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Matthias Platzek und Carsten Schneider: Brauchen Politik des „Vorsprungs Ost“


Was uns alle der Bau der Berliner Mauer noch heute lehrt

Von Matthias Platzeck, Carsten Schneider (SPD)

Aktualisiert am 13.08.2021Lesedauer: 4 Min.
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Bau vor 60 Jahren: Historische Aufnahmen zeigen, wie die Mauer zwischen Ost und West entstand – und schließlich fiel. (Quelle: t-online)

60 Jahre ist der Bau der Berliner Mauer inzwischen her. Doch noch immer können wir aus dem historischen Ereignis sehr viel lernen.

Die Nacht vom 13. August 1961 ist bis heute vielen Menschen sehr genau im Gedächtnis. Einmal quer durch Berlin wurde Stacheldraht ausgerollt, Menschen versuchten, noch schnell aus Fenstern zu springen, bevor diese zugemauert wurden, eine erste provisorische Mauer wurde Stein um Stein hochgezogen.

Mit der Mauer in Berlin wurde in jener Nacht nicht nur eine Stadt geteilt. Geteilt wurden Ost- und Westdeutschland, endgültig geteilt wurden auch Ost- und Westeuropa. Familien wurden auseinandergerissen, Freunde sahen sich häufig über viele Jahre nicht wieder. Gemeinsam arbeiten, leben, lieben, streiten – alles, was vollkommen normal ist in freien Gesellschaften, fand von einem auf den anderen Tag nicht mehr statt.

Zwei Generationen später gedenken wir des Mauerbaus, gedenken wir der vielen Menschen, die in Deutschland bei dem Versuch starben, den Stacheldraht und die Selbstschussanlagen zu überwinden – einfach nur, weil sie unbeschwert leben wollten, weil sie eben nicht eingemauert sein wollten.

Was ist wichtig für die Zukunft?

Nach 1961 wuchs in Deutschland eine ganze Generation mit der Mauer auf. Eine weitere Generation ist seit dem 9. November 1989 ohne Mauer aufgewachsen. Und deshalb muss der Blick zurück auf den 13. August heute eben auch nach vorn gehen: Was ist wichtig für die Zukunft, welche Lehren können wir ziehen?

Matthias Platzeck ist Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und ehemaliger Ministerpräsident Brandenburgs. Er war auch kurze Zeit SPD-Chef. Carsten Schneider ist Bundestagsabgeordneter aus Thüringen und Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.

Nach dem Mauerbau brauchte es über zwei Jahre, bis sich Menschen in Berlin wiedersehen konnten, die bis zum 13. August 1961 Verwandte, Nachbarn und Freunde waren. So lange brauchten die Verhandlungen für das erste Passierscheinabkommen. Für Willy Brandt, den damaligen Regierenden Bürgermeister von (West-)Berlin, war dies ein Kraftakt und gleichzeitig eine erste „Fingerübung“ für das, was später die „neue Ostpolitik“ werden sollte.

Die bestand darin, beharrlich zuzuhören, hart zu verhandeln, Verständnis für andere aufzubringen und das Leben für die Menschen ein bisschen erträglicher zu machen – und zwar auch dann, wenn man nicht immer einer Meinung war, wenn man gänzlich unterschiedlich auf die Welt sah.

Ausgleich mit Russland und Osteuropa

Dazu gehörte auch, wie Brandts Vertrauter Egon Bahr es ausdrückte, sich in schwierigen Zeiten auf die Punkte zu konzentrieren, die lösbar waren und diejenigen zur Seite zu packen, wo zunächst keine Einigung möglich ist. Heute brauchen wir wieder mehr von diesen Fähigkeiten zum Dialog und Ausgleich – mit Russland und anderen osteuropäischen Staaten.

Das heißt nicht, alles gut zu finden, was in diesen Ländern passiert, überhaupt keine Frage. Aber miteinander reden, zu verhindern, dass es erneut zu einem gefährlichen Bruch zwischen Ost- und Westeuropa kommt – das ist eine der wichtigsten Lehren aus den Ergebnissen des 13. August 1961.

Mauern mögen nicht ewig halten. Ihre emotionalen, mentalen, ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind jedoch enorm. Und wie wir in Deutschland wissen, sind sie selbst 60 Jahre später noch zu spüren, halten sie länger an, als die Mauer selbst stand. Deshalb ist die zweite Lehre aus der deutschen Teilung: Wir müssen mehr miteinander reden, uns in Deutschland und Europa unsere Geschichte und Geschichten erzählen.

Wir brauchen ein "Zukunftszentrum"

Zu wenig wurde in den vergangenen Jahren darauf geachtet, dass ostdeutsche Sichtweisen und Erfahrungen im vereinten Deutschland angemessen vorkommen. Die DDR bestand nicht nur aus SED, Stasi und Stacheldraht, die drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall waren nicht nur eine einzige Erfolgsgeschichte von Aufbau und Aufbruch, für viele Menschen waren sie auch eine große Zeit allumfassender Veränderung und mancher Enttäuschung.

Die überparteiliche Einheitskommission hat vor kurzen den klugen Vorschlag unterbreitet, ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Transformation“ einzurichten.

Genau einen solchen Ort brauchen wir heute, wo die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden, damit wir die Aufgaben der Zukunft besser meistern können. Ein Ort, wo gestritten und diskutiert wird. Ein Ort, wo wir besser verstehen lernen, was Gesellschaften heute zusammenhält und nicht auseinandertreibt. Ein Ort, wo neue Ideen entstehen, wie wir Transformationen unserer Gesellschaften menschengerechter machen. Und zwar unabhängig davon, ob sie in West- oder Ostdeutschland, Ost- oder Westeuropa liegen.

Denn nichts ist kostspieliger für unsere Gesellschaften, als wenn Menschen getrennt und abgeschottet voneinander und nebeneinander leben.

Und das führt uns zur dritten Lehre: Es geht um gleichwertige Lebensverhältnisse. Es ist kein befriedigender Zustand, wenn man auf Karten, die die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in Deutschland abbilden, die Umrisse der alten DDR noch erkennen kann. Ziel muss es sein, strukturelle Nachteile nachhaltig zu überwinden.

Das bedeutet, dass benachteiligte Regionen – sei es, weil sie dünn besiedelt sind, sei es weil sie über eine hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen verfügen, sei es, weil die Vermögensverhältnisse dort besonders unterdurchschnittlich ausgeprägt sind – zusätzliche Unterstützung bekommen. Denn bisher profitieren in Deutschland von Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen besonders diejenigen Regionen, die ohnehin schon viel haben. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden.

Der bisherige Aufbau Ost war in Wahrheit eher ein „Nachbau West“. Er muss abgelöst werden durch eine Politik des „Vorsprungs Ost“, so dass die neuen Länder in zentralen Zukunftsfragen wie Elektromobilität, Digitalisierung oder Energiewende zum Vorbild für ganz Deutschland werden. Dafür braucht es eine stärkere staatliche Innovations- und Investitionspolitik – gerade für Regionen, die bisher benachteiligt waren.

Und es bedeutet auch, dass Ostdeutsche besser in Führungspositionen von Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Medien vertreten sein müssen. All dies wird am Ende auch dazu beitragen, dass der bisweilen gerade in den neuen Ländern schon verschüttete Glauben an die Demokratie, ihre Institutionen und ihre Fähigkeit Probleme zu lösen, gewinnen werden.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.

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