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30 Jahre Wiedervereinigung: Tag der Freude, Dankbarkeit – und der Wunden


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Was heute wichtig ist
Das Grauen im "Haus des Schweigens"

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.10.2020Lesedauer: 8 Min.
Das Stasi-Gefängnis Bautzen II ist ein Symbol für das perfide Haftsystem der DDR.Vergrößern des Bildes
Das Stasi-Gefängnis Bautzen II ist ein Symbol für das perfide Haftsystem der DDR. (Quelle: F. Harms)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Weltgeschichtlich gesehen sind 30 Jahre ein Klacks. An der Spanne eines Menschenlebens gemessen können sie eine halbe Ewigkeit sein. Partnerschaft, Beruf, Freunde, vielleicht Kinder, Reisen, Höhe- und Tiefpunkte prägen Charaktere, hinterlassen ihre Spuren in Gesichtern, formen Geschichten. 30 Jahre ist es morgen her, dass West- und Ostdeutschland sich wiedervereinigt haben, ein Tag der Euphorie, der Freude und der Dankbarkeit. Und ein Tag der Wunden.

Will man verstehen, woher diese Wunden rühren, kann man mit einigen Menschen in den neuen Bundesländern sprechen, die den Eindruck haben, dass ihre Lebensleistungen nicht anerkannt werden. Dass ihnen zwar viel geschenkt, aber auch viel genommen worden ist. Anerkennung, Selbstvertrauen und das Sozialleben zum Beispiel. Man kann dicke Bücher von Soziologen lesen oder kluge Interviews mit Politikwissenschaftlern wie Klaus Schroeder. Oder man verabredet sich mit Manfred Matthies. Ich habe den 79-jährigen Berliner vor einigen Tagen in Bautzen in Ostsachsen getroffen und bin dort stundenlang mit ihm durch ein Gebäude gelaufen. Heute ist es eine Gedenkstätte, Schulklassen kommen hierher und neugierige Besucher aus allen Teilen der Republik. Vor mehr als drei Jahrzehnten beherbergte dieses Gebäude die Hölle. "Haus des Schweigens" hieß es im Jargon der Staatssicherheit. Es diente der Stasi als Gefängnis für "besonders schwere Fälle". Hier sperrte die DDR vor allem Regimekritiker, Ausreisewillige und Spione westlicher Geheimdienste ein – und Fluchthelfer.

Ein solcher Fluchthelfer war Manfred Matthies. Im Jahr 1959 siedelte er aus der DDR in die Bundesrepublik über, nach dem Mauerbau 1961 half er von Westberlin aus, DDR-Bürger über die Grenze zu schmuggeln. Er fälschte Pässe, grub Tunnel, präparierte Autos. Das ging immer wieder gut, aber bei einer Fluchtaktion im Dezember 1972 flog er auf. Leute wie ihn packte die Stasi hart an. Im Berliner Untersuchungsknast Hohenschönhausen versuchten sie, seinen Willen zu brechen. "Die Stasi hat mich zum Klassenfeind erklärt, damit war ich de facto vogelfrei", erzählt Manfred Matthies. "Erst einmal haben sie mich 14 Tage lang nicht schlafen lassen. Immer wieder kamen Offiziere in die Zelle und brüllten mich an. Als ich nach zwei Wochen nicht mehr konnte, kam ein anderer und machte auf Kumpel. Er gab mir Kaffee und Zigaretten und versuchte mich so zu knacken. Perfide waren die."

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Ein Gericht verurteilte ihn zu 13 Jahren und 9 Monaten Haft und schickte Matthies nach Bautzen. "Ich wusste lange gar nicht, wo ich bin. Die Schließer haben ja kaum mit uns Häftlingen geredet. Auch zu den meisten anderen Gefangenen durften wir keinen Kontakt haben. Die Stille zermürbte uns." Fast fünf Jahre lang blieb er im "Haus des Schweigens" eingesperrt, bis die Bundesrepublik ihn wie viele andere politische Häftlinge freikaufte. Unliebsame Bürger zu verkaufen war für das SED-Regime ein gutes Geschäft, so gelangte es an begehrte Devisen. Aber vorher ließ es die Gefangenen jahrelang schmoren. So verlor Manfred Matthies fünf Jahre seiner Lebenszeit in einer Hölle aus Stein, muffigem Linoleum und Gitterstäben. Im Winter fiel oft die Heizung aus, dann hockten die Gefangenen bibbernd in ihren Zellen. "In der Kolonne arbeiten durfte man nur mit Sondergenehmigung. Ansonsten saß man herum: tagelang, wochenlang, monatelang", erzählt er mir. "Ich habe hier Leute kennengelernt, die 15 Jahre in einer Einzelzelle zugebracht haben – allein. Die sind verrückt geworden."

Ihn selbst sperrten sie nach einer aufmüpfigen Bemerkung neun Monate lang in eine Arrestzelle, "Tigerkäfig" genannt. "Da war außer einem Hocker nichts drin, kein Tisch, kein Buch, nichts. Ich konnte sechs Schritte vor und sechs Schritte zurück gehen, das war‘s." Manchmal sperrten die Wärter die Gittertür so zu, dass der Häftling nicht zur eingebauten Toilette gelangte. Tagelang. Die Fenster waren in allen Zellen weiß übermalt; wer an der Farbe kratzte, um wenigstens ein bisschen Sonnenlicht zu sehen, erhielt eine Extrastrafe. "Ich hatte das Gefühl, in einem Eisblock eingeschweißt zu sein. Monatelang habe ich nur an die Decke geguckt", sagt Manfred Matthies. Sein Innenarchitekturstudium bot ihm einen Ausweg: "Damit ich nicht durchdrehe, habe ich im Geiste ein Haus konstruiert. Ein Traumhaus in der Karibik." Zu essen gab es drei Scheiben Brot und eine Kanne Tee am Tag. "Ich hatte so großen Hunger, ich dachte stundenlang ans Essen." Und nie wusste er, wie lange es noch dauern würde. "Es war eine Tortur. Aber am schlimmsten haben sie die DDR-Bürger in den Stockwerken über uns malträtiert. Die verprügelten sie mit Gummiknüppeln. Das Klatschen hallte durchs ganze Haus. Die Wärter haben dazu gelacht. Und ich stand hinter meiner Zellentür und konnte nichts tun." Er macht eine Pause und blickt auf die Wand. "Ich konnte nichts tun."

Ich frage Manfred Matthies, welche Gefühle er empfindet, wenn er heute durch das "Haus des Schweigens" geht. Er schaut mich an, und zum ersten Mal verzieht er den Mund zu einem Grinsen. Dann hebt er die Hand: "Ich habe jetzt die Schlüssel", sagt er und klappert mit dem Bund aus langen Metallschlüsseln. "Ich kann hier jetzt rein und raus, wann ich will. Davon habe ich damals geträumt. Nun ist mein Traum in Erfüllung gegangen. Ich habe die Macht über das Haus." Seit anderthalb Jahren gibt er an Wochenenden Führungen für Besucher. So eine Zeitzeugenführung durch einen Stasiknast sollte jeder einmal mitgemacht haben, meine ich. Erst dann versteht man, wie perfide das DDR-Regime Menschen quälte. Viele Gefangene blieben auch nach ihrer Haftzeit traumatisiert. "Ich habe bis heute Verfolgungswahn", erzählt mir Manfred Matthies. "Dann wache ich nachts auf, weil plötzlich wieder die Stasi-Vernehmer neben meinem Bett stehen und mich anherrschen: 'Los, mitkommen!' Ich bin schon mal aus dem Haus gerannt und habe um Hilfe geschrien. Das sind die Dämonen aus dem 'Haus des Schweigens'." U-Bahnfahrten fallen ihm bis heute schwer. "Wenn die Türen zurummsen, bekomme ich Panik." Manchmal meint er, hinter einer Zeitung einen seiner Peiniger zu entdecken. Einmal herrschte er einen Wildfremden an: "Sie sind von der Stasi! Geben Sie es endlich zu!" War der natürlich nicht.

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Will er denn die Täter von damals wiedersehen? Sie leben ja noch unter uns. "Ja, ich will sie zur Rede stellen. Die haben damals nie Mitleid gezeigt. Ich will wissen, was sie heute dazu sagen." Nach der Wende besorgte er sich die Adressen ehemaliger Schließer und Verhörbeamter. "Aber die waren alle schon abgetaucht, oder sie haben mir die Tür nicht aufgemacht. Das hat an mir gekratzt." Gemeinsam mit Historikern versucht er weiterhin, wenigstens ein, zwei der ehemaligen Wärter zum Reden zu bewegen.

Warum sollte man auch heute noch vom Grauen in den Stasiknästen erzählen?, frage ich Manfred Matthies. "Es ist wichtig, dass der Unterdrückungsapparat der sozialistischen Gesellschaft nicht in Vergessenheit gerät", antwortet er. "Es gab damals keine Freiwilligkeit. Jeder sollte an das System glauben, und wer sich nicht fügen wollte, der wurde bestraft. Heute können das viele Leute gar nicht mehr nachempfinden, aber so war es. Daraus müssen wir lernen. Was wäre denn, würden heute wieder Ideologen an die Macht kommen? Dann wäre es nicht anders als damals, dann gäbe es wieder politische Gefangene."

Sagt Manfred Matthies und schaut auf die Zellenwand im "Haus des Schweigens". In der Luft hängt immer noch der muffige Geruch von Linoleum, Staub und Erniedrigung. Ich habe ihn auch noch in der Nase, als ich Stunden später wieder in Berlin ankomme. Bautzen lässt mich nicht mehr los. Und das ist gut so.


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Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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