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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rätsel um die Delta-Variante Haben diese Länder die nächste Welle schon gebrochen?
Während in Deutschland die Infektionszahlen wieder langsam steigen, konnten andere Länder den Trend stoppen – die Ursachen sind allerdings sehr unterschiedlich. Ein Überblick.
"Die vierte Welle hat begonnen": So schätzt zumindest das Robert Koch-Institut die aktuelle Corona-Lage in Deutschland laut eines internen Papiers ein. Die Zahl der Neuinfektionen geht in Deutschland in jedem Fall wieder nach oben, obwohl die Zahlen bei steigenden Impfungen an Aussagekraft verlieren. Am Mittwoch lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei 15, Anfang Juli betrug der Wert noch 4,9. Insgesamt meldeten die Gesundheitsämter dem Institut 2.768 neue Corona-Fälle binnen eines Tages.
Wer die Zahlen mit denen anderer europäischer Länder vergleicht, sieht im Moment ein gemischtes Bild. Während etwa in Frankreich und Spanien die Fälle noch schneller ansteigen, wirkt es in den Niederlanden und Großbritannien so, als sei die Delta-Welle dort bereits überstanden. Kann Deutschland aus den beiden Ländern etwas für die eigene Corona-Politik lernen?
Großbritannien
Ausgangslage: Vom Schock durch die Alpha-Variante, die erstmals um den Jahreswechsel auf der Insel auftrat, hatte sich Großbritannien bis Mitte Mai erholt. Die Inzidenz lag damals mit 16 auf einem ähnlichen Niveau wie aktuell in Deutschland. Die Impfkampagne lief deutlich schneller an als in vielen anderen europäischen Ländern.
Dennoch kam es ab der zweiten Mai-Hälfte zu einem starken Anstieg bei den Infektionen: Früher als in anderen Ländern verbreitete sich die Delta-Variante, gleichzeitig stockte die Impfkampagne. Dadurch schoss die Inzidenz bis zur vergangenen Woche auf 492. Doch mittlerweile entspannt sich die Lage wieder: Zwar wurden am Mittwoch noch immer 23.511 Neuinfektionen gemeldet, allerdings gehen die Fallzahlen auf hohem Niveau zurück. Mittlerweile liegt die Inzidenz bei 338.
Ursachen für den Rückgang: Darüber zerbrechen sich viele Wissenschaftler aktuell den Kopf. Abgesehen von Faktoren wie den sommerlichen Temperaturen ist es wahrscheinlich, dass es nicht den einen auschlaggebenden Grund für die fallenden Zahlen gibt, sondern mehrere Faktoren.
Zurzeit befinden sich alle Schüler in England, aber auch in Schottland und Wales in den Sommerferien. Es wird vermutet, dass die reduzierten Kontakte ein Grund für die niedrigeren Zahlen sein könnten. Zuletzt hatten sich vor allem Jüngere mit dem Virus infiziert. Da allerdings mit geschlossenen Schulen auch weniger Tests vorgenommen werden, ist es auch denkbar, dass viele Infektionen gerade nicht erkannt werden.
Ein weiterer Grund für den Rückgang könnte das Ende der Fußball-Europameisterschaft sein. Großbritannien richtete nicht nur die meisten Spiele aus (acht Partien in London, vier in Glasgow), sondern war mit England auch noch bis zum Ende des Turniers vertreten. Laut dem "Guardian" konnte während des Turniers ein deutlicher Anstieg von Infektionen bei Männern im Alter von 15 bis 44 verzeichnet werden. Dieser Trend ist seit dem Ende der EM gestoppt. Der Anstieg könnte dabei weniger durch die Fans in den Stadien und Fanmeilen, sondern durch viele Treffen in Pubs und Privatwohnungen verursacht worden sein.
Die steigenden Zahlen hatten zuletzt auch zu einer Vielzahl an Risikobegegnungen geführt. Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen waren deshalb in der vergangenen Woche in Selbstisolation. Dadurch könnten viele Infektionsketten unterbrochen worden sein. Auf der anderen Seite berichtete der "Guardian", dass bereits 20 Prozent der Erwachsenen die Corona-App des Gesundheitsdienstes NHS möglicherweise gelöscht haben. Sie gibt nach Kontakten mit Infizierten eine Warnmeldung ab.
Die Corona-Maßnahmen der britischen Regierung hatten in jedem Fall keinen Einfluss auf die fallenden Zahlen. Denn verschärft wurde nicht, im Gegenteil. Premierminister Boris Johnson hob am 19. Juli – dem sogenannten "Freedom Day" – nahezu alle Beschränkungen für England auf.
Fazit: Es ist fraglich, ob der Abwärtstrend in Großbritannien von Dauer ist. Durch Schulferien und möglicherweise lückenhaftere Nachverfolgung bleiben wohl viele Infektionen unentdeckt. Zudem lässt sich der Effekt des "Freedom Day" wohl erst ab der kommenden Woche einschätzen.
Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Toten ist außerdem nicht rückläufig, auch wenn sie auf einem viel niedrigeren Niveau als vor der Impfkampagne liegt. Graham Medley, Modellierer an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, sagte dem "Guardian", er halte ein Auf und Ab der Zahlen in den kommenden Monaten für wahrscheinlich.
Niederlande
Ausgangslage: Noch vor einem Monat hatte das deutsche Nachbarland die Infektionen im Griff. Ende Juni hatten sich die täglichen Ansteckungen zwischen 500 und 600 eingependelt.
Ähnlich wie in Großbritannien ließ der niederländische Premier Mark Rutte dann eine Vielzahl von Lockerungen zu: Unter anderem wurde die Maskenpflicht größtenteils aufgehoben, genauso wie Kontaktbeschränkungen oder die Sperrstunde, auch Clubs und Discotheken durften wieder öffnen. Nur wenige Tage später war der Abwärtstrend beendet. Zwischenzeitlich infizierten sich mehr als 10.000 Niederländer pro Tag mit dem Virus, die Inzidenz kletterte auf 415.
Seit einer Woche gehen die Zahlen wieder nach unten: Etwa 37.000 Infizierte registrierte das Land in den vergangenen sieben Tagen, ein Rückgang von fast 46 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Auch die Inzidenz hat sich mit 215 fast halbiert. Unberührt vom zwischenzeitlichen Anstieg der Infektionszahlen blieb dagegen der Abwärtstrend bei den Verstorbenen: Mittlerweile werden pro Tag kaum noch Corona-Tote vermeldet.
Ursachen für den Rückgang: Anders als Großbritannien kassierte die niederländische Regierung einige Lockerungen wieder ein. Clubs und Diskotheken mussten erneut schließen, auch größere Konzerte und Festivals wurden verboten. Für Kultur- und Sportveranstaltungen wurde eine Reservierungspflicht eingeführt. Gleiches gilt für die Gastronomie, die erneut eine Sperrstunde erhielt.
Fazit: Die Niederlande kassierten mehrere Maßnahmen schnell wieder ein, die Ansteckungen begünstigt hatten. Da die neuen Regeln noch bis Mitte August gelten, könnte sich der Trend weiter fortsetzen. Bis dahin könnten auch die Einweisungen in den Krankenhäusern zurückgehen, die aktuell weiter steigen.
- Eigene Recherchen
- Nachrichtenagentur dpa und AFP
- Gov.uk: "Cases in the UK"
- Guardian: "What is behind the latest fall in Cases of Covid across the UK?" (englisch)
- Guardian: "About 20% of the UK adults have deleted NHS Covid app, poll suggests" (englisch)
- Rijksoverheid: "Current situation in the Netherlands" (englisch)
- Rijksoverheid: "Snelle toename besmettingen dwingt tot maatregelen in de zomer" (niederländisch)