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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland diskutiert über das Gift Sie trauen Putin alles zu – und nichts
Hat der russische Präsident den führenden Oppositionellen des Landes vergiften lassen? Auch in Russland glauben das viele. Zweifler denken eher an Putins Schwäche als an seine Skrupel.
Es gibt dieser Tage mindestens zwei Russlands, zwei Putins, zwei Nawalnys. Zumindest könnten Leser und Zuschauer in Russland dieser Tage den Eindruck gewinnen. Das ist nicht vollkommen neu, doch immer dann, wenn Oppositionelle aus Fenstern fallen, Dissidenten Gift schlucken oder Journalisten vor ihren Haustüren überfallen werden, beherrschen plötzlich die Doppelgänger die Schlagzeilen der Staatsmedien.
In der Erzählung dieser TV-Sender und Zeitungen ist Russland regelmäßig die verfolgte Unschuld, Präsident Wladimir Putin ein hart für das Volk arbeitender Behördenleiter, und das Opfer des Verbrechens mindestens von zweifelhaftem Charakter, im Falle Nawalnys vermutlich aber sogar ein vom Ausland bezahlter Agent. Diese Berichte sind das Standardrepertoire. In ihnen ist weder der russische Staat, noch der Präsident für irgendetwas verantwortlich, was Oppositionellen und Journalisten zustößt.
"Nawalnys Vergiftung ist Teil eines Musters"
Geradezu verblüffend ist der routinierte Einfallsreichtum, den die üblichen Verdächtigen aus den Reihen der Administration, aber auch der Medien an den Tag legen, wenn diese politischen Zerrbilder mit Fakten konfrontiert sind, die die letzten Bastionen der freien Medienlandschaft in Russland verbreiten. Es gibt sie ja nach wie vor – beispielsweise die vom ehemaligen Staatschef Gorbatschow herausgegebene "Nowaja Gaseta" – auch wenn ihre Journalisten in mehr oder minder regelmäßigen Abständen ermordet werden.
Dort erinnern sich die Journalisten, die weltweit von Berufskollegen als hochprofessionelle Spitzenkräfte geschätzt sind, noch sehr genau, dass ihre Kollegin Anna Politkowskaja schon im Jahr 2004 nach einer Tasse Tee im Flugzeug mit einer Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und die Blutproben danach auf mysteriöse Weise verschwanden. Sie überlebte den mutmaßlichen Anschlag – getötet wurde sie erst zwei Jahre später vor ihrer Wohnung. Die Hintermänner der Tat sind weiterhin nicht gefunden und werden in den Geheimdiensten vermutet. Insgesamt hat die Zeitung in den letzten 20 Jahren fünf Mitarbeiter durch Mordanschläge verloren.
"Nawalnys Vergiftung ist Teil eines Musters", schrieb die "Nowaja Gazeta" deswegen vor einigen Tagen, und kommt damit der Wahrheit mit Sicherheit ein Stück näher als die Staatsmedien. "Reporter ohne Grenzen" zählt seit Amtsantritt Putins 36 Journalisten, die aufgrund ihrer Arbeit in Russland ermordet wurden und etliche weitere Regierungskritiker, die Giftanschläge überlebten. Im Russland Putin'scher Prägung bleiben die Angriffe auf sie straflos. Das Leben der Kritiker zählt nicht viel.
Ertappte Agenten werden geehrt und befördert
Natürlich, nicht alle diese Angriffe, Anschläge und Morde gehen auf persönliche Anordnung des Präsidenten zurück. Aber viele im Land trauen dem ehemaligen Geheimdienstler mittlerweile alles zu. Also auch: den Giftanschlag auf Nawalny persönlich befohlen zu haben. Denn nicht nur werden Spuren der spektakulären Morde regelmäßig zu den Geheimdiensten zurückverfolgt: Bei Giftanschlägen und Auslandsoperationen ertappte Agenten werden geehrt, befördert und geschützt.
Das alles, ohne das Wissen oder die Duldung des mächtigsten Mannes im Land?
Die Alternative wäre ebenso beunruhigend: Dass Putin keineswegs der mächtige Mann im Land ist, sondern ein im Grunde schwacher Despot, der seine Macht nur durch den geschickten Ausgleich der Interessen unterschiedlicher Machtzirkel behauptet. Eine solche These stellt die ehemals vom Kreml-Gegner Beresowski unterhaltene, nun aber dem Kreml nahestehende Zeitung "Nesawissimaja Gaseta", zur Debatte: Es seien womöglich die russischen Sicherheitskräfte, die durch den Anschlag den Konflikt mit dem Westen schüren wollen.
"Viele Offiziere in den Geheimdiensten begreifen sehr wohl, dass ihre Zukunft davon abhängt, ob der Kurs einer geschlossenen Gesellschaft, die sich wie in einer Festung von Feinden umzingelt sieht, erhalten bleibt", stand dort vor wenigen Tagen zu lesen. "Auch die Ereignisse in Belarus hinterlassen bei ihnen sicher einen starken Eindruck. Sie wollen verhindern, dass sie bei ähnlichen Szenarien als erste unter die Räder einer Erneuerung kommen." Die Dienste könnten sich im Zweifel der Unterstützung des Präsidenten sicher sein: "Denn Putin lässt seine Leute nie fallen – selbst wenn sie einen Fehler gemacht haben."
Von eigenmächtigen Diensten und Doppelgängern
Führen die mit unterschiedlichen Fraktionen in Russland verbündeten Geheimdienste also ein unheimliches Eigenleben, dass sich dem Machtanspruch Putins entzieht? Auch der unabhängige Radiosender "Echo Moskwy" mutmaßte – neben anderen Thesen –, "dass einer der Kreml-Türme, der mit einem anderen Kreml-Turm konträr liegt, diesem seine Möglichkeiten zeigen wollte". Putin selbst käme eine solche Interpretation der Ereignisse im Zweifel sicher gelegen.
So gibt es immerhin die Möglichkeit, jede Verantwortung mehr oder minder glaubhaft von sich zu weisen. Was geschieht, wenn alle Belege und Indizien auf staatliche Stellen hinweisen, sind russische Journalisten bereits gewohnt. Die Doppelgänger kommen ins Spiel, das zweite Russland, der zweite Putin, der zweite Nawalny: die "Dezinformatsiya", die seit den Sechziger Jahren zum zentralen Werkzeug der sowjetischen Propaganda gehörte und heute zum Werkzeug des Kremls im In- und Ausland.
- "Dezinformatsiya": Zweifel streuen, Vertrauen untergraben
Als Nawalnys Vergiftung in der Berliner Charité zweifelsfrei festgestellt wurde, hieß es bei "Echo Moskwy": "Die Staatsmacht und ihr Propaganda-Apparat können das Offensichtliche nicht anerkennen. Deshalb werden wir alsbald hören, dass Nawalny von seinen eigenen Leuten vergiftet wurde, weil seine Popularität nachließ, dass es doch Wodka mit Koffein war oder dass die Deutschen sich alles ausgedacht haben, weil der Westen Nawalny sponsert, und dergleichen.“
Wie richtig der Sender liegt, der seine Ursprünge noch in der Glasnost-Zeit hat, zeigt sich mittlerweile Tag für Tag, ähnlich wie nach dem Giftanschlag auf Sergej Skripal in Großbritannien, ähnlich wie nach dem Abschuss der MH-17 über der besetzten Ostukraine, ähnlich wie nach dem Mord an dem Menschenrechtler Boris Nemzow in Moskau. Aus Administration und Staatsmedien werden auch jetzt wieder vielerlei Theorien verlautbart – nur auf Präsident Putin weist keine.
Vergiftung? Ausgeschlossen
Stattdessen werden mit widersprüchlichen Aussagen Zweifel an den Diagnosen der deutschen Ärzte gestreut: Allergie, Zuckerkrankheit, Alkohol und Tabletten, Vergiftung durch die eigenen Mitstreiter, LSD, Stoffwechselstörung. All das wurde schon in den kremlnahen Medien als Ursache erörtert. Der Inlandsgeheimdienst FSB habe Nawalny schließlich lückenlos überwacht, schrieb die besonders gut mit den Sicherheitsbehörden vernetzte Zeitung "Moskowskij Komsomolez". Vergiftung fast ausgeschlossen also.
Zeitgleich gehen auch die Offiziellen in die Offensive: "Wir verstehen nicht, warum es unsere deutschen Kollegen so eilig haben, das Wort 'Vergiftung' zu verwenden", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow kurz nach der ersten Diagnose der Ärzte. Da hatten schon zahlreiche Toxikologen sowohl in Russland als auch in Deutschland erläutert, dass die Vergiftung selbst sehr einfach an den Symptomen und mittels einfacher Tests festzustellen sei. Der konkrete Giftstoff sei schwieriger nachzuweisen.
Da die Ärzte nun auch diesen gefunden haben – es handelt sich um das sowjetische Nervengift Nowitschok, das auch bei Skripal zum Einsatz kam – wird der Kreml offensiver. Beweise seien keine vorgelegt worden, heißt es nun. Peskow deutete an, Nawalny sei im Flugzeug auf dem Weg zur Charité vergiftet worden, also nachdem er ins Koma fiel. Eine Behauptung, die dann tatsächlich anschließend vom mutmaßlichen Mörder Andrej Lugowoj aufgestellt wurde, der heute Parlamentsabgeordneter in der Duma ist.
"Eine Krankenschwester, ein Arzt könnte die Substanz verabreichen, wenn sie Nawalny wirklich auf irgendeine Weise mit einer giftigen Substanz in Berührung bringen wollten. Ich bin sicher, genau das ist passiert." Lugowoj ist der Hauptverdächtiger im Mord an dem Ex-Agenten Alexander Litwinenko, der 2006 mit Polonium in einem Tee vergiftet wurde, und anschließend qualvoll in London starb.
Die Blutspur des Kreml
Nun steht die Behauptung: Deutschland soll den Mordanschlag inszeniert haben. Dafür will Alexander Lukaschenko, der von Putin gestützte Diktator aus Belarus, sogar feste Beweise haben. Wer für die anderen Morde und Anschläge verantwortlich ist? Für den Mord per Kopfschuss im Berliner Tiergarten ist ein Mann angeklagt, der im Auftrag des russischen Staates, das Attentat ausgeführt haben soll. Es folgt eine (unvollständige) Liste mit weiteren politischen Morden an Kreml-Gegnern. Die Hintergründe sind jeweils nicht vollständig aufgeklärt oder führen direkt zu den Geheimdiensten:
Georgi Markow (1978): Der oppositionelle bulgarische Schriftsteller starb in London an einer tödlichen Dosis Rizin. Ein Passant hatte sie ihm auf der Straße mit einer Art Regenschirm verabreicht.
Juri Schtschekotschichin (2003): Der Journalist starb qualvoll an plötzlich auftretendem multiplem Organversagen. Eine Vergiftung wurde vermutet. Er recherchierte über den FSB.
Viktor Juschtschenko (2004): Der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine erkrankte damals schwer. Sein Gesicht trägt bis heute die Spuren der Dioxin-Vergiftung.
Alexander Litwinenko (2006): Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker starb in London an einer Polonium-Vergiftung. Zuvor hatte er mit den Ex-KGB-Agenten Dmitri Kowtun und Andrej Lugowoi Tee getrunken.
Anna Politkowskaja (2006): Die Journalistin überlebte einen Giftanschlag und wurde später ermordet. Täter und Hintermänner stammen höchstwahrscheinlich aus dem Geheimdienst.
Alexander Perepilitschni (2012): Der russische Geschäftsmann und Kronzeuge starb 2012 beim Joggen in der Nähe von London. Eine spätere Untersuchung ergab Spuren von Gift in seinem Magen.
Boris Nemzow (2015): Der Oppositionelle wurde in Moskau erschossen. Die Hintergründe sind unklar. Vermutet werden staatliche Drahtzieher.
Emilian Gebrew (2015): Der bulgarische Rüstungsfabrikant erkrankte schwer und überlebte nur knapp. Dahinter steckte laut Medienberichten ein Killerkommando des russischen Geheimdiensts GRU.
Wladimir Kara-Mursa (2017): Der Aktivist und Mitstreiter von Nemzow wurde vergiftet. Die Hintergründe sind nicht aufgeklärt.
Sergej Skripal (2018): Der ehemalige Doppelagent und seine Tochter Julia wurden in Großbritannien mit Nowitschok vergiftet. Ermittler und Journalisten haben die mutmaßlichen Attentäter als russische Geheimdienstagenten entlarvt.
Pjotr Wersilow (2018): Der russische Aktivist wurde mit Symptomen einer Vergiftung in der Berliner Charité behandelt. Er hatte zu anderen ermordeten Journalisten recherchiert.
- Eigene Recherchen
- Reporter ohne Grenzen: "Russland: Angriffe auf kritische Medienschaffende"
- Nowaja Gaseta: "Russia, Explained #48"
- N-Ost: Eurotopics
- mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters