Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Politik mit dem dritten newtonschen Gesetz
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages, heute stellvertretend für Florian Harms:
WAS WAR?
Es ist das dritte newtonsche Gesetz. Actio gleich reactio. Jede Kraft entwickelt eine gleichgroße Gegenkraft. Das ist nicht nur in der Physik so. Auch in der Politik bleibt keine Handlung ohne Gegenreaktion. Manchmal wird das nur nicht sofort sichtbar.
Nehmen wir den heutigen Tag vor 27 Jahren. Am 21. September geht der russische Präsident Boris Jelzin ein Wagnis ein. Weil die Abgeordneten des ersten demokratisch legitimierten Volksdeputiertenkonkress seine Wirtschaftspolitik nicht mittragen, löst er das Parlament per Dekret auf. Er ordnet Neuwahlen für Dezember an und etabliert ein Zwei-Kammer-System aus Staatsduma und Föderationsrat – das zugleich einen starken Präsidenten legitimiert. Der Korrespondent der ARD, Hans-Josef Dreckmann, berichtet: "Niemand kann zur Stunde sagen, wie dieses ungemein riskante Vorgehen Boris Jelzins ausgehen wird." (Sehenswert!)
Mit 27 Jahren Abstand sehen wir da klarer. Jelzin legte mit dem starken Präsidialsystem einen Grundstein der heutigen Machtbasis des derzeitigen Präsidenten Wladimir Putin. Das war 1993 nicht abzusehen. Jelzin handelte damals in "reactio" auf die Widerstände des Parlaments gegen seine Politik. Die wollten wirtschaftliche Reformen nicht mittragen.
Embed
Selbiges hat sich schon zigfach wiederholt: Große politische bzw. gesellschaftliche Veränderungen haben immer eine Gegenreaktion zur Folge. Auf die Revolution 1848 folgte die Gegenrevolution, auf die demokratischen Gehversuche der Weimarer Republik folgte der Nationalsozialismus, auf die Wiedervereinigung folgten Brüche zwischen Ost und West.
Und doch lässt sich nie sagen, was genau passiert: Während in Tunesien der Arabische Frühling halbwegs glückte, schickte er Syrien in die Katastrophe. Zu sehr hängen die Geschehnisse vor Ort von handelnden Personen, von wirtschaftlichen und sozialen Umständen oder auch von äußeren Einflüssen ab.
Nicht ein singulärer Umstand löste den Brexit aus. Auch die Wahl des Außenseiters Donald Trump hat eine Vielzahl von Ursachen. Und die deutsche Wiedervereinigung wurde durch verschiedene Umstände, Personen und der besonderen Weltlage im Jahr 1989/90 möglich. Erst im Nachhinein lassen sich die Ursachen für solche Ereignisse nachvollziehen.
Aber in die Zukunft gerichtet? Wer mag schon vorherzusagen, welche "reactio" auf ein bestimmtes Ereignis folgt? So starb am Freitag die liberale Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg an ihrem Krebsleiden. Die Demokraten hatten genau das gefürchtet: Eine weitere Nachbesetzung am Supreme Court durch US-Präsident Donald Trump noch vor den Präsidentschaftswahlen ist nun möglich. Ginsburg war schon vor ihrem Tod eine amerikanische Ikone: Sie hatte sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet, berühmt für ihr Eintreten für Frauenrechte, wurde sie als zweite Frau der US-Geschichte von Bill Clinton zur obersten Richterin erkoren.
Hier lohnt es sich, in den nächsten Tagen genau hinzusehen. Zum einen ist es in den USA umstritten, ob kurz vor einer Präsidentschaftswahl ein neuer Richter für den Obersten Gerichtshof benannt werden soll (zuletzt wurde Barack Obama vor der Wahl 2016 von den Republikanern daran gehindert). Doch Trump ist Trump. Er hat bereits angekündigt, er wolle den Posten nachbesetzen.
Klar ist: Das Thema wird den Wahlkampf beeinflussen. Trump will mit einer Frau eine konservative 6:3-Mehrheit im Supreme Court zementieren. Mit potenziell enormen Folgen für die großen strittigen Themen von Abtreibung, über Ehe für alle, Waffenbesitz, Klimaschutz bis zum Thema Krankenversicherung. Aber: Auf jede "actio" folgt auch eine "reactio". Ein streng konservativer Supreme Court könnte landesweit liberale Stimmen stärken.
Bei den Demokraten wird nun sogar erwogen, den Supreme Court um zwei oder vier Richter zu erweitern – um die republikanische Übermacht zu kippen. Druck erzeugt Gegendruck. So lautet das dritte newtonsche Gesetz.
WAS STEHT AN?
Auch die Corona-Krise wird weltweit noch eine Vielzahl an "reactio" nach sich ziehen.
In Deutschland liegt die Spannung derzeit im Süden. Am Freitag überstieg die Zahl der Corona-Infizierten in München die kritische 50er-Marke, am Sonntag lag die 7-Tage-Inzidenz dort bei 55,6 Fällen von 100.000 Einwohnern. Heute Morgen berät der Krisenstab der Millionenstadt über Gegenmaßnahmen.
Wegen der steigenden Fallzahlen waren die Fans zum Bundesligastart beim Spiel des FC Bayern gegen Schalke 04 kurzfristig ausgeschlossen worden. Doch die Unbelehrbaren feierten am Wochenende trotzdem, ausgerechnet auf der VIP-Tribüne des FC Bayern. Für das Bild alter weißer Männer, die zu eng und ohne Maske beieinanderstehen, musste sich wenig später Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge entschuldigen: "Wir sind uns alle einig, dass das Bild nicht vorbildlich war", sagte er. Man werde das ändern.
Wer Vorbild sein will, muss allerdings nicht an Bildern arbeiten. Sondern an seiner Einstellung. Die lässt hier tief blicken.
Währenddessen feiern die übrigen Münchner in den kommenden zwei Wochen bei der "Wirtshaus-Wiesn" in den Gaststätten der Stadt ein ersatzweises Oktoberfest (das ausfällt). Bei den aktuellen Fallzahlen definitiv kontraproduktiv. Ob das so bleibt, auch darüber muss am Montagmorgen der Corona-Krisenstab der Landeshauptstadt entscheiden. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und seine Kollegen werden abwägen. Die Zeit für Partys in München ist jedenfalls vorbei.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze feiert in Berlin schon mal den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Am Mittag lädt sie gemeinsam mit Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck zu einer Pressekonferenz mit dem Titel "Umwelt- und Naturschutzbilanz der deutschen Einheit". Spontan denke ich: Der größte Anteil zur CO2-Reduktion wurde vermutlich durch den Niedergang der DDR-Industrien geleistet.
Im Jahr 1990 gab es noch eine andere, positivere Geschichte: Der Biologe Michael Succow war nach der freien Volkskammerwahl zum stellvertretenden Umweltminister geworden. Er nutzte die kurze Zeit des Sommers 1990 für die Entwicklung eines einzigartigen Nationalpark-Programms. Sein Plan: Zwölf Prozent des gesamten DDR-Staatsgebiets sollte unter Naturschutz gestellt werden. Auf der letzten Sitzung des DDR-Nationalrates im September 1990 wurde das Programm verabschiedet. Davon profitiert die Natur bis heute.
Ein Stück Klimaschutz wird am Montag voraussichtlich Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) präsentieren. Bei der EU-Verkehrsministerkonferenz soll nach Informationen des "Spiegel" ein Konzept für europaweit bessere Zugverbindungen präsentiert werden. Ziel ist demnach ein grenzüberschreitender Europatakt, zudem Verbindungen von Paris über Berlin nach Warschau, von Amsterdam nach Rom und von Berlin nach Barcelona. So etwas Ähnliches gab es schon bis 1987, nun macht der Klimaschutz es wieder möglich.
Für Freitag schließlich rufen die Aktivisten von "Fridays for Future" erstmals seit Ausbruch der Corona-Pandemie wieder zum globalen Klimastreik auf. Falls Sie also noch nichts vorhaben: Unsere Kinder und Enkel fordern auch von uns, dass wir unseren Planeten endlich schützen.
Geistig rückwärtsgewandt debattiert heute in London das Unterhaus in zweiter Lesung das "Binnenmarktgesetz" von Premier Boris Johnson. Es soll den 2019 mit der EU vereinbarten Austrittsvertrag in wesentlichen Punkten ändern. Am Dienstag soll abgestimmt werden, anschließend muss das Oberhaus noch zustimmen. Klar ist: Die "actio" aus London wird nicht ohne "reactio" aus Brüssel bleiben können. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits vergangene Woche zu Protokoll gegeben: Vertrauen bleibe das Fundament jeder starken Partnerschaft. Die Frage bleibt: Wenn das Fundament bröckelt, macht es für alle Europäer dann Sinn, das Haus einstürzen zu lassen? Die Schäden werden auf beiden Seiten des Kanals beträchtlich sein.
Entscheidende Tage erleben unsere Nachbarn in Belarus. Gut tausend Kilometer von Berlin entfernt kämpfen Abertausende Bürger nun seit sechs Wochen darum, Europas letzten Diktator aus dem Amt zu jagen. Obwohl der Staat den Druck immer weiter erhöht, bleiben die Proteste weiter friedlich und nachdrücklich. Und es gibt immer wieder auch kleine Lichtblicke: Die Behörden hatten am Freitag den sechsjährigen Sohn der Minsker Aktivistin Jelena Lasartschik in ein Heim eingewiesen. Hunderte forderten am Samstag vor der Einrichtung, den Eltern ihren Sohn zurückzugeben. Am Sonntagmorgen schließlich ließ die Heimleitung das Kind frei – unter "Hurra"-Rufen und Applaus der Menschen.
WAS LESEN ODER ANSCHAUEN?
Deutschland muss endlich seine Rolle als Leitnation Europas annehmen. Sagen nicht meine Kollegen Marc von Lüpke und Florian Harms, sondern der niederländische Erfolgsautor Geert Mak, der seit Jahrzehnten das gesellschaftliche und politische Geschehen vor allem in Europa und den USA beobachtet und analysiert. Uns hat er erklärt, warum das trotz der dunklen Vergangenheit Deutschlands möglich ist. Warum Mak die US-Wahl im kommenden November fürchtet, dem Euro keine große Zukunft beschieden sein wird und Europa in Sachen Belarus zu zahm reagiert, lesen Sie hier. Die Überschrift sagt viel über das Interview: "Vielleicht verlassen Trumps Getreue das sinkende Schiff."
Es sind einzigartige Einblicke, die meine Video-Kollegen Martin Trotz und Adrian Röger bei der Bundeswehr aufgetan haben. Wie wird man auf den Tod vorbereitet? Wie gefährlich ist es im Irak? Ist die Angst ein ständiger Begleiter?
Für unser Videoformat "Frag mich" hat ein deutscher Soldat Ihre Fragen beantwortet. Der Hauptfeldwebel sagt: "Jeder Soldat, der in den Einsatz geht, beschäftigt sich mit dem Tod." Er meldet sich aus seinem Quartier mitten in der irakischen Wüste. "Meine Familie versteht nicht, warum ich in den Einsatz gegangen bin." Er redet auch darüber, ob Soldatinnen und Soldaten bei langen Auslandseinsätzen vermehrt fremdgehen. Absolut sehenswert.
In der Landwirtschaft fehlt es nicht an kreativen Ideen für den Klimaschutz. Wie es gehen kann, zeigen Reisbauern in Thailand. Das Rezept ist einfach wie effektiv: ein Haufen, nein massenhaft Enten. Wie? Sehen Sie selbst – meine Kollegen Tim Blumenstein und Axel Krüger haben beeindruckende Luftaufnahmen für Sie parat und erklären Ihnen die ganze Geschichte hinter dem Spektakel, das hierzulande vielleicht ja auch Schule machen könnte.
In Deutschland gibt es bisher zwei etablierte Testverfahren, um das Coronavirus nachzuweisen: die PCR-Testung und Antikörper-Tests. Nun sollen sogenannte Antigen-Tests – auch Schnelltests genannt – als weitere Methode eingeführt werden. Meine Kollegin Melanie Weiner erklärt, wie sie funktionieren.
WAS ERFREUT MICH?
Bill Murray wird heute 70 Jahre alt. Seit Lost in Translation und Broken Flowers wissen wir alle, das Leben ist einfach so. Ein hartnäckiges Gerücht besagt übrigens, dass Murray keinen Agenten beschäftigt. Er ist nur über seinen Anrufbeantworter zu erreichen. Den er selten abhört.
Ich wünsche Ihnen einen gesunden Start in den Tag. Morgen schreibt Florian Harms wieder an dieser Stelle.
Ihr
Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Twitter: @peterschink
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.