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Giftanschlag auf Nawalny: Wie man Russlands Präsident Putin wirklich bestraft


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Ein Hammerthema

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.09.2020Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin vor wenigen Tagen am Steuer einer Aurus-Limousine auf der annektierten Krim.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin vor wenigen Tagen am Steuer einer Aurus-Limousine auf der annektierten Krim. (Quelle: Mikhail Klimentyev, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP/ap)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

und herzlichen Dank für Ihre Treue! Heute wird der Tagesanbruch drei Jahre alt, und er wäre nichts wert ohne die Aufmerksamkeit, die Sie uns tagtäglich schenken. Ihre Zeit, Ihre Anregungen, Ihr Lob und Ihre Kritik sind unserer Redaktion Ansporn und Verpflichtung. Hier finden Sie alle Ausgaben. Ab morgen beginnen mein Kollege Marc Krüger und ich wieder mit unserem Wochenend-Podcast. Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Empörung ist kein guter Zustand, um wegweisende Entscheidungen zu treffen. Wer mit puterrotem Kopf handelt, der läuft Gefahr, seine Hirnsynapsen auszuschalten. "Ist das einzige Werkzeug, das man besitzt, ein Hammer, dann ist es verlockend, alles so zu behandeln, als wäre es ein Nagel", hat der Psychologe Abraham Maslow erkannt. In Berlin waren gestern ziemlich viele Leute mit einem Hammer unterwegs. Nachdem Ärzte festgestellt hatten, dass der wichtigste russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden ist, überboten sich Politiker und Journalisten mit Forderungen, wie das Putin-Regime sofort zu bestrafen sei. In den Fraktionen von CDU/CSU und SPD herrscht große Entrüstung, berichten unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert. CDU-Chefkandidat Norbert Röttgen will das Gas-Pipeline-Projekt North Stream 2 in der Ostsee stoppen. FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hauen in dieselbe Kerbe. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich will es "auf den Prüfstand stellen". Viele Kommentatoren sekundieren. "Man könnte die Pipeline zu Ende bauen. Aber in Betrieb nehmen sollte man sie unter diesen Umständen nicht mehr", meint die "Süddeutsche Zeitung". Der "Spiegel" findet, es sei an der Zeit, "dem Mann im Kreml wehzutun".

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Keine Frage: Die mafiöse Clique in Moskau übertritt so oft und so systematisch die Toleranzgrenze, dass sich die Antwort eines Rechtsstaates wie Deutschland nicht auf diplomatischen Protest beschränken kann. Wladimir Putin und seine Kumpane haben ein Regime der Angst errichtet, in dem all die Morde und Mordversuche an Oppositionellen die immergleiche Drohung an die Bürger aussenden: Wenn ihr aufmuckt, dann kann euch alles zustoßen. Dann schlägt euch vielleicht jemand die Zähne aus oder schießt euch in den Kopf oder vergiftet euch. Also haltet die Klappe und legt euch nicht mit dem Paten an. Schon vor zwei Jahren drohte Putin seinen Landsleuten im Fernsehen, er könne alles verzeihen außer Verrat. In ihrem Habitus und ihren Methoden unterscheidet sich Putins Kamarilla nicht von der Cosa Nostra oder der 'Ndrangheta – nur hat sie noch viel mehr Macht.

Kriminelle verstehen nur die Sprache der Härte, da hat der Außenpolitiker Röttgen schon recht. Aber wie diese Härte aussieht, darüber sollte man vielleicht doch lieber ein paar Tage nachdenken, bevor man mit dem Hammer zuschlägt und hinterher erschrocken feststellt, dass man den Nagel eigentlich noch braucht. "Quidquid agis, prudenter agas et respice finem", haben uns die alten Römer ins Stammbuch geschrieben, und da ich in Latein leider eine Niete bin, habe ich die Übersetzung schnell noch mal nachgeschlagen: "Was auch immer du tust, handle klug, indem du das Ende bedenkst."

Wer das Ende bedenkt, der gelangt in der Causa Nawalny zur Erkenntnis, dass Deutschland es sich derzeit nicht mit seinem Gaslieferanten Russland verscherzen kann. Atomausstieg ok, Kohleausstieg ok – aber irgendwo muss die Energie ja herkommen, bis Windkraft, Wasserstoff, Solartechnik und intelligente Stromnetze den Bedarf decken können. "So bleibt Merkel nur ein duales Vorgehen: mögliche weitere EU-Sanktionen gegen Russland auf der einen Seite, wirtschaftliche Beziehungen auf der anderen", hat mein Kollege Peter Schink gestern analysiert. Aus Brüssel kommen nun eher leise Signale, neue EU-Strafen wird es wohl so schnell nicht geben. "Wir brauchen Russland in der Klimapolitik, in der Ukrainepolitik, in vielen anderen Bereichen. Wir können jetzt nicht eine Mauer zwischen dem Westen und Russland aufziehen", sagt Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz.

Aber was dann? Legt man den Hammer aus der Hand, atmet einmal tief durch und schaut sich in der außenpolitischen Werkstatt um, kann man zum Beispiel die Dose mit den Reißzwecken entdecken. Die haben den Vorteil, dass sie heftig pieken, dass man sie aber auch wieder herausziehen kann, wenn man sie nicht mehr braucht. Als Reaktion auf den offenkundig staatlich ausgeführten oder zumindest staatlich gedeckten Mordversuch an Alexej Nawalny könnte die Bundesregierung ein paar solcher Reißzwecken in Herrn Putins Machtsystem klopfen. Möglichkeiten gäbe es einige. Keine privaten Visa mehr für sämtliche Mitarbeiter des Kremls, auch nach Ende der Corona-Reisebeschränkungen. Ausfuhrauflagen für deutsche Luxusprodukte, die das Leben der Oligarchen und Regimeprofiteure versüßen. Und vor allem: Sperrung aller russischen Propagandakanäle auf Telegram, Facebook, Youtube und Co., die schon seit Jahren das gesellschaftliche Klima in Deutschland vergiften.

Herr Putin, sein Exekutor Jewgeni Prigoschin, sein Herold Sergej Lawrow und der Rest der Clique müssen die Stiche spüren, sonst werden sie sich weiter aufführen wie die Axt im Walde. Zugleich aber ist Russland ein zu wichtiges Gegenüber, als dass man es mit dem Hammer traktieren sollte. Auch die vielen rechtschaffenen Bürger Russlands, die das Regime erdulden müssen und deren Lebensstandard von harten Wirtschaftssanktionen am stärksten getroffen würde, verdienen Rücksicht. Durchatmen, denken, Reißzwecken auspacken: Vom Ende her gedacht erscheint das klüger als ein vorschneller Hammerschlag.


Einen attackieren, alle ängstigen: Das gibt es nicht nur in Russland. Das gibt es auch bei uns in der EU. "Einen von ihnen treffen", wollte der mutmaßliche Organisator eines Anschlags in der Slowakei und meinte damit investigative Journalisten, die ihm und seinen Buddys auf die Schliche gekommen waren. Gestern fiel das Urteil im Prozess, der den Mord an Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová wenigstens in Teilen aufklären und einige der Schuldigen hinter Gitter verbannen sollte. Doch der mögliche Auftraggeber des Killers, der mächtige Wirtschaftsboss Marian Kočner, durfte sich trotz schlüssiger Beweislage über einen Freispruch freuen.

Der Fall hat die Slowakei auf den Kopf gestellt. Nach dem Mord vor zweieinhalb Jahren zwangen Massenproteste den damaligen Premier Robert Fico aus dem Amt. Das ganze Land sprach über die Recherchen des 27-jährigen Kuciak: über die korrupten Seilschaften, die das Establishment des Landes wie ein sehniges Gewebe durchziehen. Über die illegalen Deals des Geschäftsmanns Kočner und dessen Beziehungen zur damaligen Regierungspartei und Premierminister Fico. Über die Verbindungen zur italienischen 'Ndrangheta. Eine große Rechercheleistung, die einem nicht nur Respekt, sondern auch Angst einflößen kann – dann, wenn man etwas zu verbergen hat. Viele Bürger hatten die Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändern würde. Den gestrigen Freispruch für den Strippenzieher empfinden viele als Schlag ins Gesicht. Auch Präsidentin Caputova ist "schockiert".

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Die kleinen Fische – der Auftragskiller und seine unmittelbaren Komplizen – sind längst schuldig gesprochen worden und werden das nächste Vierteljahrhundert hinter Gittern verbringen. Der Millionär Marian Kočner hingegen, der einst auch in Polizei und Justiz zu lenken und zu schmieren wusste, wird sich in der nächsten Instanz des Verfahrens weiter verteidigen dürfen. Die Staatsanwaltschaft akzeptiert den Freispruch nicht und legt Berufung ein, denn das Urteil wirft viele Fragen auf. Auch dass es keine Ermittlungen gegen Ex-Premier Fico gibt, den Herr Kočner als seinen "Chef" bezeichnete und der sich nun als Oppositionsführer betätigt, ist mehr als verwunderlich.

Der Sumpf bei unseren slowakischen Nachbarn ist noch lange nicht trockengelegt. Es ist nicht zu erwarten, dass Marian Kočner seine Kumpane verpfeift. Zeit zum Nachdenken hätte er eigentlich: Die nächsten 19 Jahre sitzt er wegen schwerer Finanzkriminalität hinter Gittern. Eigentlich. Aber vielleicht wartet er auch nur auf die nächsten Wahlen und einen weiteren Regierungswechsel. Und dass ihm dann ein alter Freund zu Hilfe kommt.


WAS STEHT AN?

Olaf Scholz will Angela Merkel im Kanzleramt beerben. Als Kompetenznachweis führt der SPD-Spitzenkandidat gern seine Zeit als Hamburger Bürgermeister an, in der er die Hansestadt erfolgreich und seriös gemanagt habe. Doch nun bringt ihn ein Tagebuch in Erklärungsnot, berichtet die "Süddeutsche Zeitung".


Die Corona-Infektionszahlen in Deutschland schwanken. Meine Kollegen Philip Friedrichs und Nicolas Lindken haben sich die Lage genauer angeschaut und starke regionale Unterschiede entdeckt: Die Schwerpunkte der Pandemie verschieben sich.


Ich bekenne: Ich bin gläubig. Ich habe sogar mehrere Götter. Mein Musikgott heißt Jimi und ist am Sonntag vor 50 Jahren hierzulande zum letzten Mal leibhaftig erschienen. Kurz danach verließ er uns, um ein paar Etagen weiter oben in die Saiten zu greifen. Seither müssen wir auf Play drücken, wenn wir Gottes Musik hören wollen. Das ist zwar nur ein kleiner Trost, aber göttlich ist es immer noch.


WAS LESEN?

Wie berichten russische Medien über den Giftanschlag auf Alexej Nawalny? Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat sich umgesehen.


Erst Donald Trump, nun Joe Biden: Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten hat die von Unruhen geplagte Stadt Kenosha besucht – und alles anders gemacht als der Amtsinhaber, berichtet unser Korrespondent Fabian Reinbold.


Aus linken Kreisen kommt die Forderung, die Deutschen sollten früher in Rente gehen – und trotzdem höhere Zahlungen bekommen. Kann das funktionieren? Unser Kollege Mauritius Kloft hat’s überprüft.


WAS AMÜSIERT MICH?

Einfach mal abschalten!

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Freitag. Falls Sie angesichts der vielen Eilmeldungen in diesen Tagen den Überblick verlieren, haben mein Kollege Marc Krüger und ich morgen etwas für Sie. Kommt per E-Mail, wenn Sie ein kostenloses Tagesanbruch-Abo haben. Am Montag kommentiert dann mein Kollege Florian Wichert das Weltgeschehen, ich bin ab Dienstag wieder dran.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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