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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Chef Lars Klingbeil Riskante Entscheidung

Trotz interner Querelen konnte die SPD-Spitze die Parteibasis für eine Koalition mit Friedrich Merz erwärmen. Doch die wahre Bewährungsprobe steht Parteichef Lars Klingbeil noch bevor. Vor allem eine Personalie spaltet die SPD.
Es ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann: Mit einer deutlichen Mehrheit von 84,6 Prozent haben die rund 360.000 SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit der Union gestimmt. Ein sichtlich erfreuter Matthias Miersch präsentierte das Ergebnis am Mittwochmorgen im Willy-Brandt-Haus. "Sie sehen heute einen sehr zufriedenen Generalsekretär der SPD", grinste Miersch in die Kameras. Er sei "mächtig stolz" auf seine SPD.
Der hohe Zuspruch der Genossen zur Vernunftehe mit CDU/CSU hat selbst die Parteispitze überrascht. Mit dem eindeutigen Votum lief auch der halbherzige Aufstand der Jusos ins Leere. Stattdessen setzt sich – wie so oft in der Geschichte der Genossen – die sozialdemokratische Staatsräson durch.
Aufatmen kann nicht nur Friedrich Merz (CDU), der jetzt nur noch eine Hürde nehmen muss, um Kanzler zu werden. Auch der SPD-Führung bleibt eine Blamage erspart. Denn auch sie wusste, dass das Votum angesichts der historischen Wahlschlappe im Februar (16,4 Prozent) und des Wunsches vieler Genossen nach Erneuerung keineswegs ein Selbstläufer war.
Doch viel Zeit zum Jubeln hat Lars Klingbeil nicht. Die nächste Bewährungsprobe steht schon an: Der SPD-Partei- und Fraktionschef muss dringend klären, wer für die Sozialdemokraten ins Merz-Kabinett einzieht. Zwar hat Klingbeil dem Parteipräsidium am Mittwoch erklärt, dass er Finanzminister und Vizekanzler werden wolle. Doch die Besetzung der anderen Ministerposten ist weiterhin offen – während CDU und CSU ihre Kabinettslisten längst vorgelegt haben.
Ebenfalls unklar: Wer führt künftig die Partei und Fraktion? Vor allem eine Frage bereitet Klingbeil Kopfzerbrechen: Wie umgehen mit seiner Co-Vorsitzenden Saskia Esken, die von ihrer eigenen Partei gerade sturmreif geschossen wird?
Existenzkrise der Sozialdemokratie
Fest steht: Die SPD-Führung steckt in einer prekären Lage. Die Partei befindet sich nicht erst seit dem Debakel bei der Bundestagswahl in einer Existenzkrise. Eine Serie an Wahlniederlagen, eine schrumpfende Wählerschaft, kaum Verankerung im Osten Deutschlands, in Trümmern liegende SPD-Bastionen im Ruhrgebiet – die SPD, so die Überzeugung vieler Genossen, muss sich grundlegend erneuern.
Doch für eine Regierungspartei ist das leichter gesagt als getan. Klingbeils erste Maßnahme nach der Wahl im Februar war zunächst ein Griff nach mehr Macht: Noch in der Wahlnacht sicherte er sich den Fraktionsvorsitz, um mit Friedrich Merz auf Augenhöhe die Koalition zu verhandeln. Die Strategie: Erst die SPD in die Regierung bringen, dann die Wahl aufarbeiten und Konsequenzen ziehen.
Doch Klingbeils Kühnheit, sich nach einem vergeigten Wahlkampf auch noch selbst zu befördern, stieß einigen auf. Juso-Chef Philipp Türmer warf dem Parteichef vor, er ziehe als einer der "Architekten des Misserfolgs" nun noch mehr Macht an sich, anstatt die Partei personell neu aufzustellen.
Wer zieht ins Merz-Kabinett?
Trotz Kritik ist Klingbeil derzeit der starke Mann der SPD. Das eindeutige Mitgliedervotum der Parteibasis ist ein weiterer Beleg dafür. Auch in den Koalitionsverhandlungen hat sich Klingbeil aus Sicht der Genossen bewährt: Der SPD-Chef hat im Koalitionsvertrag mit CDU/CSU klare sozialdemokratische Akzente gesetzt und zur Überraschung selbst vieler Unionspolitiker sieben Ministerien herausgeholt – genau so viele wie der CDU-Wahlsieger.
Doch der offene Angriff von Juso-Chef Türmer zeigt: Klingbeils Autorität ist nicht unangefochten. Er muss jetzt aufpassen, seine nächsten Schritte genau überlegen. Greift er daneben, könnte das Murren in der Partei lauter werden und sich auch gegen ihn richten.
Bis Sonntag hat Klingbeil Zeit, die Probleme aus dem Weg zu räumen. Größter Brocken des SPD-Chefs: die Ministerfrage. Neben dem künftigen Finanzminister Klingbeil ist nach t-online-Informationen Boris Pistorius als Verteidigungsminister gesetzt. Als Arbeitsministerin ist Bärbel Bas im Gespräch. Für die übrigen vier – Justiz, Bauen, Umwelt, Entwicklung – kursieren jeweils mehrere Namen.
Auch die Partei- und Fraktionsspitze muss neu besetzt werden. Klingbeil muss bei der Verteilung der Posten auf mehrere Faktoren achten: Neben fachlicher Eignung spielen Regionalproporz und Geschlechterparität eine wichtige Rolle. Zudem: Verdiente Genossen wollen versorgt werden.
Casus knacksus: Saskia Esken
Vor allem eine Personalie stellt Klingbeil vor Probleme: Saskia Esken. Die Co-Parteivorsitzende, seit 2019 an Klingbeils Seite, ist bei vielen in der SPD unten durch. SPD-Bürgermeister halten Eskens Auftreten für "parteischädlich" oder fordern ihren Rücktritt. SPD-Abgeordnete berichten, dass sie den Raum verlassen, sobald Esken das Wort ergreift. Selbst ihr Heimatverband Baden-Württemberg nominierte Esken nicht mehr für den Parteivorsitz.
Besonders bitter für die 63-Jährige: Keiner aus der SPD-Spitze stellt sich aktuell öffentlich hinter sie. Auch Klingbeil verhält sich auffällig zurückhaltend.
Doch Esken ist aus anderem Holz, so scheint es: Sie trotzt dem Sturm der eigenen Truppen, bringt sich trotz massiver Zweifel an ihr als Ministerin im Merz-Kabinett ins Spiel. Ihren Co-Vorsitzenden stürzt sie damit in ein Dilemma: Denn Klingbeils innerparteiliche Machtstrategie setzt auf Dialog und Ausgleich. Damit verschaffte er sich Respekt auch bei parteiinternen Gegnern, zementierte so letztlich seinen Aufstieg bis ganz nach oben in der SPD.
Doch seine Methode, die ihm bisher Erfolg sicherte, könnte nun an Grenzen stoßen. Klingbeil steht vor einem klassischen Dilemma: Gibt er klein bei und versorgt Esken mit einem Ressortposten (im Gespräch ist das Entwicklungsministerium), könnte ihm das als Schwäche ausgelegt werden. Auch müsste er für künftige Esken-Ausfälle haften, denn dann wäre er es gewesen, der sie ins Kabinett geholt hätte. Als neuer starker Mann der SPD und möglicher Kanzlerkandidat 2029 hat er zudem ein ureigenes Interesse daran, dass seine Minister liefern. Bei Esken sind zumindest Zweifel angebracht.
Ein Politikertypus, der Klingbeil nie sein wollte
Doch auch die andere Option hat ihre Tücken: Serviert Klingbeil Esken ab, bricht er mit seiner Erfolgsstrategie des fairen Miteinanders. Klingbeil könnte plötzlich als kalter Machtpolitiker dastehen, eine Art zweiter Olaf Scholz, also ein Politikertypus, der er nie sein wollte.
Hinzu kommt: Klingbeil kann schwer erklären, warum Esken für das schlechte Abschneiden bei der Wahl alleine verantwortlich sein soll, während er Vizekanzler wird. Ein Argument, das etwa SPD-Linke gegen Klingbeil ins Feld führen. "Der eine vergrößert seine Macht und die Frau an der Spitze wird abgesägt", sagte etwa der bayerische Juso-Chef Benedict Lang kürzlich der "Süddeutschen Zeitung".
Nach t-online-Informationen sucht Klingbeil nach einer Lösung, die Esken den Gesichtsverlust erspart und die Partei nicht spaltet. Neben einem – eher unwahrscheinlichen – Verbleib an der Parteispitze oder einem Ministeramt könnte das ein Posten sein, der unterhalb von Parteivorsitz oder Kabinett liegt. Ob Saskia Esken das als gesichtswahrende Lösung wahrnimmt, ist eine andere Frage.
Merz setzt Klingbeil unter Zugzwang
Doch auch jenseits der Esken-Falle wird es für Klingbeil nicht einfach. Wer die übrigen Ministerposten übernimmt, ist ebenso unklar wie die Frage, wer die SPD-Fraktion künftig durch stürmische Zeiten führen und die Kanzlermehrheit mit absichern soll. Fast täglich erklären aktuelle SPD-Minister und -ministerinnen, wie gerne sie weitermachen würden – während ambitionierte Jungpolitiker intern auf mehr Verantwortung drängen.
Ausgerechnet CDU-Chef Merz hat die Lage für seinen wahrscheinlich künftigen Vizekanzler Klingbeil erschwert. Der 69-Jährige, von den Genossen gerne als Mann von gestern belächelt, hat beim Verteilen seiner Kabinettsposten Mut bewiesen, holte Polit-Außenseiter in sein Kabinett, statt Parteifreunde zu versorgen. Und nahm dafür parteiinternen Groll in Kauf.
Drohende Entzauberung
Klingbeil steht damit unter Zugzwang: Folgt er nun vor allem den Spielregeln des Parteibetriebs, also Regionalproporz, Parität und Eigene-Leute-Versorgen, stände er schlimmstenfalls als Zauderer da, der es allen recht machen will, aber sich wenig traut. Sein Versprechen der Erneuerung wäre angekratzt, vielleicht entzaubert.
Klar ist: Viel Zeit kann Klingbeil sich nicht mehr lassen. Der SPD-Chef hat schon einmal zu lange gewartet. Im Machtkampf um die K-Frage vergangenen Herbst ließ er die SPD-Debatte um einen Kanzlerkandidaten Boris Pistorius lange laufen. Am Ende waren alle beschädigt, auch Klingbeils Autorität als Parteichef litt darunter. Zu zögerlich, nicht durchsetzungsstark, hieß es hinterher von manchen Genossen.
Die Frist ist diesmal ohnehin gesetzt: Am 6. Mai ist die Kanzlerwahl, am Tag zuvor will die SPD ihr gesamtes Personaltableau bekannt geben. Auch die politische Zukunft von Saskia Esken wird dann feststehen.
- Eigene Recherche