Auch Geimpfte werden sich massenhaft gegenseitig anstecken. Auf längere Sicht ist das egal. Mit einem Mix aus Impfungen und Viruskontakt baut sich landauf, landab eine Immunität auf, die eine Erkrankung für die überwältigende Mehrheit wohl lästig, möglicherweise auch unangenehm, aber aller Voraussicht nach nicht gefährlich verlaufen lässt. Die Voraussetzung dafür sind drei Impfungen. Für jeden. Für alle. So sieht der Weg aus der Pandemie aus.
Vorher aber laufen wir noch einmal in eine Welle der Ansteckungen, die sich auftürmt wie eine Wand. Eine harte Phase, in der sehr viele Menschen sehr schnell nacheinander krank werden – die nicht hinreichend Geimpften zum Teil auch schwer. Und das in einer Zeit, in der die Intensivstationen ohnehin überlastet sind. Angesichts dieser Aussichten muss man kein Wahrsager sein: Um infernalische Szenen in den Kliniken abzuwenden, wird es ohne harte Kontaktbeschränkungen nicht gehen –egal, was die Politiker gerade sagen. Wir müssen damit rechnen, dass die Welle schnell kommt. Schlagartig und brutal.
Ich möchte Ihnen keine Angst machen, ich würde mich wirklich gern irren. Den Satz habe ich übrigens von den Wissenschaftlern gelernt. Die sagen ihn gerade auch ständig. Sie wirken dabei nur ganz schön nervös.
Die Hektik wächst
Allmählich beginnt auch die Politik die Größe der Omikron-Gefahr zu begreifen. Umso heikler, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit einer verwirrenden Bemerkung über angeblich zu wenig bestellten Impfstoff die Verunsicherung vieler Bürger vergrößert hat (mehr dazu in diesem Text unserer Reporter Johannes Bebermeier und Sebastian Späth). Heute Nachmittag muss der Neu-Minister gemeinsam mit RKI-Präsident Lothar Wieler in der Bundespressekonferenz Rede und Antwort stehen. Sein Chef Olaf Scholz ist derweil zum Treffen der Staats- und Regierungschefs nach Brüssel gejettet. Auch da geht es neben den Dauerbrennern Energiepreise, Belarus und Russland vor allem um, genau: Omikron.
Urteil zur Amokfahrt
Das Motiv kennt bis heute nur der Täter: Am 24. Februar 2020 fuhr ein damals 29-jähriger Deutscher mit dem Auto absichtlich in den Rosenmontagsumzug im nordhessischen Volkmarsen. 90 Menschen erlitten teils schwere Verletzungen, darunter viele Kinder. Im Prozess vor dem Landgericht Kassel fordert die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft für den Angeklagten Maurice P. Heute wird das Urteil erwartet.
Meister der Musik
Wir normale Menschen hören schöne Musik und sagen: "Oh, schöne Musik!" Etwas weniger normale Menschen können die schöne Musik sogar selbst spielen. Aber nur außergewöhnliche Menschen können sie auch komponieren. Und dann gibt es noch die Genies. Sie schaffen Klänge, die Zuhörer verzücken. Die uns in Traumwelten entführen, zu Glückstränen rühren, unsere Seelen streicheln. So einer war Camille Saint-Saëns. Sagenhafte 600 Musikstücke hat er geschaffen: Opern, Sinfonien, Konzerte für Klavier, Cello und Violine, Orchester und natürlich den "Karneval der Tiere". Er produziere Werke so wie ein Apfelbaum Äpfel hervorbringt, hat er mal über sich selbst gesagt. Heute vor 100 Jahren ist der französische Tausendsassa auf einer Nordafrikareise gestorben. Das ist doch eine Gelegenheit, dem größten seiner großen Werke zu lauschen: dem Weihnachtsoratorium. Schöneres ist wohl niemals komponiert worden.
Den Lichtblick des Tages …
… liefert uns die Wikipedia. Wenn ich die Online-Enzyklopädie richtig verstehe, werden die Tage ab jetzt wieder länger – und nicht erst, wie alle glauben, am 22. Dezember. "Der späteste Sonnenuntergang fällt wegen der Zeitgleichung nicht mit der Sommersonnenwende zusammen, sondern tritt erst um den 25. Juni ein. Analog erfolgt der früheste Sonnenuntergang in Norddeutschland bereits etwa am 14. Dezember, also eine Woche vor der Wintersonnenwende, in der Schweiz schon um den 11. Dezember", heißt es dort. Ab jetzt wird es heller!
Was lesen?
Die russische Regierung hat einen Mord in Berlin in Auftrag gegeben. Nun muss die Geduld der deutschen Politiker mit Putin ein Ende haben, fordert mein Kollege Jonas Mueller-Töwe.
Horrende Infektionszahlen, wüste Corona-Proteste: Die Stimmung in Sachsen ist vielerorts mies. Was engagierte Bürger dagegen tun, hat meine Kollegin Liesa Wölm aufgeschrieben.
Die Preise steigen immer schneller. Lange haben die Zentralbanken nichts gegen die Inflation unternommen – jetzt könnte sich das ändern, berichtet mein Kollege Florian Schmidt.
Was amüsiert mich?
Die Scholz-Regierung geht nach dem Auftragsmord im Berliner Tiergarten richtig hart gegen Putin vor und hat … äh … zwei russische Diplomaten ausgewiesen.
Ich wünsche Ihnen einen energiegeladenen Tag. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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