Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Operation Haudrauf
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Bundestagswahlkampf ist träge, viele Bürger empfinden ihn als langweilig und uninspiriert. Das ist richtig im Hinblick auf Argumente, Kandidaten und demokratische Debatten. Zugleich toben aber in den "sozialen" Netzwerken heftige Schlachten zwischen manchen Parteianhängern, zwischen Rechten und Linken, die sich in Schmähkampagnen entladen. Mal sind es verlogene Facebook-Postings von AfD-Anhängern, mal ist es ein herablassender Tweet von Friedrich Merz, mal ist es ein SPD-Wahlkampfvideo mit persönlichen Angriffen auf Armin Laschets Staatskanzleichef, mal ist es dies, mal das, und immer wird noch eine Schippe draufgelegt, noch schärfer formuliert, noch heftiger draufgehauen.
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Besonders hohe Wellen schlägt in diesen Tagen eine gegen die Grünen gerichtete Plakatkampagne, die von einem dubiosen Verein initiiert worden ist. Auf den in zahlreichen Städten ausgehängten Plakaten wird den Grünen unter dem Motto "Grüner Mist" allerhand vorgeworfen: "Klimasozialismus", "Ökodiktatur", "Enteignungsterror" und andere Untaten. Manches Kompositum klingt so schräg, dass es fast schon wieder witzig wäre, aber dafür ist die Aktion dann doch zu schäbig. Man fühlt sich an Diffamierungskampagnen in amerikanischen Wahlkämpfen erinnert – entsprechend groß ist die Empörung bei den Grünen, aber auch bei vielen Anhängern anderer Parteien. Die Generalsekretäre von CDU und SPD solidarisierten sich gestern mit den Grünen. Im Internet echauffiert sich derweil die linksliberale Twitter-Schickeria, und es werden allerhand Theorien gesponnen, wer da mit wem unter einer Decke stecken könnte. Der Brass richtet sich jedoch nicht allein gegen die Kampagne oder deren Initiatoren, sondern auch gegen die Betreiber von Plakatwänden, auf denen die Motive ausgehängt sind.
Dazu zählt auch Deutschlands größte Außenwerbefirma, der Ströer-Konzern, zu dem neben anderen Medien auch t-online gehört. Dass Ströer als Vermarkter der Plakatflächen nicht für die Inhalte und die Gestaltung der Werbung verantwortlich ist, sondern sich politisch, weltanschaulich und religiös neutral verhält, also alles aushängt, was nicht gegen Gesetze und Branchenregeln verstößt, wird dabei geflissentlich ignoriert. Viele der Empörten, die da gerade in der Netzwelt herumblubbern, haben offenbar Scheuklappen auf und wollen immer genau das verboten sehen, was ihnen persönlich missfällt. Rechte erregen sich über die "Bundestag nazifrei"-Kampagne gegen die AfD, Linke über die "Grüner Mist"-Kampagne. Einige versteigen sich dabei selbst in Hetzreden: Es geht ums Draufhauen und Anschreien statt ums Argumentieren, so wird die gesellschaftliche Polarisierung immer weiter verschärft. Dabei ist die Lage nüchtern betrachtet klar: Werden keine Gesetze verletzt, kann es nicht die Aufgabe einer privatwirtschaftlichen Werbefirma sein, in einem Wahlkampf darüber zu entscheiden, welche politische Partei oder Organisation mit ihren Botschaften im öffentlichen Raum werben darf und welche nicht.
Anders sieht es bei journalistischen Medien aus: Sie können im Rahmen einer publizistischen Leitlinie festlegen, dass sie keinerlei politische Werbung und dementsprechend auch keine Schmähkampagnen als Anzeigen veröffentlichen. So hält es auch die Redaktion von t-online, weshalb wir beispielsweise ein gegen Annalena Baerbock gerichtetes Anzeigenmotiv abgelehnt haben. Auch jetzt bleibt es dabei: Die redaktionelle Berichterstattung auf t-online wird nicht von Wahlkampfanzeigen umgeben. Und das ist gut so.
Tragödie mit Ansage
Während in Deutschland über Wahlplakate diskutiert wird, stürzt andernorts ein ganzes Land ins Verderben. Wohl keiner der hochdekorierten Generäle in der Bundeswehr und der amerikanischen Armee hat vorausgesehen, in welch atemberaubendem Tempo die Taliban Afghanistan überrennen. Keine Woche haben sie gebraucht, um ein Viertel des Landes zurückzuerobern. Was die westlichen Soldaten, Außenpolitiker und Entwicklungshelfer in 20 Jahren errichtet haben, wird von heute auf morgen zunichte gemacht.
Es sagt sich so leicht: Die Taliban erobern Afghanistan. Aber was sich wirklich hinter diesem Satz verbirgt, ist so unendlich viel tragischer, als es die nüchternen Buchstaben ausdrücken könnten. Wer wissen will, was es wirklich bedeutet, muss dann eben doch in die sozialen Netzwerke schauen. Auf Twitter ist beispielsweise zu sehen, wie bärtige Männer mit Kalaschnikows durch Straßen rennen, Regierungsbüros stürmen und jeden massakrieren, den sie für einen Gegner oder Sünder halten. Sie geben einen feuchten Kehricht auf die Abkommen, die ihre Anführer bei den Friedensverhandlungen mit US-Diplomaten in Qatar geschlossen haben, sie holen sich einfach, was sie haben wollen. Ich möchte das hier nicht weiter ausführen, aber so viel sage ich dann doch: Wer diese Szenen sieht, muss entsetzt sein über die Naivität (oder Skrupellosigkeit?) der deutschen und amerikanischen Politiker, die entschieden haben, Afghanistan mir nichts, dir nichts im Stich zu lassen.
Jetzt regiert kopflose Panik. Diplomaten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen retten sich in die wenigen noch startenden Flugzeuge, die Bundesregierung ruft alle Deutschen auf, das Land schleunigst zu verlassen. Sogar Ober-Sheriff Horst Seehofer hat inzwischen verstanden, dass er afghanische Straftäter aus Deutschland nicht in ein Land zurückschicken kann, das gerade von Mördern und Folterknechten übernommen wird. Das Auswärtige Amt rechnet schon bald mit den ersten Flüchtlingswellen in Richtung Deutschland. Vergangene Nacht eroberten die Taliban mit Kandahar im Süden des Landes die zweitgrößte Stadt Afghanistans. Die US-Regierung geht davon aus, dass auch die Hauptstadt Kabul in wenigen Wochen in ihre Hände fallen könnte. Das Pentagon kündigte an, 3.000 weitere US-Soldaten in die Stadt zu verlegen, um die Sicherheit am Flughafen zu verstärken. Was Lehrerinnen in Mädchenschulen, Journalisten, Oppositionspolitikern und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft droht, wenn auch Kabul fällt, mag man sich nicht ausmalen. Einem bekannten Komiker haben die selbsternannten Gotteskrieger vor wenigen Tagen die Kehle durchgeschnitten.
Und noch immer bangen vor Ort ehemalige Übersetzer und Köche der Bundeswehr mit ihren Familien. Die Taliban haben geschworen, auch mit ihnen kurzen Prozess zu machen. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Kanzlerin Angela Merkel und andere Vertreter der Bundesregierung beteuern zwar wortreich, alle gefährdeten Helfer der Bundeswehr ausfliegen zu wollen. Doch schaut man genauer hin, haben sie viel zu wenig dafür getan – und reden sich nun damit heraus, die Behörden vor Ort würden Afghanen leider, leider "nur aus dem Land lassen, wenn sie einen Reisepass haben". Ja, so sagt das die Ministerin des Landes, dessen schwerbewaffnete Soldaten in mehreren Regionen Afghanistans jahrelang die Regeln vorgegeben haben. Das die Marionettenregierung in Kabul mit vielen Hilfsmilliarden hochgepäppelt hat. Es ist ein zynischer Witz. Und es beschädigt auf Jahre hinaus die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik. Die Hilferufe der Betroffenen ziehen via Facebook und Twitter um den Globus.
Nun weht also wieder die weiße Taliban-Flagge über den Provinzhauptstädten, und Regierungssoldaten streifen eilig ihre Uniformen ab, um nur ja nicht erkannt zu werden. In den eroberten Ortschaften öffnen die Taliban die Gefängnisse und lassen inhaftierte Gefährten frei. Vor 20 Jahren rekrutierten sie ihre Kämpfer überwiegend aus den Stämmen der Paschtunen, sie waren eine ethnische Bürgerkriegspartei unter mehreren. Heute stammen die Krieger aus verschiedenen Ethnien und Regionen des Landes, aber eines eint sie: die Wut auf die korrupte Zentralregierung in Kabul, die sich mit den Ausländern eingelassen hat. Genau die sowie alle ihre Helfer und Helfershelfer wollen sie nun hinwegfegen, um ihren "Gottesstaat" mit Steinzeitmoral wieder zu errichten.
Vielleicht ist es ja das, was die westlichen Demokratiemissionare am folgenschwersten übersehen haben: Wer seine Macht auf Halunken stützt, der kann noch so viele Dollars in einen Einsatz pumpen – eine stabile Zivilgesellschaft wird er so nie schaffen.
60 Jahre Schandwall
Rund drei Millionen Menschen hatten schon aus der DDR in den Westen "rübergemacht", als die SED-Diktatur unter Diktator Walter Ulbricht entschied, dass damit nun Schluss sein sollte: Am 13. August 1961, der Bundeskanzler hieß Konrad Adenauer und der Regierende Bürgermeister Berlins Willy Brandt, begann das DDR-Regime, Sperranlagen durch Berlin zu ziehen und die Sektorenübergänge abzuriegeln. Mehr als 10.000 Volks- und Grenzpolizisten rissen Pflaster und Asphalt auf und errichteten Barrikaden, 7.000 Soldaten sicherten die Arbeiten ab, auch sowjetische Truppen waren in Bereitschaft.
28 Jahre lang teilte die Mauer im Kalten Krieg die Stadt, mindestens 140 Menschen starben beim Versuch, sie zu überwinden. Erst von den friedlichen Revolutionären am 9. November 1989 wurde sie überwunden. Zum heutigen 60. Jahrestag des Mauerbaus gibt es vielfältige Veranstaltungen, vom Punkkonzert bis zum Picknick. Die zentrale Gedenkfeier mit Reden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller beginnt um 10 Uhr vor der Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße. Das ZDF überträgt live.
Eine Nummer kleiner
Bei 598 Abgeordneten liegt die Regelgröße des Bundestags, derzeit sind es aber 709. Um das Parlament wieder auf Normalmaß zu schrumpfen, haben Union und SPD ein Wahlrechtsreförmchen beschlossen, das allerdings sein Ziel weit verfehlt. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und sechs weitere CDU-Abgeordnete versagten dem Gesetzentwurf aus den eigenen Reihen die Zustimmung. Weil die Fraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei fürchten, sie bekämen künftig weniger Abgeordnete, zogen sie vors Bundesverfassungsgericht. Heute Morgen veröffentlichen die Karlsruher Richter ihre Entscheidung.
Was lesen?
Geht die Coronavirus-Pandemie doch auf ein Labor in Wuhan zurück? Mein Kollege Lars Wienand berichtet über ein brisantes Interview eines Experten der Weltgesundheitsorganisation.
Was können wir heute noch aus dem Mauerbau lernen? Die ostdeutschen Politiker Matthias Platzeck und Carsten Schneider haben eine Menge dazu zu sagen.
Zahlreichen Menschen gelang trotz Mauer und Stacheldraht die Flucht aus der DDR. Unser Zeitgeschichteredakteur Marc von Lüpke berichtet von den spektakulärsten Aktionen.
Was amüsiert mich?
Gestern saß ich im ICE. Tja.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Freitag und dann ein famoses Wochenende.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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