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Triage in deutscher Klinik – gemeine Egoisten und lebensmüde Volltrottel


Meinung
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Was heute wichtig ist
Gemeine Egoisten und lebensmüde Volltrottel

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.12.2020Lesedauer: 8 Min.
Behandlung eines Corona-Patienten in einer deutschen Klinik.Vergrößern des Bildes
Behandlung eines Corona-Patienten in einer deutschen Klinik. (Quelle: imago images)
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WAS WAR?

Bisher kannten wir das nur aus dem Ausland, jetzt ist es auch bei uns so weit: Als erster Arzt in Deutschland hat Mathias Mengel in Zittau gestern Abend öffentlich eingeräumt, dass in seiner Klinik nun die Triage praktiziert wird. Aufgrund zu vieler Patienten müssen die Mediziner entscheiden, wer noch Sauerstoff bekommt – und wer nicht (mein Kollege Lars Wienand hat die Details recherchiert). Die Corona-Lage in Sachsen ist außer Kontrolle geraten, und andere Bundesländer sind auf demselben gefährlichen Weg. Ich sage es mal so: Ja, der Lockdown nervt, aber wer jetzt noch meint, er könne die Corona-Regeln ignorieren, ist entweder ein gemeiner Egoist oder ein lebensmüder Volltrottel oder beides.


Manchmal genügt schon ein einziges Wort, und alle wissen, was gemeint ist. Glauben Sie nicht? Versuchen wir's: Dadadadaaa! Na, alles klar? Eben. Oder doch nicht? Dann hören Sie mal kurz hier rein. Manchmal wurzelt Genialität eben in Schlichtheit. Schlicht bleibt es dann natürlich nicht, denn alles, was nach dem …daaa kommt, ist ziemlich komplex. Eigentlich kann man da als Normalsterblicher nur niederknien und der unermesslichen Grazie huldigen.

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Kleine Grazien hören wir heutzutage ja viele. Die dudeln aus Radios, Kopfhörern oder der Flimmerkiste: ein Akkord, vielleicht eine Terz, wenn's hochkommt eine Synkope. Wie mickrig dieses Musikantengedudel ist, begreifen wir, wenn wir es der vollendeten Grazie gegenüberstellen. So wie das Werk des Mannes, der vermutlich heute vor 250 Jahren geboren wurde. Auf den Tag genau wissen wir es nicht, aber das ist nicht weiter schlimm. Ein Genie kann man ein ganzes Jahr lang feiern, und so haben sie es nicht nur in seinem Geburtsort Bonn und in seiner späteren Wahlheimat Wien zelebriert, sondern auch an vielen anderen musikalisch bewegten Orten rund um den Globus: Corona-bedingt eingeschränkt, aber trotzdem mit viel Energie.

Denn Energie war sein Markenzeichen. Unbändige Energie. So sehen wir ihn noch heute mit wildem Haar als Büste auf unzähligen Klavieren stehen, so prangt sein stattliches Haupt seit Jahrzehnten auf Plattenhüllen, Postern und Konzertkarten. Ludwig van Beethoven war ein begnadeter Pianist, vor allem aber ein akribisch arbeitender Komponist. Anders als Mozart, der geniale Melodien quasi im Vorbeigehen aus dem Ärmel schüttelte, rang Beethoven um jede. Einzelne. Verdammte. Note. Der perfekte Klang war sein Ziel, so schuf er einige der schönsten Klavierkonzerte aller Zeiten. Sein fünftes beispielsweise, das er hungrig, klamm und krank in die Notenblätter kritzelte, während Wien von napoleonischen Truppen bombardiert wurde. Obwohl er da schon fast vollständig taub war, hörte er unter seinem Kopfkissen den elenden Schlachtenlärm. Also verwandelte er ihn in Noten. Er schenkte der Welt die Mondscheinsonate, er schrieb "Für Elise", an dem bis heute kein Klavierschüler vorbeikommt. Und er schuf die Jahrtausendmelodie im letzten Satz seiner 9. Symphonie, mit der er Schillers "Ode an die Freude" in den Klanghimmel erhob. Ein Chor in einer Symphonie: Damals war das eine musikalische Revolution, die Zuhörer müssen einen ähnlichen Inspirationsschock erlebt haben wie rund zweihundert Jahre später die ersten Fans der Beatles. Heute ist dieses Lied die strahlende Hymne des vereinigten Europas. Und bis heute zählt Beethoven zu den meistgespielten Komponisten der Welt.

So lebt er in unseren Ohren und Herzen fort, der große Ludwig. Beim Komponieren soff er literweise billigen Weißwein, der mit Bleizucker gesüßt war. Womöglich kostete ihn deshalb mit gerade einmal 56 Lenzen eine Bleivergiftung das Leben. Oder die angegriffenen Organe. Oder die Trauer darüber, dass er seine eigene Musik nicht mehr hören konnte. Am Ende blieb ihm nur die Stille. Umso genauer dürfen wir heute hinhören. Ich mache es jedenfalls so. Ich werde mich heute Abend hinsetzen, die 5. Symphonie auflegen und leise mitsummen: Dadadadaaa, lieber Ludwig, dadadadaaanke!


WAS STEHT AN?

Heute beginnt der harte Lockdown, das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Zugleich haben sich die Prüfer der europäischen Behörden erbarmen lassen, den ersten Impfstoff nun vermutlich doch schon am 21. Dezember freizugeben. Kanzlerin Merkel muss heute bei einer Regierungsbefragung im Bundestag erklären, warum das alles so lange dauert. Und wie wird diese riesige Impfaktion eigentlich vorbereitet? Meine Kollegen Tim Kummert, Jonas Mueller-Toewe, Lars Wienand und Marc von Lüpke haben nachgeforscht: im Ballungsraum Hamburg und im Städtchen Lahnstein, beim NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann und den Verantwortlichen in Münster. Herausgekommen ist ein präzises Bild der Vorbereitungen für die größte Massenimpfung, die Deutschland je erlebt hat: Was läuft gut, wo hakt's? Hier erfahren Sie es.


Normalerweise drücken Präsidenten und Prominente der Geschichte ihren Stempel auf. Aber nur selten gelingt eine historische Zäsur einem Menschen, den außer seiner Familie niemand kennt. Ein Jedermann. Eine Alltagsgestalt. Zum Beispiel ein Gemüsehändler, der sich gerade so über Wasser hält, ohne Perspektive, ohne Zukunft. Der sich plötzlich einer Polizistin gegenübersieht, die fehlende Papiere bemängelt, ihm seine Gemüsewaage wegnimmt und das Gemüse gleich mit. Der letzte Rest Selbstachtung geht dahin, als er zum Abschied auch noch Backpfeifen und Spucke ins Gesicht bekommt. Übrig bleibt: ein 26-Jähriger, der wieder mal gedemütigt worden ist. Der wieder mal vor dem Nichts steht. Wird so Geschichte geschrieben?

Meistens nicht. Aber in diesem Fall schon. Denn nach vergeblichem Protest auf der Behörde übergoss der junge, verzweifelte Mann sich selbst mit Benzin und zündete sich an. Zehn Jahre ist das morgen her, und seitdem kennt die Welt seinen Namen. Mohammed Bouazizi aus dem Ort Sidi Bouzid in Tunesien starb einige Wochen später an seinen Verbrennungen, und das wäre auch schon die ganze triste Geschichte gewesen, wenn nicht so viele junge Menschen in den Spiegel geschaut und dort ein Gesicht gesehen hätten, dessen Geschichte mit dem Gemüseverkäufer Mohammed so viel gemeinsam hat.

Sie kennen die Geschichte nur zu gut: Kein Job, kein Geld, die Hoffnungslosigkeit. Herumgeschubst von Beamten und Polizisten, die die Hand aufhalten – und mit ihr zuschlagen, wenn keine Dinare, Dirham oder Rial darin landen. Ein Apparat selbstherrlicher Bürokraten, die sich um Leute wie Mohammed Bouazizi einen Dreck scheren, dafür mit umso größerer Sorgfalt ihre Konten aus der Staatskasse füllen. An der Spitze der Diktator, der sich schamloser bedient als alle anderen – und noch härter zuschlägt.

Für den Aufstand, der nach der Selbstverbrennung des gedemütigten Gemüsehändlers losbrach, gab es keine Vorbereitung und keinen Masterplan. Eigentlich war es ein Aufschrei, der nur ein schlichtes Statement in die Welt brüllte: "Wir haben die Schnauze voll!" Quer durch die arabische Welt war er zu vernehmen, und auf einmal kamen die ganz großen Forderungen einfach auf den Tisch: Freiheit! Demokratie! Arbeit! Würde!

In Zeiten eines so gewaltigen Umbruchs scheint für Momente alles möglich. Der tunesische Kleptokrat Ben Ali floh außer Landes. Ägyptens Autokrat Hosni Mubarak wurde aus seinem Marmorpalast gejagt. Dynastien und Diktaturen von Gaddafis Libyen bis Assads Syrien gerieten ins Wanken. Selbst den Potentaten in den steinreichen Öl-Fürstentümern am Persischen Golf fuhr der Schrecken bis ins Mark, das gemeine Volk könne sich erheben und seine saturierten Herren einfach abschütteln. Doch wie wir inzwischen wissen, hat der Arabische Frühling keinen fruchtbaren Sommer hervorgebracht. Mit Erleichterung haben der saudische König und die Emire aus der Nachbarschaft verfolgt, wie anderswo der Aufstand der frustrierten Jugend in ein Flammenmeer mündete. Ganze Länder sind in Bürgerkriegen in Schutt und Asche versunken. Der Ruf nach Freiheit hat Warlords herangezüchtet und neue Diktaturen hervorgebracht, die ihre Vorgänger in den Schatten stellen.

An der Bilanz gibt es nichts zu beschönigen. In Libyen gilt nur noch das Recht des Stärkeren. In Syrien hat sich der Mafiaclan der Assads den größten Teil des Landes zurückgeraubt, in den restlichen Ecken geben Terroristen den Ton an. Wer heutzutage in Ägypten die Stimme oder auch nur den Kopf erhebt, verschwindet in den Gefängnissen des neuen Militärdiktators Sisi, und wer wider Erwarten aus den Kerkern wieder herauskommt, wird die Erinnerung an das Erlebte nicht mehr los. Auf dem Schlussstein im Grabgewölbe des arabischen Aufstands prangt die Flagge des Jemen. Auch dort hatte es das Volk gewagt, den Dauerpeiniger aus dem Amt zu jagen, und ist dafür mit dem Sturz in die Hölle bestraft worden.

Wie konnten die Dinge so aus dem Ruder laufen? Viele haben dazu beigetragen. Die verschreckten Scheichs am Golf haben ihr Schicksal nicht dem Zufall überlassen. Kampfjets aus den Vereinigten Arabischen Emiraten donnerten über Libyen, Milliardensummen von der Arabischen Halbinsel schmierten in Ägypten Sisis Machtmaschine. Das Ziel heißt "Stabilität", weil es besser klingt als "zerschmetterter Widerstand". Andere Teilnehmer trafen aus der Ferne ein: Waffen, Söldner und Soldaten kamen aus Russland, das sich im Nahen Osten endlich wieder in die erste Reihe bomben wollte. Von der Gegenseite schoss der Co-Regisseur aus Ankara zurück und schickte ebenfalls Waffen, Söldner und Soldaten. Auch der Iran mischt kräftig mit und säbelt sich sein Stück aus dem regionalen Kuchen.

Aber was ist mit uns, den europäischen Vermittlern? Wir waren uns vor allem einig, dass der Ruf nach Freiheit und Demokratie bewunderungswürdig, mutig und ehrenwert ist. Und dass man da eigentlich mal was machen müsste zur Unterstützung dieser Menschen. Und dass man im Nahen Osten aber leider, leider nichts machen kann, alles so verfahren, alles so komplex. So haben wir Europäer herumlaviert, bis die Russen und die Türken und die Iraner und die Golfaraber gekommen sind und irgendwie doch ganz kräftig was gemacht haben. Dafür dürfen wir die Folgen ausbaden: bei der Betreuung der Flüchtlinge. So werden wir für unser diplomatisches Versagen und unsere Ignoranz noch viele Jahre lang viele Milliarden Euro bezahlen.

Ja, uns trifft eine Mitschuld am arabischen Inferno. Es waren die Prediger des Rechtsstaats und der Demokratie – nämlich wir –, die im Arabischen Frühling auf dem Sofa sitzen blieben und sich darauf beschränkten, ihre Solidarität gelegentlich per Luftpost auszurichten. Heute sitzen wir immer noch auf dem Sofa, schauen der Tragödie weiterhin aus der Ferne zu und lassen uns aus Moskau, Ankara, Teheran und Riad die Programmvorschau schicken. Sollten wir nicht mal nach vorne zur Bühne gehen und als Co-Regisseur für einen neuen Handlungsstrang sorgen? Vielleicht finden wir ein paar talentierte Akteure, die dabei mitmachen. Ein paar junge Gesichter mit großen Hoffnungen, die immer noch nach Freiheit dürsten und es diesmal besser anstellen wollen. So wie einen Gemüsehändler. Von denen gibt es nämlich immer noch viele.


WAS LESEN?


Doch, es gibt noch gute Nachrichten. Zum Beispiel die, dass die Firmen in Deutschland immer mehr in ihre Mitarbeiter investieren. Die Summen für Fort- und Weiterbildungen erreichen einen Höchststand, berichtet mein Kollege Florian Schmidt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wie schön, dass es bei den Impfungen immer gerecht zugeht!

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder. Der Wochenend-Podcast am Samstag ist dann der letzte Tagesanbruch vor der Weihnachtspause. Uff und herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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