Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Die unsichtbare Gefahr über den Wolken
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WAS WAR?
Jeder große Schauspieler hat eine Geheimwaffe. Etwas, das ihn oder sie selbst in unterschiedlichen Rollen unverkennbar macht und uns Zuschauer auch dann noch fesselt, wenn wir einen Film oder eine Theateraufnahme Jahrzehnte nach der Premiere wieder sehen. Bei manchen ist es das Mienenspiel, bei anderen der Blick oder eine charakteristische Geste. Bei Irm Hermann war es die Stimme. Wie ein Eiszapfen, den man aus der Tiefkühltruhe zieht: So klirrend kalt konnte sie mit einem einzigen Satz ein Gegenüber verbal erdolchen. Sei es als emotionslose Krista in Fassbinders "Angst essen Seele auf", als mürrische Irmgard im "Händler der vier Jahreszeiten" oder als besserwisserische Tante Hedwig in Loriots "Pappa ante portas". Mit ihren Kleinbürgerrollen in den Filmen des ungeheuerlichen Genies Rainer Werner Fassbinder reifte sie zur Berühmtheit, aber sie fand sich später ebenso mühelos in Komödien und Krimis zurecht. Warmherzig und lustig konnte sie spielen, aber wenn es die Rolle erforderte, genügte ein Satz aus dem Eisfach, um das Publikum erstarren zu lassen. Mit dem kaum weniger ungeheuerlichen Christoph Schlingensief brachte sie die Theaterwelt als herrische Kanzlergattin in der "Berliner Republik" zum Beben.
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Nun ist die große Schauspielerin Irm Hermann im Alter von 77 Jahren gestorben. Als ich die Nachricht gestern sah, wurde mir erst kalt ums Herz. Was, sie auch schon tot? Die Trauer um eine unvergleichliche Künstlerin, die uns ganz besondere Momente im Kino und im Theater bescherte – und ein wenig auch die Bestürzung darüber, wie schnell die Zeit vergangen ist und man selbst trotz aller Gegenwehr auch schon gealtert ist. Aber dann wich die Eiseskälte der Dankbarkeit und Wärme breitete sich aus: Irm Hermann und ihre Geheimwaffe sind ja nicht verloren, wir können sie auch jetzt und in vielen Jahren noch bewundern. Höchste Zeit also, sich mal wieder vor die Flimmerkiste zu setzen, "Angst essen Seele auf" anzuschauen und uns von dieser einzigartigen Stimme fesseln zu lassen!
WAS STEHT AN?
Auf einfache Fragen wünschen wir uns einfache Antworten. Bald beginnt die Urlaubszeit, können wir es also wieder wagen, uns in ein Flugzeug zu setzen? Na, das ist simpel. Endlich mal keine komplizierten Expertenkommentare à la "das kommt drauf an" und "wir wissen es nicht". Eine Röhre, dicht an dicht vollgepackt mit Menschen und dann für mehrere Stunden versiegelt: Wollte man sich ein Experiment ausdenken, in dem perfekte Übertragungsbedingungen für das Coronavirus geschaffen werden sollen – so sähe es aus.
Aber halt. Trüge der Erreger menschliche Züge, dann hätte er jetzt ein hämisches Grinsen aufgesetzt, sich bei ein paar Airline-Lobbyisten untergehakt und riefe uns zu: Nichts ist hier klar! Die Airline-Lobbyisten wedeln schon hektisch mit einer Untersuchung der europäischen Luftfahrtaufsichtsbehörde EASA, in der zu lesen ist, dass der Mief am Boden – egal ob im Büro, im Kindergarten oder in der Wohnung – viel schlimmer ist als in der Passagierkabine. Und sie berufen sich auch noch schnell auf das Robert Koch-Institut, um festzustellen, es sei "kein einziger Fall bekannt geworden, bei dem eine Ansteckung mit Covid-19 an Bord eines Flugzeugs erfolgt ist".
So weit, so erwartbar. Von den Interessenvertretern der Luftfahrtbranche eine farbenfrohe Schilderung der Ansteckungsrisiken beim Fliegen zu erwarten, wäre vielleicht ein bisschen viel verlangt. Aber gab es wirklich keine Übertragung in einem Flugzeug? Bei der Einschleppung des Coronavirus nach Deutschland konnten wir schon froh sein, wenn sich im Einzelfall die Verbindung zu einer Reise nach Norditalien feststellen ließ. Nur weil sich Infektionen nicht punktgenau zum Sitzplatz in der fliegenden Röhre zurückverfolgen lassen, heißt das noch lange nicht, dass es dort keine gibt. Und die zitierten Luftqualitätstester im Auftrag der EASA hatten sich eh für chemische Verunreinigungen anstatt für Viren, Bakterien und Infektionsrisiken interessiert.
Dennoch sind die fliegenden Kisten keine simplen Zirkulationskammern für Tröpfchen und Keime. Im Lüftungssystem sind Filter verbaut, an denen Erreger nicht vorbeikommen. Auch für hinreichend Frischluftzufuhr von draußen ist gesorgt. Als Risikozone für eine Infektion gelten deshalb nur die unmittelbar angrenzenden Sitzreihen, und insbesondere natürlich die Nachbarn auf dem Nebenplatz. Auch ausgedehnte Aufenthalte im Gang – zum Beispiel in Warteposition vor der Toilette – geben dem Erreger eine Chance. Die schlechteste Nachricht von allen ist jedoch infiziertes Bordpersonal.
Diese Risiken kann man immerhin eindämmen, wenn man konsequent eine Maske trägt – übrigens nicht nur im Flugzeug selbst, sondern spätestens dann, wenn man den Flughafen betritt. Denn die Prozeduren bei Check-in, Sicherheitskontrolle und Boarding sind möglicherweise sogar riskanter als der Aufenthalt an Bord. Experten empfehlen den Airlines außerdem, nicht alle Plätze zu besetzen und insbesondere den Mittelplatz freizulassen. Die Richtlinien der EU raten ebenfalls dazu – schreiben es aber nicht vor. Das ist auch kein Wunder, denn so fände in den meisten Maschinen einer von drei Passagieren keinen Platz mehr an Bord. Ein teures Vergnügen. So bleibt es bei der unverbindlichen Empfehlung. Die Wirtschaft geht vor.
Aber mit Maske und zusätzlichem Platz wäre dann alles okay? Oh, wir haben die Praxis vergessen! Die Kollegen von "Report Mainz" sind gerade zu einem Dreh nach Portugal geflogen und haben die Flugreise auch gleich gefilmt. Sehen Sie sich das doch schnell noch an, bevor sie kurzfristig den Urlaubsflug buchen. Vielleicht verbringen Sie die Ferien dann doch lieber in Deutschland.
Der Rechtsausschuss zählt zu den wichtigsten Gremien des Bundestags. Nach mehreren Eklats hatten die Abgeordneten im November 2019 den Vorsitzenden Stephan Brandner von der AfD abgewählt – ein einmaliger Vorgang in der 70-jährigen Parlamentsgeschichte. Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob das rechtens war.
Biestige Nachbarn können das Leben zur Plage machen. Nette Nachbarn dagegen können es bereichern. Der heutige "Tag der Nachbarn" soll der Isolierung von Menschen in städtischen Ballungsgebieten entgegenwirken: eine Gelegenheit, die Leute im Viertel zu besuchen, bei einem Schwätzchen näher kennenzulernen und ihnen vielleicht auch eine helfende Hand zu reichen. Tolle Idee, finde ich. Findet auch der Bundespräsident: Frank-Walter Steinmeier besucht heute mehrere Nachbarschaftsinitiativen in Berlin. Vielleicht mögen sie ihm ja nacheifern und einfach mal nebenan vorbeischauen.
WAS LESEN UND HÖREN?
Der Fall Achille Mbembe zieht Kreise: Seit Wochen diskutieren Intellektuelle über den vielleicht berühmtesten afrikanischen Denker der Gegenwart. Ist er ein Antisemit? In der Debatte stecken wichtige Lehren zum Umgang mit dem Holocaust, der Apartheid und Israel, findet unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.
Gestern schrieb ich an dieser Stelle einen langen Text über den Niedergang der amerikanischen Weltmacht. Nun nennt mein Kollege David Ruch fünf Krisen, mit denen die USA in diesen Tagen zu kämpfen haben.
Donald Trump will es wissen: Er hat einen Beschluss unterzeichnet, mit dem der Schutz sozialer Medien wie Twitter und Facebook vor Strafverfolgung beendet werden soll. Das klingt erst einmal nicht schlecht, weil die Plattformen sich beharrlich weigern, Hetze und Lügen zu löschen. Doch Trump wäre nicht Trump, wenn es ihm in Wahrheit nicht um etwas ganz anderes ginge: ihn selbst.
Während viele europäische Länder die Corona-Regeln lockern, zeigen neue Zahlen aus Lateinamerika eine dramatische Entwicklung: Täglich stecken sich mehr Menschen mit dem Virus an. Die Folgen zeigen Ihnen meine Kollegen Arno Wölk und Sandra Sperling.
Die geplante Corona-App der Bundesregierung soll zwar erst in drei Wochen fertig sein, aber schon jetzt weckt sie große Hoffnungen auf mehr Freiheit, mehr Normalität, mehr Lockerheit. Ist das berechtigt? "In meiner Wahrnehmung wird die Bedeutung dieser App systematisch überschätzt", sagt die Digital-Expertin Jeanette Hofmann in unserem Podcast "Tonspur Wissen". Doch die Technologie könnte künftig auch in der Polizeiarbeit zum Einsatz kommen – etwa im Kampf gegen Terroristen.
WAS AMÜSIERT MICH?
Pistazien lassen sich so schwer öffnen, Fische so schwer entgräten, und der Pfefferstreuer ist auch immer verstopft: So viele kleine Dinge erschweren unseren Küchenalltag. Dabei lassen sie sich ganz leicht lösen: mit ein bisschen Fantasie (und ein bisschen Gutgläubigkeit).
Ich wünsche Ihnen einen fantasievollen Tag. Wenn Sie den Tagesanbruch als E-Mail abonniert haben, bekommen Sie morgen die Wochenendausgabe geschickt. Mein Kollege Marc Krüger hat wieder zwei anregende Themen für Sie (und mich) vorbereitet.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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