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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Proteste in Sachsen Ist es das, was ihr wollt?
Die Stimmung ist Sachsen ist am Nullpunkt. Nicht nur die hohen Infektionszahlen bereiten vielen Bürgern Sorge – auch die zunehmenden Corona-Proteste spalten die Gemüter. Wie eine Initiative zu Geschlossenheit aufruft.
"Wir sind sauer, wir sind wütend und wir wollen das nicht länger hinnehmen! (...) Lasst Freiberg nicht zum Abenteuerspielplatz der Rechtsextremen und Coronaleugner werden!" Der Offene Brief der Initiative "Freiberg für alle" ist höchst emotional. Er adressiert die "Corona-Spaziergänger", die in den vergangenen Wochen zunehmend die Spannungen in der sächsischen Stadt anheizen.
Verschiedene Gruppierungen rufen – zumeist ohne Abstand und Maske – zum "Widerstand" gegen die Corona-Maßnahmen auf. Und das in Zeiten, in denen die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Mittelsachsen bei fast 1.200 liegt (Stand: 14. Dezember). 95 Prozent der Intensivbetten in Sachsen sind derzeit belegt. Die Impfquote im Land ist die niedrigste bundesweit. Die Pandemie im Freistaat ist eskaliert.
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Fast 4.500 Unterschriften
Während regelmäßig Hunderte Menschen auf die Straße gehen, um gegen die verschärften Regelungen in dem Bundesland zu demonstrieren, ruft "Freiberg für alle" in einem Schreiben zu Solidarität auf:
- "Seit Monaten befinden wir uns in einer Pandemie und seit Kurzem spitzt sich die Situation zu wie nie zuvor. Die Krankenhäuser arbeiten am Limit und die Belastung der Pflegekräfte ist an einer Grenze, die für die gesamte Gesellschaft bedrohlich und anteilig bereits überschritten ist. Ausgerechnet in dieser Zeit gehen einige unserer Freiberger Mitbürgerinnen und Mitbürger gemeinsam mit Rechtsextremen wie den sogenannten 'Freien Sachsen' auf die Straße und tragen damit erst recht zur Verbreitung des Virus bei."
Fast 4.500 Menschen haben die Online-Petition inzwischen unterschrieben, die auch die politischen Entscheidungsträger zum Handeln auffordert: "Von der Politik erwarten wir, diese illegalen Demonstrationen nicht länger zu dulden." Den kompletten Offenen Brief finden Sie hier.
Die "Freien Sachsen", von denen die Initiative spricht, sind eine rechtsextreme Kleinstpartei, die über den Messenger-Dienst Telegram zu den Protesten in Dutzenden Städten aufruft. Mehr als 111.000 Nutzer folgen dem Kanal. In den bundesweiten Fokus rückte die Partei jüngst mit dem Fackelaufmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD). Bereits im Juni stufte der Landesverfassungsschutz die "Freien Sachsen" als rechtsextremistische Bestrebung ein. Mit dem Aufruf zu "Spaziergängen" wollen die Demonstrierenden die offizielle Genehmigung umgehen, die für einen angemeldeten Protest nötig wäre.
"Das ist unbegreiflich"
Katharina Overbeck, die die Initiative "Freiberg für alle" mit ins Leben gerufen hat, zeigt kein Verständnis für die Demonstrationen: "Ich würde niemals auf die Idee kommen, mich mit Rechten zusammenzuschließen, um auf die Straße zu gehen – zu Protesten, wo Rechte das Sagen haben. Das ist unbegreiflich", sagt sie t-online.
"Freiberg für alle" ist ein loses Netzwerk von Organisationen, Vereinen, Initiativen und Privatpersonen. Im Juni 2019 gegründet, vernetzt und unterstützt das Bündnis alle, die sich für ein offenes, lebenswertes und demokratisches Freiberg engagieren. Es fördert den Austausch untereinander, mit der Stadt und ihrer Verwaltung sowie der Öffentlichkeit.
Auch Katharina Overbeck habe gute Gründe, sich über die Maßnahmen zu beschweren: Sie arbeite am Theater in Freiberg, das wegen des "lockdownähnlichen Zustands" in Sachsen geschlossen ist. "Ich finde es auch nicht gut, dass wir nicht arbeiten dürfen, aber es ist viel wichtiger, dass wir jetzt auf die Krankenhäuser gucken und dass wir das irgendwie halbwegs in den Griff bekommen. Und dann bin ich dran." Viele setzten gerade andere Prioritäten. "Ich kann es nicht begreifen, wie man sich selbst so egoistisch in den Vordergrund stellt, nur weil man gerade vielleicht mal nicht zum Frisör darf", sagt Overbeck.
Baubürgermeister polarisiert mit Aussagen zu Ungeimpften
Inmitten der polarisierenden Debatten heizt ein Lokalpolitiker die Stimmung noch mehr an: Der Vorsitzende der Freiberger CDU und Baubürgermeister Holger Reuter nannte die Corona-Maßnahmen in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS) ein "Kesseltreiben gegen Ungeimpfte". Beinahe im selben Atemzug sprach Reuter über die Völkermorde im 20. Jahrhundert in Armenien.
Die Aussagen des CDU-Politikers sorgten für Empörung. Der Freiberger Oberbürgermeister Sven Krüger verlangte am Sonntag in einem Statement gegenüber der "Freien Presse" Reuters Rücktritt oder eine öffentliche Klarstellung. Auch Overbeck von "Freiberg für alle" zeigte sich irritiert: "Es ist mir ein Rätsel, wie Herr Reuter zu dieser Aussage kommt."
"Es ist ein unglaublich schwerer Zustand für uns alle"
Mit ihrer Petition wollen Overbeck und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter nach eigener Aussage zeigen, wie viele Leute diese Spaziergänge ablehnen. "Wir erhoffen uns vor allem, dass wir vielen Leute, die nicht wissen, wohin mit sich, die Möglichkeiten aufzeigen, wie man sich äußert – ohne an den Spaziergängen teilzunehmen. Dass man sagt: 'Hier ist wirklich eine Grenze überschritten.' Es ist jetzt nicht das Richtige, sich draußen zu Hunderten zu treffen ohne Abstand. Die Leute sollen innehalten und überlegen, ob sie einfach nur denen hinterherlaufen, die am lautesten schreien. Wir sagen jetzt auch einmal etwas laut", so Overbeck.
Sie vermute, dass bei den Corona-Spaziergängen sehr viele dabei sind, die frustriert sind durch die Zustände, die Angst und Sorgen haben oder in existenziellen oder persönlichen Nöten sind. "Es ist ein unglaublich schwerer Zustand für uns alle, diese Pandemie und zum Teil auch die Maßnahmen, die ergriffen werden, das ist für niemanden schön. Aber ich habe das Gefühl, manche können damit schlechter umgehen oder suchen ein Ventil", so die Initiatorin.
Oftmals Hunderte Teilnehmer
Bei den Protesten wird die Polizeipräsenz immer größer – das heißt aber nicht immer, dass die Beamten härter durchgreifen. Am Montag kesselten die Polizisten rund 100 Menschen in der Nähe eines Freiberger Supermarktparkplatzes ein, bevor sie die Protestierenden doch weitergehen ließen – denn aufgrund der Nähe zu den Geschäften sei nicht festzustellen gewesen, wer Teilnehmer oder Kunde der Märkte war, sagte ein Sprecher der Polizei. Oftmals liegt die Teilnehmerzahl auch bei 400 oder höher.
Nach Einschätzung von Experten mischen bei den Protesten in Sachsen, aber auch in anderen Bundesländern rechtsextreme Gruppen wie die "Freien Sachsen" mit, die seit Jahren auch gegen Migration und staatliche Strukturen mobilisieren. Bei solchen Demonstrationen waren in den vergangenen Wochen wiederholt auch Journalisten beschimpft und attackiert worden. Doch an den Versammlungen nehmen auch Bürgerinnen und Bürger teil, die keinem rechten Lager angehören.
"Indiskutabel und respektlos"
Vielerorts kommt die Frage auf, warum die Proteste trotz des Versammlungsverbots überhaupt stattfinden. Auch Overbeck erwartet von der Politik, dass solche Aufmärsche gar nicht erst entstehen können. "Über soziale Medien wie Telegram kann man doch vorher herausfinden, wo die Leute wann sind." Sie habe das Gefühl, dass sich insbesondere die Stadtführung in Freiberg im Vorfeld nicht klar genug positioniert habe.
Es sei natürlich wichtig, dass man sich artikuliert und die staatlichen Maßnahmen infrage stellt. "Aber in der Form finde ich es indiskutabel und respektlos", so Overbeck. "Die Leute ziehen ohne Abstand und Maske am Krankenhaus vorbei, wo die Leute um ihr Leben kämpfen und die Pflegekräfte am Ende sind."
Im Brief der Initiative heißt es:
- "Es gelten Regeln und die gelten für alle. Wenn eine Versammlung momentan nur an einem Ort und nur für zehn Personen erlaubt ist, dann gilt das für alle. Diese Ungleichbehandlung erzeugt Frust, Unverständnis und stößt alle diejenigen vor den Kopf, die sich seit Monaten an die Einschränkungen halten."
Die Spaziergänge würden ein "dermaßen schlechtes Bild" auf die Stadt werfen, was Freiberg in dieser Form nicht verdient habe, sagt Overbeck. Auch im Alltag erlebe sie oftmals Situationen, in denen sie sich unwohl fühle: "Zum Beispiel beim Bäcker oder beim Einkaufen, wenn mal wieder jemand seine Maske nicht trägt. Ich versuche dann möglichst schnell, das Geschäft zu verlassen."
"Wir sind doch eine Gesellschaft"
Dennoch gibt Overbeck die Hoffnung nicht auf. Durch den Brief erhofft sie sich, dass sich viele darauf besinnen, die Maßnahmen mittragen zu wollen. "Ich glaube, dass sehr viele Demonstranten umgestimmt werden können", sagt sie. "Viele von ihnen verbringen wahrscheinlich viel Zeit in sozialen Medien und landen auf Verschwörungsseiten, die eine fesselnde Wirkung haben. Wenn man dann noch Freunde oder Bekannte hat, die das ähnlich sehen, schaukelt man sich gegenseitig hoch und findet irgendwann keinen Ausweg mehr – oder will vielleicht auch gar keinen Ausweg mehr finden."
Man müsse sehr geschult in Kommunikation und Extremismus sein, um diese Gruppe noch zu erreichen. Overbeck appelliert an die Bürgerinnen und Bürger: "Wir sind doch eine Gesellschaft, die immer gut funktioniert hat und eigentlich achten wir aufeinander. Jetzt haltet noch einmal kurz inne und überlegt, ob es das ist, was ihr wollt."
- Gespräch mit Katharina Overbeck von der Initiative "Freiberg für alle"
- Offener Brief von "Freiberg für alle"
- ZDF: Wer die Corona-Proteste in Sachsen anheizt
- Impfdashboard des Robert Koch-Instituts (Stand: 14. Dezember 2021)
- Dashboard des Robert Koch-Instituts (Stand: 14. Dezember 2021)
- Verfassungsschutz Sachsen: "Freie Sachsen" vom LfV Sachsen als rechtsextremistische Bestrebung eingestuft
- ZDF: Wenn ein "Spaziergang" zur Taktik wird
- MDR: Rücktrittsforderungen an Freiberger Vize-OB nach Völkermord-Aussage
- Infektionsfälle in Sachsen (Stand: 14. Dezember 2021)
- Telegram-Kanal "Freie Sachsen"