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Moskaus Außenpolitik: Warum Russland so rabiat auftritt


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Was heute wichtig ist
Militant, brutal, skrupellos

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.06.2020Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin will Russland zu alter Größe zurückführen.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin will Russland zu alter Größe zurückführen. (Quelle: imago images)

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WAS WAR?

"Es ist leichter, eine Kränkung zu rächen, als sie zu ertragen", hat der russische Schriftsteller Lew Tolstoi notiert, und da er ein großer Kenner der menschlichen Seele war, dürfen wir ihm glauben. Psychologen wiederum berichten, dass die meisten zwischenmenschlichen Konflikte durch Kränkungen ausgelöst werden. Sie tragen Züge von Angst, Schmerz und Scham und wurzeln meist in einem Gefühl der Bedrohung. Ihre Folgen können gravierend sein. Ein betrogener Ehemann meuchelt seine Gattin, ein geprellter Unternehmer hetzt Geschäftspartnern Schläger auf den Hals, ein im Machtkampf unterlegener Staatschef zettelt einen Krieg an. Ob wir in Gerichtsakten oder in Geschichtsbücher schauen: Die Chroniken sind voll von gekränkten Seelen, die um sich schlagen. Die einen wahllos, die anderen kühl kalkulierend.

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Diese Erkenntnis sollten wir einen Moment auf uns wirken lassen, bevor wir die folgende Liste der Gewalttätigkeiten und Attacken durchgehen: Krieg in Georgien 2008. Krieg in der Ukraine und Annexion der Krim 2014. Hackerangriff auf den Deutschen Bundestag 2015. Kriegseinsatz in Syrien seit 2015. Manipulation des amerikanischen Wahlkampfs und Beeinflussung des Brexit-Referendums 2016. Giftanschlag auf den Überläufer Sergej Skripal 2018. Söldnereinsatz in Libyen seit 2019. Mord im Berliner Tiergarten 2019. Die Liste ließe sich fortsetzen, und immer ist es derselbe Ort, der die Aggression schürt: Der Kreml in Moskau hat sich in den vergangenen 13 Jahren zu einer Quelle der Destruktion entwickelt. Wer diesen Satz ins Internet schreibt, wird augenblicklich zur Zielscheibe russischer Bots und außerdem viele erboste E-Mails der "Ja-aber-die-Amerikaner/Chinesen/Europäer/Wer-auch-immer"-Fraktion ernten. Wahr ist er trotzdem. Und Deutschland trägt Schaden davon.

Die deutsche Bundesanwaltschaft ist sich sicher: Das Attentat auf den georgischen Asylbewerber Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten im August vergangenen Jahres war ein Auftragsmord der russischen Regierung. Gestern hat der Generalbundesanwalt Anklage erhoben. Changoschwili kämpfte zwischen 2000 und 2004 im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die Russen, Präsident Wladimir Putin nannte ihn einen Terroristen. Dass der Mann Zuflucht in Deutschland gesucht hatte, hielt der Anklage zufolge einen Handlanger des Kremls nicht davon ab, ihn eiskalt zu erschießen.

Die Reaktionen deutscher Politiker fallen drastisch aus. Außenminister Heiko Maas (SPD) spricht von einem "außerordentlich schwerwiegenden Vorgang" und kündigt an: "Die Bundesregierung behält sich weitere Maßnahmen in diesem Fall ausdrücklich vor." Aus dem Diplomatendeutsch übersetzt heißt das so viel wie: Das wird ernste Folgen haben. CDU-Mann Thorsten Frei spricht von einer "neuen Qualität völkerrechtswidriger russischer Handlungen in Deutschland", sollte sich der Verdacht bestätigen. "In keiner Weise können wir hinnehmen, dass ein anderer Staat auf unserem Territorium gezielte Tötungen vornimmt. Wir sind keine Bananenrepublik."

Noch steht das Gerichtsurteil aus, aber da deutsche Geheimdienste die Verantwortlichen ebenfalls im Kreml sehen, wird die Bundesregierung um eine harte Antwort kaum herumkommen. Zwei russische Diplomaten wurden bereits ausgewiesen, dabei dürfte es nicht bleiben. Über neue Sanktionen wird gemunkelt, aber auch über das Einfrieren der diplomatischen Beziehungen. Man müsse den Russen jetzt klipp und klar zeigen, dass sie zu weit gegangen seien, heißt es im Berliner Regierungsviertel. Moskau verstehe nur Härte, fügt einer hinzu. Tatsächlich ist das Wort "aggressiv" längst zu klein für Russlands Machtpolitik. Sie ist militant, brutal und skrupellos, begleitet von einem Chor aus Lügen. Außenminister Sergej Lawrow hat es in dieser Disziplin zu ebenso großer Raffinesse gebracht wie in der Taktik, jeden Vorwurf sofort mit einem Gegenvorwurf zu kontern.

Warum macht er das? Warum macht sein Chef Putin das? Staatliche Interessenpolitik ist das eine, und der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass natürlich auch die Chinesen, die Amerikaner und viele andere Nationen keine Skrupel haben, ihre Ziele gewaltsam durchzusetzen. Aber das ständige außenpolitische Zündeln des Kremls hat eine eigene Qualität. Und eine eigene Logik. Drei Gründe sind es, die man zur Erklärung anführen kann, wenn man keine Dissertation, sondern nur einen Morgen-Newsletter schreibt:

Da ist erstens das Trauma des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Russland ist keine Supermacht mehr, aber es ist eine gekränkte Ex-Supermacht. Als der damalige US-Präsident Barack Obama das Land Anfang 2014 als "Regionalmacht" verspottete, hätte er ebenso gut eine Cruise Missile auf den Kreml feuern können. Der Satz traf Moskaus Militär- und Politikelite ins Mark, bis heute erregen sich Offiziere, Geheimdienstler und Nationalisten darüber. Der Schmerz über den verlorenen Status nährte die Angst vor einem übermächtigen Westen, der sich mithilfe der Nato-Osterweiterung in der russischen Einflusssphäre breitmachte. Schon 2007 hatte Putin den Amerikanern vorgeworfen, eine unipolare Welt anzustreben und keine Rücksicht auf Russlands Interessen zu nehmen. Seither wähnen sich die Kreml-Strategen in einem Schattenkrieg gegen den Westen. Die Schlachtfelder dieses Krieges liegen mal in Drittstaaten wie der Ukraine, Syrien oder Libyen, mal im Internet und mal im Berliner Tiergarten. Zugleich sollen die rabiate Außenpolitik und das chauvinistische Gebaren den Russen das Selbstbewusstsein einer wiedererstarkenden Großmacht einimpfen: Seht her, wir sind wieder wer!

Dabei erscheint keine Drohung zu groß. "Putin und andere hochrangige Politiker haben das nukleare Säbelrasseln so laut erklingen lassen wie nie zuvor nach dem Kalten Krieg. Das ist Anklage gegen den Westen – und hat zugleich innere Gründe", sagt die langjährige Moskauer ARD-Korrespondentin Golineh Atai. "Einige Veröffentlichungen russischer Militärexperten legen Gedankenspiele über einen begrenzten Nuklearschlag Russlands nahe." Deutsche Geheimdienste wiederum beobachten, dass sich Russland auf einen bewaffneten Konflikt mit der Nato vorbereitet. Der Ausbau des Kernwaffenarsenals spiele dabei eine entscheidende Rolle. Den Syrien-Krieg hätten russische Piloten als Training benutzt, um ihre Treffsicherheit zu verfeinern. Es ist leichter, eine Kränkung zu rächen, als sie zu ertragen.

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Der zweite Grund für Russlands rabiates Auftreten erscheint profaner: Indem er ständig ins Feuer der Konflikte pustet, lenkt Putin von seinem eigenen Versagen ab, den Russen ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen. Bis heute ist es dem Alleinherrscher nicht gelungen, die Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu verringern. Der gefallene Ölpreis schlägt voll in die Rentenkassen durch, viele Bürger leiden unter der Armut, noch mehr sind unzufrieden. Umso nervöser reagiert die Staatspropaganda auf jede Kritik. Noch einmal Golineh Atai: "Am meisten fällt mir auf, wie zentral Verschwörungstheorien im politischen System geworden sind – das Denken, dass ‘ein Feind da draußen im Westen‘ gegen ‘uns‘ agiert. Diese staatlich betriebene Paranoia ist zuweilen bedrückend für den Beobachter. Protest gegen eine Entscheidung von oben wird schnell als Landesverrat diskreditiert. Es geht nicht darum, dass ein Bürger die Lebensqualität verbessern will – nein, er agiere angeblich im Dienst eines ausländischen Staates. Welchen Wert hat das Individuum, wenn es entweder als demographische Masse zum Machterhalt des Staates herhalten muss oder als geheimer Staatsfeind? Im Denken der Eliten scheint es nur den Staat oder Staaten zu geben, aber keine Menschen." Psychologisch lässt sich das erklären, aber gesund klingt es nicht.

Und der dritte Grund? Durch das permanente Zündeln gibt Putin seinem Sicherheitsapparat eine Beschäftigung. Wenig ist gefährlicher als Militärs, die nichts zu tun haben und sich langweilen. Destruktive Energie kann sich dann schnell nach innen richten, auch gegen den Mann an der Spitze. Geheimagenten und Offiziere aber, die in der Ostukraine und in Syrien einmarschieren, die Söldner in Libyen einschleusen und Attentate in London und Berlin planen, haben keine Zeit, am Stuhl ihres Chefs zu sägen. Die Bedrohung wird permanent umgelenkt und nährt sich zugleich immerzu selbst. So kann man sie erklären, die Folgen der russischen Kränkung – und dabei bedauern, wie sich dieses großartige Land in einem Kreislauf aus Angst und Zerstörung selbst gefangen hält. Oder man schaut noch einmal bei Lew Tolstoi nach: "Ohne Selbsterkenntnis ist jede Beobachtung und jede Vernunftanwendung unmöglich." Wie recht er doch hat, der große Russe.


WAS STEHT AN?

Der Wunsch zu fliegen ist so alt wie die Menschheit, sagt man. Der Gedanke, sich über die Niederungen des Alltags zu erheben, hat etwas Erhabenes an sich. Dieses schwerelose Schweben wünschen sich auch dringend die Airlines zurück, deren Maschinen noch immer mehrheitlich am Boden kleben. Die ganze Branche ächzt unter der Corona-Krise: Bodenpersonal, Flughafenbetreiber, Flugzeugbauer, Kurzarbeit hier, Jobabbau dort. Gerade erst hat der Betreiber des Frankfurter Flughafens mit der Entlassung von 4.000 Leuten gedroht. Für heute hat die Gewerkschaft Verdi zum Protest dagegen aufgerufen, dass die Krise auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen wird. Viel ändern wird es nicht: Die Branche liegt am Boden. Unter den Airlines der Welt rückt das große Ausfegen näher.

Aber nur weil finanzschwache Fluglinien auf den Konkurs zusteuern, heißt das noch nicht, dass es am Himmel auch künftig leerer wird. Wenn die Branche den Virusschock überstanden hat – sobald es einen Impfstoff gibt oder falls sich das Fliegen mit Maske als sicher erweist –, wird auch die Nachfrage zurückkehren. Zwar hat der eine oder andere Urlauber vielleicht entdeckt, dass man sich auch ohne Langstreckenflug prima erholen kann. Womöglich hilft auch das schlechte Umweltgewissen ein bisschen nach. Aber vor dem Kahlschlag durch Covid-19 stieg das weltweite Passagieraufkommen von Jahr zu Jahr.

Wenn die Erinnerung an die Corona-Krise verblasst, kann die Luftfahrtindustrie darauf hoffen, zurück nach oben zu schnellen wie ein Jo-jo. Jedenfalls, wenn wir nichts dagegen tun. Dass der Dreck aus den Düsen seinen Teil zur Aufheizung der Welt beiträgt, haben viele Menschen inzwischen zwar verstanden, aber die Fluglust hat das nicht gebremst. Von der Luftfahrtindustrie wiederum kann man schwerlich verlangen, freiwillig auf ein klimafreundliches Geschäftsmodell umzuschwenken, statt sich auf jeden willigen Passagier zu stürzen. Dennoch kann es nicht weitergehen wie zuvor. Die Corona-Krise zwingt die Branche, sich neu aufzustellen – eine historisch einmalige Gelegenheit, sie dabei auf einen neuen Kurs zu bringen: einen, der uns nicht so einheizt wie der alte mit seiner miesen Emissionsbilanz.

Aber von selbst wird das nichts. Es ist der Moment, in dem die Politik die Chance ergreifen und die Weichen stellen muss. Der erhabene Traum vom Fliegen hat sich als Herumdüsen in engen Blechdosen entpuppt, so voll, so eng und so profan wie die S-Bahn-Fahrt im Berufsverkehr. Vielleicht finden wir unser Glück in bodenständigeren Visionen. Wie wär's mit einer gemäßigten, lebenserhaltenden Durchschnittstemperatur? Österreich macht uns gerade vor, wie es geht.


Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen sich heute zum Videogipfel. Es geht um den mehrjährigen Finanzrahmen und den milliardenschweren Wiederaufbauplan nach der Viruskrise. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat ein siebenjähriges Budget im Umfang von 1,1 Billionen Euro und ein kreditfinanziertes Programm zur wirtschaftlichen Erholung in Höhe von 750 Milliarden Euro vorgeschlagen. Nicht vergessen: Die Summen fallen nicht vom Himmel, sondern müssen von vielen Steuerzahlern hart erarbeitet werden.


Familientreffen per Zoom, Meeting per Telefonkonferenz: Die Pandemie hat unser Sozialleben verändert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nimmt den heutigen Digitaltag zum Anlass, den Zusammenhalt per Computer und Smartphone in Corona-Zeiten zu würdigen. Dabei zeigen Wissenschaftler, wie ländliche Regionen dank der Digitalisierung neue Chancen erhalten.


WAS LESEN?

Corona-Ausbruch in seinem Schlachtbetrieb, sportliche Krise bei seinem Verein FC Schalke 04: Clemens Tönnies steht im Feuer der Kritik. Mein Kollege David Digili hat den Fleisch-Milliardär porträtiert.


Die Bundesregierung rühmt die neue Corona-App – doch da, wo das Virus grassiert, scheitert die App oft schon an fehlenden Sprachkenntnissen. Der Leiter eines Berliner Gesundheitsamts berichtet in der "Süddeutschen Zeitung" von seinem ernüchternden Alltag.


Gütersloh, Berlin und Göttingen sind in den Schlagzeilen – doch auch an anderen Orten gibt es sprunghafte Anstiege der Corona-Infektionen. Wie sich die Lage in Deutschlands Landkreisen entwickelt, zeigen Ihnen meine Kollegen Arno Wölk und Martin Trotz.


WAS AMÜSIERT MICH?

Doof, so ein Ausbruch im Schlachthof.

Ich wünsche Ihnen einen herzhaften Start in den Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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