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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mauerbau vor 60 Jahren Wie drei Brüder die DDR-Grenzsoldaten austricksten
Vor 60 Jahren sperrte die DDR mit der Berliner Mauer ihre Bürger endgültig ein. Doch in spektakulären Fluchten entkamen manche Menschen dem "Arbeiter-und-Bauern-Staat". Eine Auswahl.
Am Abend des 5. Dezember 1961 traut ein Trupp von DDR-Grenzsoldaten seinen Augen kaum. Unter Volldampf rast ein Zug auf die bestens gesicherte Grenze nach Berlin-Spandau zu – und macht keinerlei Anstalten, rechtzeitig zum Halten zu kommen. Wenig später kracht es, die Lok durchbricht die Sperren. Kein Wunder, sie wiegt mehr als 100 Tonnen und verfügt über eine Leistung von rund 1.100 Pferdestärken.
Was geschieht, ist kein Eisenbahnunglück, sondern wohlkalkuliert. Der Großteil der Fahrgäste ist entsprechend vorbereitet. Sie haben sich auf den Boden der Waggons ausgestreckt, Lokführer und Heizer vorn im Kohlentender verborgen. Alles für den Fall, dass die Grenzsoldaten das Feuer auf den Zug in die Freiheit eröffnen. Denn genau darum handelt es sich.
Stillstand erst in West-Berlin
Lokführer Harry Deterling, 27 Jahre alt, hat die Aktion geplant. Wohl wissend, dass nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 auch dieses Schlupfloch auf Schienen nach West-Berlin bald geschlossen werden sollte. Als sein Zug am folgenden 5. Dezember quietschend zum Stehen kommt, befindet er sich in Sicherheit. Zusammen mit seiner Frau und den vier Kindern ist Deterling nun ein freier Mann, genau wie 21 andere Flüchtlinge, die mitgefahren sind.
Während die Teilnehmer der spektakulären Flucht am nächsten Tag erst einmal die dramatischen Ereignisse verarbeiten, werden auf DDR-Seite die Schienen demontiert, auf denen der Zug nach Westen gerollt war. Denn der Eiserne Vorhang sollte nach Willen der SED eisern bleiben.
Er war es aber nicht. Denn immer wieder suchten und fanden DDR-Bürger unter Lebensgefahr den Weg heraus aus der DDR gen Westen. Daran konnte auch die Mauer, die Berlin 28 Jahre teilte, nichts ändern. Bodo Müller, selbst einst in der DDR wegen versuchter "Republikflucht" inhaftiert, schildert in seinem Buch "Faszination Freiheit" einige der spektakulärsten Fluchtgeschichten.
Per Aqua-Scooter in die Freiheit
Im Schutz der Dunkelheit geht Bernd Böttger am 8. September 1968 in das Wasser der Ostsee. Die See ist rau, doch einen Weg zurück gibt es nicht. Denn der gebürtige Sebnitzer will an diesem Tag aus der DDR fliehen. Und das auf äußerst findige Art.
Einen Aqua-Scooter hat der Tüftler entwickelt, eine Art motorgetriebenen Schlitten fürs Wasser. Dieser zieht Böttger bald durch die Ostsee, etwas unterhalb der Oberfläche. Zum Schutz vor der Entdeckung durch die DDR-Grenzer. Böttger weiß um die Gefahr, war bereits nach einem früheren Fluchtversuch inhaftiert worden.
Doch dieses Mal geht alles gut, ein passierendes DDR-Patrouillenboot wird nicht auf ihn aufmerksam. Immer näher kommt Böttger seinem Ziel Dänemark. Und er hat noch mehr Glück: Lange vor dem Festland trifft er auf die "Gedser Rev", ein dänisches Feuerschiff. Böttger ist in Sicherheit.
Der Tunnel in die Freiheit
Schwerstarbeit wird seit April 1964 in einer früheren Bäckerei in der Bernauer Straße in West-Berlin betrieben. Oder besser gesagt: unterhalb der Bäckerei. Denn dort treiben fast drei Dutzend Studenten einen Tunnel Richtung DDR voran. Die Männer wollen nicht rein in den Arbeiter-und-Bauern-Staat, sie wollen Menschen herausholen.
Der Keller des Hauses Strelitzer Straße 55 ist das Ziel aller Bemühungen. Doch so ganz zielsicher sind die Fluchthelfer nicht, letzten Endes erreichen sie das Ex-Toilettenhaus des Gebäudes. Es ist der 2. Oktober 1964. Rund 140 Meter haben sich die Männer durch das Erdreich gequält.
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Am 3. Oktober treffen vorher verständigte fluchtwillige DDR-Bürger beim Tunnel ein. In einer ersten Aktion werden 28 Menschen unterhalb der Grenze in die Freiheit geschleust. Einen Tag später soll es weitergehen. Doch ein Spitzel verrät die Aktion, DDR-Grenzer und Stasi-Leute erscheinen in der Strelitzer Straße 55. Schüsse fallen, ein Grenzer stirbt. Den Fluchthelfern gelingt selbst die Flucht durch den Tunnel, 57 Menschen hat das Bauwerk die Freiheit ermöglicht.
Der Bus, der zum Panzer wurde
Kugeln prasseln am 26. Dezember 1962 beim Grenzübergang Drewitz/Dreilinden auf einen Bus ein. Schaden richten sie allerdings kaum an. Denn mit viel Zeit und Aufwand haben zwei der Insassen das Fahrzeug gepanzert. Neun Millimeter dicke Stahlplatten schirmen es ab, selbst die Reifen sind mit Metall gegen Schüsse geschützt. Ein Rammsporn vorne hilft dabei, die insgesamt drei Schlagbäume zu durchbrechen, die dem rasenden Bus auf seinem Weg nach West-Berlin im Wege stehen.
Hans Weidner heißt der Eigentümer des Busses, am Steuer sitzt der Fahrer Jürgen Wagner, an Bord befinden sich auch ihre Frauen und Kinder. Weidner, ein Kriegsinvalide mit nur einem Bein, ist eigentlich ein tüchtiger Unternehmer – womit er in der DDR definitiv fehl am Platz war. Als ihm die Verstaatlichung seiner kleinen Firma droht, beschloss er, mithilfe seines bald stattlich gepanzerten Busses zu fliehen.
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Zuvor hatte Weidner, der einst selbst an Bord eines Panzers gedient hatte, erkundet, welcher Grenzübergang für den Durchbruch gen Westen am besten geeignet ist. Drewitz/Dreilinden bot sich an wegen der langen Piste, auf der der Bus auf Touren kommen konnte. Der Fluchtversuch war ein Erfolg, das Ende des Weihnachtsfestes erlebten die Familien dann bereits in West-Berlin.
Drei Brüder zeigen es Erich Honecker
Ingo Bethke war der Erste. Im Frühjahr 1975 überwand er Todesstreifen und Elbe, Ersteren mit viel Glück, Letztere mithilfe einer Luftmatratze. Holger Bethke war der Zweite. Per Stahlseil und Rollen sauste er acht Jahre nach Ingos Flucht von einem Haus in Ost-Berlin in den Westen hinüber. Fehlte nur noch Egbert, der dritte der drei Brüder Bethke.
Aus diesem Grund erwarben die zwei Geschwister im Westen 1987 einen Ultraleichtflieger – und lernten, damit umzugehen. Zwei Jahre später ist es nach viel Geld und Zeit so weit: In den frühen Morgenstunden des 26. Mai heben die beiden Bethkes in zwei kleinen Fliegern ab. Auf dem Luftweg geht es zurück in die DDR. Der Treptower Park ist das Ziel, dort wartet der dritte Bruder Egbert. Ingo Bethke landet, hurtig steigt Egbert zu, noch schneller ist die Maschine wieder in der Luft und fliegt Richtung West-Berlin.
Die Himmels- und Grenzstürmer fühlen sich vor einem Beschuss durch die DDR-Grenzer relativ sicher, denn ihre Fluggeräte sind mit Hoheitszeichen der Sowjets versehen. So verläuft die Rückreise problemlos. Als Landebahn haben sich die Brüder dann etwas ganz Besonderes ausgesucht: Sie kehren vor dem Gebäude des Reichstages auf die Erde zurück.
Flugzeugentführung, Schüsse am Kanal und Flucht per Ballon
Todesmutig wagten im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Menschen die Flucht aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat. Wer unversehrt den Westen erreichte, gehörte zu den Glücklichen. Denn die Unmenschlichkeit des DDR-Regimes forderte zahlreiche Opfer. Grenzer erschossen Menschen an der Mauer, andere Flüchtlinge ertranken, etwa in der Ostsee. So unbarmherzig die SED die Bevölkerung einsperrte, so einfallsreich suchten die Menschen Auswege.
Knapp 30 Minuten Flugzeit benötigten 1979 etwa zwei Familien bei ihrer abenteuerlichen Flucht per Ballon von Thüringen nach Bayern, 1978 hatte bereits ein Ost-Berliner namens Detlef Tiede aus Verzweiflung einen polnischen Flieger nach West-Berlin entführt. Die ganze Grausamkeit an Mauer und deutsch-deutscher Grenze kristallisiert sich allerdings besonders im Fall des Wilfried Tews heraus.
Mehr als 100 Schüsse gaben DDR-Grenzsoldaten im Mai 1962 auf den Schüler ab, als er den Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal durchschwamm. Der 14-Jährige wurde dabei mehrmals angeschossen. Gerettet wurde Tews nur, weil wiederum West-Berliner Polizisten das Feuer eröffneten. Der DDR-Grenzer Peter Göring kam dabei ums Leben.
- Eigene Recherche
- Bodo Müller: Faszination Freiheit. Die spektakulärsten Fluchtgeschichten, 7. Auflage, Berlin 2019