Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Die deutsche Art, mit Corona umzugehen
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages, heute stellvertretend für Florian Harms.
WAS WAR?
Vor etlichen Jahren traf ich im kalifornischen Palo Alto einen Zukunftsforscher am Institute for the Future. Ich war als Journalist zu Besuch im Silicon Valley. Mike Liebhold arbeitet dort, in unmittelbarer Nähe zur Stanford University, zu Firmen wie Google, Facebook und Apple. Orten, an denen das Morgen erdacht wird.
Ich dachte, der Mann kann mir die Zukunft erklären.
Oberflächlich betrachtet war die Begegnung eine Enttäuschung. Liebhold erklärte mir, es sei schon schwierig für einen Zukunftsforscher, fünf Jahre in die Zukunft zu blicken. Zehn Jahre seien ein echtes Wagnis. Zwanzig Jahre völlig unmöglich und vermessen. Ein Zukunftsforscher, der die Zukunft nicht beschreibt? Im Gegenteil. Das Gesagte war eher gespielte Bescheidenheit. Liebhold sagte zum Beispiel: Zukunft entstehe, weil sie jeden Tag von uns kreiert werde. Wie unsere Zukunft aussieht, hänge vor allem von denen ab, die sie aktiv gestalten. Die über das Morgen mehr nachdenken als über das Heute.
Embed
Uns Deutschen wird nachgesagt, dass wir detailverliebte Arbeiter und kluge Denker sind. Zugespitzt formuliert: Autos bauen wir mit Präzision, leidenschaftlich diskutieren wir aktuelle politische Probleme. Aus diesem Mix schöpft unsere Gesellschaft eine große schöpferische Kraft. Die Zukunft sehen wir allerdings oft skeptisch: Gentechnik, Globalisierung, Kernfusion, Impfstoffe. Wir sehen erst die Gefahren und Risiken, dann die Chancen. Das ist natürlich eine holzschnittartige Beschreibung.
Zukunftsforscher Liebhold erklärte mir im Gespräch, darin sehe er einen wesentlichen Unterschied zwischen den USA und Deutschland. In den Staaten werde schnell gehandelt und später über die Folgen nachgedacht. In Deutschland sei das genau umgekehrt. Dort werde erst geplant und diskutiert, dann angepackt. Beides habe Vor- und Nachteile, sagte er.
Jetzt übertragen Sie das mal auf unser Corona-Jahr 2020. Wie haben wir uns da verhalten? Wir haben im Frühjahr nicht lange diskutiert. Die Mehrzahl der Deutschen erkannte sehr schnell, welche Folgen steigende Corona-Fallzahlen haben würden. Gemeinsam gingen wir überzeugt in den ersten Lockdown. Wir fuhren "auf Sicht", eine andere Formulierung für: Da haben wir mal weniger geplant, sondern einfach gemacht. Sehr untypisch. Im Herbst fürchteten wir die Folgen eines neuerlichen Herunterfahrens, lange wurde das Für und Wider abgewogen. Dann wurde sich auf den "Lockdown light" geeinigt, erst Wochen später nachgesteuert. Typisch deutsch? Das Ergebnis erfahren wir jedenfalls jetzt.
Am Ende eines Jahres wie diesem kann man da fragen: Was haben wir gelernt? Wohl so viel wie nie innerhalb so kurzer Zeit.
1. Geschlossenheit hat uns als Gesellschaft sehr schnell handlungsfähig gemacht. Bis heute zweifelt kaum jemand grundsätzlich am ersten Lockdown. Die Mehrheit der Menschen hat vor allem den Aussagen der Wissenschaft vertraut und sich auf das Unbekannte eingelassen. Bis heute ist die Zustimmung zu den Corona-Beschränkungen sehr hoch (siehe Grafik). Was wir lernen konnten: Wir sind in der Lage, als Gesellschaft schnell in großer Einigkeit zu handeln und die Zukunft zu gestalten. Man muss uns nur überzeugen.
2. Die Corona-Lage war und ist ein organisatorischer Kraftakt. Das Ergebnis ist durchwachsen. Zwar haben Kliniken und Ärzte, Politik und Unternehmen recht gut durch die Krise gesteuert. Vieles wurde spontan umorganisiert, schnell beschlossen, solidarisch gehandelt. Aber wir bekommen vieles auch nach Monaten kaum in den Griff. Digitalisierung von Schulen und Gesundheitszentren, Schutz von Alten und Pflegebedürftigen, Unterstützung von Krisenverlierern. Um nur ein paar Dinge zu nennen. Was wir lernen konnten: Wir müssen neuen Herausforderungen mit mehr Ideen und unkonventioneller Denkweise begegnen.
3. Wir organisieren Arbeit und Mobilität neu. In Zahlen ausgedrückt: Vor der Krise haben etwa 40 Prozent der Deutschen gelegentlich im Homeoffice gearbeitet, nun sind es 61 Prozent. Wir sparen uns den Weg zur Arbeit und unsinnige Dienstreisen gleich dazu. Und kämpfen gleichzeitig mit Waschmaschine und Video-Calls, nebenbei womöglich auch noch mit Homeschooling. Heimarbeit macht nicht nur glücklich. Erst vor wenigen Wochen erzählte mir eine Europaparlamentarierin (ebenfalls weitgehend im Homeoffice), es fehle am Austausch auf den Fluren des Europaparlaments. Das mache die politische Arbeit deutlich komplizierter. Was wir lernen konnten: Arbeit lässt sich in Zukunft flexibler organisieren; wir müssen aber noch lernen, was das mit unserer Zufriedenheit, Produktivität und Kreativität macht.
4. Wir entdecken uns selbst als soziales Wesen neu. Wir vermissen den persönlichen Austausch, die kulturelle Inspiration und auch menschliche Nähe. Mehr als 40 Prozent der Deutschen geben an, die Corona-Pandemie habe negative Auswirkungen auf ihre Psyche. Was wir lernen konnten: Im besten Fall schafft die Corona-Pandemie auch eine Besinnung auf uns selbst. Wir könnten mehr miteinander reden, mehr Zeit mit unseren Mitmenschen verbringen.
5. Wir haben viele ganz individuelle Einschnitte in dieser Krise erlebt. Seit nunmehr neun Monaten leben wir mit der Unsicherheit, was unsere eigene Zukunft bringt. Ein Corona-Fall in der Familie? Den eigenen Laden schließen müssen? Wegbleibende Aufträge? Kurzarbeit? Homeschooling? Weniger Reisen und Sport? Mangel an persönlichen Kontakten? Einiges hat jeder von uns ertragen müssen. Doch die meisten haben die Krise erfolgreich ausgestanden. Ich persönlich hätte nicht gedacht, dass wir eine solche Krise so gut meistern. Was wir lernen konnten: Auch wenn nicht alles gut ist, wir können uns eine enorme Resilienz (also Widerstandsfähigkeit) erarbeiten. Wir schaffen das. Und vielleicht noch viel mehr.
Was kommt 2021? Zukunftsforscher können derzeit wohl kaum die kommenden zwölf Monate vorhersagen. Vielleicht so viel: Angela Merkel wird nicht mehr Kanzlerin sein, das ist (fast) sicher. Möglich auch, wir müssen dann keine Masken mehr tragen (das wäre mein Wunsch), weil sich genug Menschen impfen lassen. Die Krise ist dann nicht vorüber, aber doch weitgehend ausgestanden. Mit dem neuen US-Präsidenten können wir Probleme wie Klimakrise und Nahost-Konflikt wieder ernsthaft angehen. Aber da beginnt die Zukunft bereits, unsicher zu werden.
Die Weltlage wird wohl kompliziert bleiben (weil es wahrscheinlich ist). Vielleicht erinnern wir uns dann zurück an 2020 – und haben die Gewissheit: Wir können mehr schaffen, als wir denken. Wir müssen nur anpacken. Und nicht zu lange planen und diskutieren.
WAS STEHT AN?
Trotz der anhaltenden Brexit-Verhandlungen dürfen die britischen Abgeordneten ab dem morgigen Freitag in den Weihnachtsurlaub starten. Die Regierung hat aber schon angekündigt: Falls in den nächsten Tagen noch ein Handelspakt mit der EU zustande kommen sollte, würden die Parlamentarier schnellstens zur Notfallsitzung zurückgerufen. Womöglich noch vor Weihnachten, hieß es. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will noch nicht aufgeben: "Die nächsten Tage werden entscheidend sein", sagte sie. "Die gute Nachricht ist, dass wir einen Weg voran bei den meisten Problemen gefunden haben." Die betroffenen Menschen hoffen jedenfalls darauf.
Beim Autobauer VW hat das Management vermutlich heute Nacht schlecht geschlafen. Gut fünf Jahre nach Beginn des Diesel-Skandals fällt der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag ein Grundsatzurteil. Sind Abschalteinrichtungen zulässig oder nicht? Die zuständige EuGH-Generalanwältin hatte in ihrem Gutachten bereits Ende April festgestellt, dass die Software nach EU-Regeln verboten ist. Die EuGH-Richter folgen ihren Gutachtern meistens. Aber nicht immer.
Ebenfalls heute wird ein Grundsatzurteil des BGH erwartet. Dort wird entschieden, ob VW-Besitzer auch 2019 und 2020 noch vor Gericht ziehen durften. Oder ob die Fälle da schon verjährt waren.
Am frühen Morgen (Mittwochabend deutscher Zeit) sind in der inneren Mongolei zwei Kilogramm Mondgestein gelandet. Viele chinesische Wissenschaftler haben auf diesen Moment gewartet. Ach was, die gesamte chinesische Nation. Und eine kleine Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Die hofft, ebenfalls ein wenig vom Mondgestein zu bekommen.
In Burg Stargard (bei Neubrandenburg) hatte man nämlich frühzeitig mitbekommen, dass die chinesische Sonde in der Mondregion bei Mons Rümker landen sollte. Und stellte fest: Das Mond-Vulkangebirge sei ja 1935 nach dem in Burg Stargard geborenen Astronomen Carl Rümker benannt worden. Burg Stargard bat also die Chinesen, doch ein wenig Mondgestein nach Mecklenburg-Vorpommern zu bringen. Ich drücke die Daumen.
Berlin bekommt heute hohen Besuch. UN-Generalsekretär António Guterres wird von Außenminister Heiko Maas empfangen, morgen dann auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Agenda der Treffen liegen auf der Hand: Corona, Klima, Kriege und Konflikte. Vermutlich wird Guterres auch mahnen, dass wir unsere Rolle in der Welt nicht zu sehr unterschätzen.
Ein alter Bekannter bekommt heute eine große Bühne. Seit zwanzig Jahren (mit Unterbrechung) ist er russischer Präsident. Heute lädt Wladimir Putin zu seiner mehrstündigen Jahres-Pressekonferenz, wegen der Corona-Pandemie diesmal im Video-Format. Weil Putin sich seit Wochen kaum in der Öffentlichkeit zeigt, war viel spekuliert worden: Er wolle zurücktreten, hieß es. Er sei womöglich einfach nur amtsmüde. Oder habe Angst vor Corona. Beobachter werden deshalb ganz genau hinsehen heute.
WAS LESEN?
Lockdown? Welcher Lockdown? Das zumindest scheint man sich bei der Parfümeriekette Douglas zu denken: Ein Viertel der Filialen soll offen bleiben – als "Drogerien". Meine Kollegen Florian Schmidt und Sebastian Berning sind dem nachgegangen. Welche Anweisungen Douglas seinen Mitarbeitern gibt, erzählen die beiden hier.
In der EU nehmen die Corona-Infektionen rasant zu. Deutschland tritt heute den harten Lockdown an. Ein skandinavisches Erfolgsmodell zeigt eindrücklich, woran es auch bei uns hapert. Meine Kollegen Arno Wölk und Sandra Sperling erklären, warum Finnland so gut durch die Corona-Pandemie kommt.
Armin Mueller-Stahl wird heute 90 Jahre alt. Was für eine Persönlichkeit, was für eine Karriere! Kein anderer deutscher Schauspieler kann auf eine vergleichbare internationale Erfolgsgeschichte im Filmgeschäft zurückblicken wie der 1930 in Ostpreußen geborene Mann mit dem durchdringenden Blick. Mein Kollege Steven Sowa zeichnet die "Hollywoodstory made in Germany" nach und würdigt einen Ausnahmeschauspieler.
WAS AMÜSIERT MICH?
Warum sind wir sicher, dass der Corona-Impfstoff keine gefährlichen Nebenwirkungen hat? Ihre Einstellung zum Impfstoff könnte entscheidend sein, meint unser Karikaturist.
Ich wünsche Ihnen einen gesunden Start in den Tag. Morgen schreibt wieder Florian Harms an dieser Stelle.
Ihr
Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
Twitter: @peterschink
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.