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Corona-Gipfel: Wird es wieder einen Lockdown in Deutschland geben?


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Tagesanbruch
Zeit für den "Inzidenzwert plus"

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 29.07.2021Lesedauer: 5 Min.
Fußballfan in London beim verschossenen EM-Elfmeter: Das Turnier sorgte vermutlich für hohe Inzidenzen. Die Bundesregierung sucht nach Alternativen zum britischen Weg.Vergrößern des Bildes
Fußballfan in London beim verschossenen EM-Elfmeter: Das Turnier sorgte vermutlich für hohe Inzidenzen. Die Bundesregierung sucht nach Alternativen zum britischen Weg. (Quelle: Ian Stephen/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

er bestimmt seit mehr als einem Jahr unsere Freiheiten, unseren Alltag, unser Leben: der Inzidenzwert. Doch dieser Wert steht als politisches Messinstrument jetzt auf der Kippe. Das ist gut so – aber das birgt auch erhebliche Gefahren, die es einzudämmen gilt.

Am 10. August treffen sich Bund und Länder zum vorgezogenen Corona-Gipfel. Die größte und komplexeste Frage, über die die Bundesregierung und die 16 Länderchefs dann diskutieren, wird sein: Nach welchem System will Deutschland in Zukunft die Gefahren messen, die vom Coronavirus ausgehen? Wird es wieder einen Lockdown geben – und wenn ja, wann?

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Bereits jetzt ist ein Streit zwischen Bundesgesundheitsministerium und Robert Koch-Institut (RKI) entbrannt, den beiden in der Pandemie tonangebenden Institutionen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will weg vom Inzidenzwert als alleinentscheidendem Kriterium, RKI-Präsident Lothar Wieler will daran festhalten. Wie sich Bund und Länder zu der Frage verhalten, soll Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) bei Beratungen bereits als "Richtungsentscheidung" bezeichnet haben. Wie also soll es für uns weitergehen in dieser Pandemie?

Vieles spricht dafür, dass Deutschland sich vom Inzidenzwert als alleiniger Richtschnur löst. Schon immer galt bei diesem Wert: Wer viel testet, findet viel. Und umgekehrt: Wer wenig testet, findet wenig. Das macht den Inzidenzwert stark von den Testregeln der Länder, vom Verhalten der Bürger sowie der Arbeitsweise von Laboren und Gesundheitsämtern abhängig.

Ein Beispiel: Zuletzt schossen kurz nach der Fußball-EM in Großbritannien die Infektionszahlen rasant in die Höhe, England hob dennoch alle Corona-Restriktionen auf, feierte den "Freedom Day". Die Inzidenz kletterte auf rund 500, 1,7 Millionen Briten mussten sich in Selbstisolation begeben. Dann aber stoppte der Trend plötzlich, die Zahlen fielen bis gestern. Vielleicht liegt das am Ende der Fußball-EM, am vorsichtigeren Verhalten der Bürger – vielleicht aber auch daran, dass die Testrate jüngst gesunken ist. Abschließend ist der Fall noch nicht geklärt, Experten beobachten die Lage weiterhin. Mein Kollege David Schafbuch hat sie hier genauer analysiert.

Beispiel zwei: In den Ferien und besonders über große Feiertage wie Ostern, Weihnachten und Silvester arbeiten deutsche Gesundheitsämter und Labore mit stark unterschiedlicher Besetzung. Einige arbeiten durch, andere nehmen ganz frei. Aus letzteren Ämtern werden dann auch keine Infektionszahlen gemeldet, die Inzidenz kann zwangsläufig nicht steigen – dieser Wert aber ist der Bürokratie geschuldet, nicht der Realität.

Ein niedriger Inzidenzwert kann also falsche Sicherheit vermitteln – und ein hoher in Zukunft falsche Panik verbreiten. Denn worauf die Briten beim "Freedom Day" setzten, darauf hofft die ganze Welt: dass sich dank Impfungen die Zahl der Corona-Infektionen von den Belegungszahlen auf den Krankenstationen entkoppelt. Erstmals würde dann in dieser Pandemie nicht mehr das Corona-Gesetz gelten, dass auf hohe Infektionszahlen eine massive Belastung für die Krankenhäuser folgt – mit vielen Schwerkranken und Toten.

Doch die Rufe nach einer vollkommenen Abkehr vom Inzidenzwert sind mit Vorsicht zu genießen. Allzu oft verstecken sich dahinter jene, die der Wirtschaft zuliebe schon früher alle Restriktionen aufheben wollten und den Johnson-Kurs verfolgen: Zurück zur Normalität – seien die Folgen auch noch so undurchschaubar.

Nach wie vor gilt: Kinder und Jugendliche sind größtenteils nicht geimpft. Mögen die Krankheitsverläufe bei ihnen auch milder ausfallen, so warnen Intensivmediziner doch: Auch jüngere Menschen geben das Virus weiter, auch sie landen mit Corona auf der Intensivstation, auch sie können Langzeitschäden davontragen, die wir jetzt noch nicht vollständig begreifen.

Hinzu kommt, dass immer noch jene Gruppen besonders gefährdet sind, die wir mit Lockdowns und massiven Maßnahmen in dieser Krise die ganze Zeit schon schützen. Ältere Menschen, Krebs- und Rheumapatienten beispielsweise bauen auch nach einer vollständigen Impfung oft nur einen geringen Immunschutz auf. Der Chef der Ständigen Impfkommission warnte im Juni: "Wir müssen davon ausgehen, dass es nicht nur Einzelfälle sind."

Nach anderthalb Jahren Beschränkungen, Geduld und Solidarität wäre es fatal, die Schwächsten und Jüngsten jetzt im Stich zu lassen und der Durchseuchung zum Fraß vorzuwerfen. Ihre Freiheit und Gesundheit ist derzeit davon abhängig, dass ihre Umgebung gut durchgeimpft ist – oder das Risiko einer Infektion dank niedriger Inzidenzen eben gering ist. Den Wert zu messen und eng zu verfolgen, ist Voraussetzung, um ihn niedrig zu halten.

Solange Deutschland durch Impfungen nicht weitgehend geschützt ist, wird bei der Frage "Inzidenzwert oder nicht?" deswegen wohl nur ein Kompromiss bleiben. Das aber tut nicht weh. Deutschland ist im Finden von Kompromissen bestens erprobt, die Bundeskanzlerin darin eine Meisterin. Und was manchmal nach Wischiwaschi klingt, wird nun am ehesten der schwer einschätzbaren Phase der Pandemie gerecht, in der wir uns befinden. Ein Dazwischen. Ein Sowohl-als-auch. Ein "Inzidenzwert plus".

Einzelne Ministerpräsidenten haben in die Richtung schon vorgearbeitet, sie haben für ihre Länder auf eigene Faust bereits einen "Inzidenzwert plus" entworfen. Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel folgt einem eigenen Warnsystem: Der Inzidenzwert spielt hierbei weiterhin die größte Rolle, wird aber flankiert vom Wert der Covid-19-Patienten in stationärer Behandlung sowie der Zahl der Patienten auf Intensivstationen. Die Inzidenz bestimmt den Grundalarm, je nach Auslastung der Krankenhäuser wird die Warnstufe erhöht oder abgesenkt.

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Das Beispiel zeigt: Es könnte jetzt kompliziert werden. Die Ampelsysteme warnen auf Grundlage mehrerer Faktoren in mehreren Stufen. Medien und Politik wären umso stärker gefragt, ein so kompliziertes System zu vermitteln. Und die Bürger müssten einen – hoffentlich letzten – Kraftakt leisten: den Abschied vom geliebt-verhassten Begleiter Inzidenzwert, hin zu einer neuen Regelung.


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Was amüsiert mich?

Wenn Gerichte wie im Cum-Ex-Fall klarstellen, was eine "Steuerlücke" und was "Steuerbetrug" ist.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen kommentiert an dieser Stelle mein Kollege Florian Wichert für Sie.

Ihre

Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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