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Bestsellerautor Mak: "Vielleicht verlassen Trumps Getreue das sinkende Schiff"


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Bestsellerautor Geert Mak
"Deutschland verkauft sich permanent unter Wert"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 20.09.2020Lesedauer: 8 Min.
Donald Trump und Angela Merkel: Deutschland soll Europas Leitnation werden, sagt Bestsellerautor Geert Mak.Vergrößern des Bildes
Donald Trump und Angela Merkel: Deutschland soll Europas Leitnation werden, sagt Bestsellerautor Geert Mak. (Quelle: Peter Nicholls/reuters)

Die USA befinden sich im Krisenmodus, Europa verharrt in Bedeutungslosigkeit. Zeit für Deutschland, endlich seine Rolle als Leitnation anzunehmen, fordert Experte Geert Mak im t-online-Gespräch.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein: Die USA leiden besonders stark unter dem Coronavirus, die anstehende Präsidentschaftswahl könnte im Chaos versinken. Die Europäische Union hat nicht nur das Mitgliedsland Großbritannien eingebüßt, sondern muss auch endlich eine Antwort auf die Provokationen des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán und auf die ungelöste Migrationsfrage finden. Die Herausforderung, die bei der EU-Kommission in Brüssel aber die schlimmsten Befürchtungen auslöst, ist nicht die Corona-Pandemie, sondern die Klimakrise. Das sagt Geert Mak, weitgereister Bestsellerautor und scharfsinniger Beobachter von Gesellschaft und Poltik, im t-online-Gespräch. Deutschland sollte dem Niederländer zufolge endlich die Stärke und Verantwortung zeigen, die seiner Größe entspricht. Warum Europa als Großmacht auftreten muss, die Tage des Euros möglicherweise gezählt sind und er die Manöver Donald Trumps fürchtet, erklärt Geert Mak im folgenden Interview:

t-online: Herr Mak, Deutschland feiert in wenigen Tagen das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung. Vielerorts in Europa wächst allerdings die Furcht vor der politischen und wirtschaftlichen Macht Deutschlands. Ist die Angst berechtigt?

Geert Mak: Es ist paradox! Viele europäische Länder überschätzen ständig ihre eigene Bedeutung – bei den Deutschen ist es umgekehrt: Deutschland verkauft sich permanent unter Wert, es ist fast eine Tragödie. Dabei sind die Deutschen für Europa so bedeutend. Seien es Niederländer, Spanier oder Tschechen: Bei drängenden Problemen schauen alle Europäer sofort nach Berlin.

Viele Europäer schauen doch vor allem auf die andere Seite des Atlantiks, auch wir Deutschen.

Wir dürfen nicht immer Washington zu Hilfe rufen. Deutschland und die Europäische Union müssen endlich lernen, ihre Probleme selbst zu lösen.

Das zentrale Problem ist doch, dass Europa sicherheitspolitisch zwar immer noch von den USA abhängt, unter der Präsidentschaft Donald Trumps aber viel weniger Unterstützung bekommt. Deutschland und Kanzlerin Merkel sind eine bevorzugte Zielscheibe des US-Präsidenten. Würde sich das ändern, falls Joe Biden ins Weiße Haus einzieht?

Das Verhältnis der USA zu Deutschland wird nie wieder das alte sein. Und auch die Trennung zwischen Amerika und Europa ist fundamental, sie wird bestehen bleiben. Die Vereinigten Staaten wenden sich von Europa ab und dem pazifischen Raum zu. Das wird sich auch unter einem Präsidenten Joe Biden nicht ändern. Immerhin würde vermutlich aber der Umgangston gegenüber Deutschland wieder freundlicher.

Geert Mak, Jahrgang 1946, ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Niederlande. Der studierte Jurist arbeitete viele Jahre lang als Journalist, seine Reisen führten ihn in zahlreiche Länder der Erde. Mak hat mehrere internationale Bestseller geschrieben, kürzlich erschien sein neuestes Buch "Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999-2019)".

Und ausgerechnet wir Deutschen sollen das Führungsvakuum in Europa füllen, das die USA hinterlassen?

Warum denn nicht? Wegen des Zweiten Weltkriegs?

Wir haben nun mal eine dunkle Vergangenheit, die in vielen europäischen Ländern nach wie vor sehr präsent ist.

Gerade wegen seiner Vergangenheit kann Deutschland die Leitnation für Europa sein! Ihr zeigt, dass man aus der Vergangenheit lernen kann. Die Politik der Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten von einem hohen Grad an Moral geprägt. Das spüren die Menschen überall in Europa. Ich verstehe ja das Problem: Beim deutschen Begriff "Führung" sind viele Europäer verständlicherweise empfindlich. Aber Europa braucht Führung; und die kann nur vom wirtschaftlich mächtigsten Land kommen, also Deutschland.

Probleme gibt es genug. Die Briten haben der Europäischen Union den Rücken gekehrt, in Ungarn demontiert der Regierungschef den Rechtsstaat.

Viktor Orbán muss so schnell wie möglich gestoppt werden, denn er untergräbt die Werte der Europäischen Union. Die EU ist mehr als ein Wirtschaftsbündnis, sie ist eine Wertegemeinschaft. Orbáns Politik ist eine Inspiration für alle rechtsradikalen Kräfte in Europa. Er kultiviert in Ungarn einen ethnischen Nationalismus, der Anhänger in anderen Ländern findet – in meiner Heimat zum Beispiel in Form des "Forum voor Democratie". Das ist sehr gefährlich.

War es also ein Fehler, Ungarn und Polen in die Europäische Union aufzunehmen?

Nein. Aber wir Westeuropäer waren zu naiv. Wir alle haben 1989 geglaubt, dass sich Ungarn und Polen vom Einfluss der Sowjetunion befreit hätten, um sich sogleich in liberale Gesellschaften nach westlichem Vorbild zu verwandeln. Was wir übersehen haben: Für viele Ungarn und Polen war der Fall des Eisernen Vorhangs vor allem eine nationale Befreiung. Nehmen Sie die polnische Solidarność: Die hatte damals neben einem liberalen auch einen starken nationalistischen Flügel.

Und wie früher von Moskau fühlen sich nun viele Ungarn und Polen von Brüssel gegängelt.

So ist es. Die Zielscheibe hat gewechselt, das Prinzip ist dasselbe. Ein Demagoge wie Viktor Orbán kann sehr effektiv die Ängste, die seine Landsleute früher vor Moskau empfunden haben, auf Brüssel ummünzen.

Wie kann man Orbán effektiv Einhalt gebieten? Im europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs kann er ja alle Strafmaßnahmen abwehren, indem er sich mit Polen verbündet.

Das ist ein großes Problem. Tatsache ist, dass Herr Orbán seinen Populismus zum Teil mit Geld der EU finanziert. Was ziemlich absurd ist. Die Finanzen sind also ein möglicher Ansatzpunkt, um ihn zu disziplinieren. Wenn wir Ungarn aber völlig isolieren, dann haben wir einen kleinen Putin mitten in Europa. Das können wir uns in dieser schwierigen Zeit der Corona-Pandemie auch nicht leisten.

Die Corona-Krise führt ja aber gerade dazu, dass Europa neue Wege geht – im Guten wie im Schlechten. In Ihrem neuen Buch warnen Sie davor, dass staatliche Eingriffe unsere Freiheit nachhaltig einschränken könnten.

Bei Deutschland sehe ich da nur eine geringe Gefahr. Aber Frankreich hat in der Corona-Krise fast Züge eines Polizeistaats angenommen. Etwa wenn Polizisten kurzerhand Wohnungen durchsuchten, die nichts mit Corona-Infizierten zu tun hatten. Die historische Erfahrung zeigt, dass solche Krisen viele negative Begleiterscheinungen mit sich bringen. Wir müssen wachsam sein.

Nicht nur innerhalb der EU kriselt es, auch außenpolitisch gibt es immer mehr Konflikte, die eine starke und einheitliche Position der Europäer erfordern. Davon ist aber wenig zu sehen.

Brüssel ist einfach nicht daran gewöhnt, in außenpolitischen Krisen schnell zu reagieren. Das ist ein großer Fehler, aus dem wir schnell lernen müssen.

Geben Sie mal ein Beispiel.

Nehmen wir die Ukraine. Am Beginn der dortigen Krise im Jahr 2013 stand ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kiew. Ich habe mit Leuten in Brüssel gesprochen, die damals daran beteiligt waren. Sie haben mir berichtet, dass die EU damals einen großen Fehler gemacht habe. Für Brüssel war das Abkommen, immerhin rund 600 Seiten stark, einfach eine technische Angelegenheit. Moskau sah in dem Vertrag dagegen eine geopolitische Bedrohung: Die EU rückte in Russlands Hinterhof vor. Deshalb eskalierte der Konflikt so brutal.

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Ist das in Ihren Augen auch der Grund, warum die EU heute so zurückhaltend auf die Proteste gegen den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko reagiert?

Ich vermute ja. Meiner Meinung nach verhält sich Europa in Sachen Belarus aber zu vorsichtig.

Geschlossen treten die EU-Staaten doch aber schon länger nicht mehr auf. Sie sind gar nicht in der Lage zu einer Machtdemonstration gegen Lukaschenko und Wladimir Putin.

Das ist richtig. Europa muss zukünftig wie eine Weltmacht auftreten und mit einer Stimme sprechen.

Das sagt sich so leicht, aber haben wir Europäer überhaupt die Kraft dazu?

Wir Europäer haben doch niemals die Kraft gehabt – aber wir müssen sie endlich entwickeln! Jahrzehntelang haben wir unter dem Schutzschirm der USA gelebt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, endlich eigene Wege zu gehen.

Bitte konkreter: Wie genau soll das aussehen?

Nehmen wir das derzeit größte Problem: Wie die Pandemie auch immer verläuft, Deutschland wird die Corona-Krise gut überstehen. Ebenso wie die nördlichen EU-Staaten inklusive der Niederlande. Es sind reiche Länder mit stabiler Demokratie und florierender Wirtschaft, leistungsfähiger Infrastruktur und guten Bildungssystemen. In Südeuropa sieht das trotz der vielen Milliarden, die nun dorthin fließen, anders aus. Insbesondere die jungen Menschen dort tun mir leid. Sie haben gerade erst die Finanzkrise von 2008 überstanden – und nun ist auch noch Corona gekommen. Die wohlhabenden Staaten sollten also die Perspektiven von jungen Menschen verbessern, indem sie massiv in Ausbildung und Forschung investieren.

Die entsprechenden Budgets sind aber gerade im Brüsseler Schacher-Marathon von den Staats- und Regierungschefs gekürzt worden.

Das muss zurückgenommen werden, und das Europaparlament hat den Hebel dafür. Es kann sein Veto einlegen und tut das ja auch. Manchmal muss man die Regierenden zwingen, klüger zu handeln, als sie es selbst wollen. Auch bei unserem größten Problem.

Welches ist das?

Die menschengemachte Erderhitzung ist die größte Bedrohung für die Menschheit. Auch in Brüssel ist man sich der Dimension dieser Gefahr bewusst: Die EU-Kommission zittert geradezu angesichts der Klimakrise. Aber die EU könnte unser aller Überleben sichern. Falls Ursula von der Leyens "Green Deal" ein Erfolg wird, kann er Staaten weltweit einen Weg aus der Krise zeigen. Das ist das positive Szenario.

Und was wäre das negative?

Im schlimmsten Fall wird die EU die Klimakrise nicht überstehen. Denn die verschärft alle anderen Probleme, auch die Konflikte zwischen West- und Osteuropa sowie zwischen dem reichen Norden und dem ärmeren Süden. Diese Unterschiede könnten größer und größer werden – und die EU am Ende kollabieren.

Welche Rolle spielt der Euro dabei in Ihren Augen?

Der Euro wird die nächsten Jahrzehnte nicht überstehen. Die Gemeinschaftswährung ist einfach zu unflexibel, und die Ökonomien der Eurozone sind zu unterschiedlich. Um das zu ändern, wären dringende Reformen nötig – und zwar sofort: Die EU braucht eine zentral gesteuerte Finanzpolitik. Und harte Regeln, die alle Mitgliedstaaten disziplinieren, verantwortungsvoll zu haushalten, statt horrende Schuldenberge anzuhäufen. Andernfalls müssen sie den Euroraum verlassen. Griechenland hätte den Euro nie bekommen dürfen.

Jetzt klingen Sie selbst wie ein Populist.

Wieso? Ich bin nur Realist. Wenn Europa im weltweiten Kräftemessen bestehen will, muss es stark und geeint sein, statt sich ständig mit internen Problemen zu beschäftigen.

Eines der größten Probleme Europas ist das Fehlen einer gemeinsamen Migrationspolitik. Die Reaktion auf den Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ist doch ein Armutszeugnis.

Das ist in der Tat ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. Ich bin selbst auf einer anderen griechischen Insel gewesen, auf Samos, und habe dort mit den Leuten gesprochen. Und ich sage ganz klar: Diese Lager sind dazu da, um die Menschen abzuschrecken. Den Leuten soll es schlecht gehen, damit nicht noch mehr Migranten kommen. Dieser Zynismus ist ein Skandal. Und er entlarvt dasselbe strukturelle Problem wie beim Euro: Europa hat mit dem Schengen-Abkommen die Grenzkontrollen eingestellt, ohne zugleich eine gemeinsame Migrationspolitik zu vereinbaren. Dabei braucht Europa Zuwanderung!

Was also tun?

Europa braucht einen "New Deal" nach dem Vorbild der Wirtschafts- und Sozialreformen, mit denen US-Präsident Franklin D. Roosevelt die USA in den Dreißigerjahren nach der Weltwirtschaftskrise stabilisiert hat. Wir sollten aus der Vergangenheit lernen, um die Krisen der Gegenwart zu lösen.

Franklin D. Roosevelt war ein charismatischer Politiker mit einer begeisternden Vision. Wer könnte denn der Roosevelt der EU sein?

Ehrlich gesagt, da ist mir noch niemand aufgefallen. Aber das heißt nichts, die Menschen entwickeln sich. In den Zwanzigerjahren war auch Roosevelt noch nicht sonderlich in Erscheinung getreten, erst später reifte er zum überragenden Staatsmann.

Das Bild, das seine heutigen Nachfolger abgeben, ist weniger überragend. Wer wird Ihrer Meinung nach die US-Präsidentschaftswahl am 3. November gewinnen: Joe Biden oder Donald Trump?

Joe Bidens gute Umfragewerte sind seit längerer Zeit stabil, und Donald Trump geht das Geld aus. Das stimmt mich optimistisch. Etwas macht mir aber große Sorge: Trump wird das Weiße Haus womöglich nicht friedlich verlassen, er könnte sich weigern. Es wäre ein Präzedenzfall in der amerikanischen Geschichte. Und eine enorme Gefahr, wenn man bedenkt, dass viele seiner Anhänger schwer bewaffnet sind.

Sie befürchten ernsthaft bewaffnete Auseinandersetzungen in den USA?

Ich weiß es nicht. Das US-Militär ist unabhängig und der Oberste Gerichtshof ist es auch. Wichtig wird aber sein, wie sich "Fox News" als das langjährige Sprachrohr des Präsidenten verhalten wird. Vielleicht verlassen Trumps Getreue das sinkende Schiff. Wenn nicht, dann wird es schlimm.

Herr Mak, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Geert Mak per Videotelefonie
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