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Corona-Krise in Deutschland und Angela Merkel: Mutti gibt klein bei


Meinung
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Was heute wichtig ist
Mutti gibt klein bei

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.05.2020Lesedauer: 8 Min.
Angela Merkel entgleiten in der Corona-Krise zusehends die Zügel.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel entgleiten in der Corona-Krise zusehends die Zügel. (Quelle: Kay Nietfeld/ap)

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WAS WAR?

Autorität ist eine besondere Qualität. Man besitzt sie nicht, sie wird einem von anderen Menschen zugebilligt. "Auf Leistung oder Tradition beruhender Einfluss einer Person und daraus erwachsendes Ansehen": Diese Definition liefert uns der Duden, aber im politischen Geschäft braucht es natürlich mehr, um als Autorität zu gelten. Macht. Erfahrung. Kontakte. Ausstrahlung und Ausdauer sind wichtig. Fachwissen auch, weshalb man viel lesen muss (oder fleißige Helfer braucht, die das Lesen übernehmen). Ein Gespür für Stimmungen sollte man haben. Und die Gabe, im entscheidenden Moment die richtigen Worte zu finden.

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Angela Merkel hat in der Corona-Krise fast zwei Monate lang die Rückendeckung der Deutschen gehabt, die Mehrheit der Bevölkerung folgte ihrer Autorität. Die Kanzlerin entschied die Kontaktsperre und schickte die Bürger in die Isolation, sie ließ die Geschäfte schließen und brachte das öffentliche Leben fast zum Erliegen. Das gelang ihr nur mit der Kraft ihrer Autorität; Einsicht oder Polizeistreifen allein hätten nicht genügt. Ihre Ansprachen und Appelle dienten Millionen Menschen als Richtschnur durch die größte Krise seit Jahrzehnten. Sie selbst wird das Bild nicht mögen, es passt trotzdem: Wie eine Mutter der Nation behütete Angela Merkel die Bürger vor dem bösen Virus.

Die meisten Leute folgten ihr, und das war richtig so. Nur dank der beeindruckenden Disziplin von Millionen Bürgern zwischen Flensburg und Füssen, zwischen Dresden und Duisburg gelang es, die Corona-Epidemie unter Kontrolle zu bekommen. Nicht wenige Menschen klagen über die Folgen, einige meckern auch, und mancher Wirrkopf wittert gar einen teuflischen Plan hinter der Ausgangssperre – aber in den Geschichtsbüchern wird man dereinst Anerkennung dieser großen kollektiven Leistung der Deutschen lesen.

Einen Absatz weiter wird man allerdings lesen, wie der Kanzlerin die Kontrolle entglitt. Wie erst Herr Laschet und Herr Lindner aus NRW, dann Herr Kubicki aus Wolkenkuckucksheim, anschließend Herr Weil, Herr Kretschmer und nach und nach immer mehr Ministerpräsidenten, Abgeordnete, Landräte, Kommunalpolitiker und sonstige Titelträger in den Chor der Lockerungsherolde einstimmten. Wie ein Entscheidungsträger nach dem anderen auf den Einheitsappell und die Autorität der Kanzlerin pfiff und nach Belieben öffnete, was eben noch geschlossen war: Auto- und Möbelhäuser, Geschäfte und Sportanlagen, Ferienwohnungen und Campingplätze, dies und das. Wie schließlich Herr Söder, eben noch ein grimmiger Verteidiger strick!tes!ter! Maß!nah!men!, am Vortag des entscheidenden Treffens auch noch rasch die Seiten wechselte und Lockerungen anpries, um ja nicht zu spät zu kommen. Und wie sich zu guter Letzt auch die Kanzlerin im Beisein ihrer Unionsleute locker machte und (da alles andere entweder schon längst umgesetzt oder schon von allen anderen gefordert worden war) Erleichterungen für Schulen, Kitas, Kultureinrichtungen und Pflegeheime forderte. Frau Merkel, die noch vor Wochenfrist "Öffnungsdiskussionsorgien" angeprangert und ihrer Sorge vor einer zu schnellen Rückkehr in die Normalität Luft gemacht hatte, hat offensichtlich erkannt, dass sie auf verlorenem Posten kämpft. Also wechselt sie die Seiten. Mutti gibt klein bei.

"Inzwischen gibt nicht mehr die Kanzlerin den Weg vor, sondern die Ministerpräsidenten", schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert, deren Report ich Ihnen heute Morgen sehr empfehle. "Jetzt ist der politische Wettlauf endgültig entbrannt: Einige Ministerpräsidenten wollen nun als große Befreier dastehen", zitieren sie eine Stimme aus dem Umfeld der Kanzlerin – und analysieren: "Die Kanzlerin hat ihren politischen Abschied angekündigt, sie kann niemanden mehr mit der Aussicht auf einen Posten in der nächsten Regierung disziplinieren."

Man kann sich darüber mokieren, man kann es aber auch lassen. Das ist Politik. Das ist Föderalismus und das ist Demokratie. Die Volksvertreter tun, wofür sie gewählt worden sind: Sie geben den Wünschen in der Bevölkerung Stimmen und setzen sie um. Die Gründe für die Fliehkräfte liegen ja auf der Hand:

Erstens ist sowohl die Zahl der aktuell Infizierten (rund 25.000) als auch die Reproduktionszahl (0,71) stark gesunken, die Gesundheitsämter und Krankenhäuser haben die Lage weitgehend im Griff.

Zweitens wächst der Druck der Unternehmen und Wirtschaftsverbände, endlich wieder alles aufsperren zu dürfen. Einer McKinsey-Studie zufolge schrumpft das Bruttoinlandsprodukt um rund 15 Milliarden Euro pro Woche.

Drittens haben viele Menschen den Corona-Blues. Draußen ist Frühling, sie wollen ihr gewohntes Leben zurückhaben. Wollen shoppen, Sport treiben, ins Restaurant gehen, Freunde treffen, Urlaub planen, beim Friseur die Corona-Mähne loswerden.

Viertens kommt ein diffuses Gefühl hinzu, das die wenigsten aussprechen (wenn sie nicht Boris Palmer heißen), aber viele hegen: Der tödliche Fluch von Covid-19 trifft ja fast nur sehr alte Menschen – also können Jüngere doch wieder unbesorgt draußen herumflitzen. Das Gefühl ist menschlich, aber es ist auch unsolidarisch und gefährlich, weil es die Grenze zur Unvorsichtigkeit touchiert: Werden die Vorsichtsregeln – Abstand halten, Mundschutz tragen, Kontakte protokollieren – von vielen Menschen vernachlässigt, können die Infektionszahlen schnell wieder steigen. Es werde "mit großer Sicherheit" eine zweite Corona-Welle geben, hat der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, gestern gesagt. Viele Wissenschaftler gehen sogar von einer dritten Welle aus.

So ist die Lage. Das Risiko bleibt groß, aber die Fliehkräfte sind größer. Der Ausnahmezustand scheint vorbei, der deutsche Politikalltag ist wieder da, und die Kanzlerin wird kurzerhand auf Normalmaß zurückgestutzt: von der unangefochtenen Krisenkämpferin zur getriebenen Regierungschefin, der am Ende ihrer Amtszeit die Zügel entgleiten. So ist das mit der Autorität. Man besitzt sie nicht, sondern sie wird einem zugebilligt. Dreht sich der Wind, verfliegt sie geschwind.


WAS STEHT AN?

Jetzt reicht’s!: Dieses Gefühl haben viele Bürger, und so ist auch aus Berlin nur eine Verständigung über das Wie, nicht über das Ob weiterer Lockerungen zu erwarten, wenn sich heute ab 11 Uhr die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten zur Telefonkonferenz zusammenbimmeln. Grundlage dafür sind die gesunkenen Infektionszahlen, der Sieg über Covid-19 scheint zum Greifen nahe. Heute stehen die Chancen hervorragend, ihn kurz vor dem Ziel zu versemmeln.

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Wie das? Überall auf der Welt machen Staaten, die das Schlimmste hinter sich haben oder es wie in Deutschland gerade noch abwenden konnten, den Laden wieder auf. Selbst die als Vorbilder gepriesenen Asiaten lockern sich allmählich. Südkorea nimmt die Wiederaufnahme des Schulbetriebs ab 13. Mai in den Blick, sogar im strengen Hongkong dürfen nun wieder bis zu acht Menschen gleichzeitig am Restauranttisch dinieren. So viele Menschen in Entscheidungsverantwortung überall auf der Welt entscheiden gerade dasselbe. Die können sich doch nicht alle irren.

So scheint es – bis man genauer hinsieht. Denn unter der Lupe offenbart sich: Das, was als Etappensieg über Covid-19 gefeiert und als lang erwartete Rückkehr in die Normalität gepriesen wird, könnte unterschiedlicher nicht sein. Südkorea befasst sich mit täglichen Neuinfektionen inzwischen nur noch im einstelligen Bereich: Am Montag wurden dort gerade mal noch drei Erkrankungen registriert. In Hongkong waren es drei in den vergangenen sieben Tagen, und alle von außerhalb eingereist. Währenddessen freuen wir uns in Deutschland darüber, dass die Zahl der Neuinfektionen nicht mehr allzu weit über 500 pro Tag liegt. Ja, auch das ist wenig. Aber die Optionen für die Zukunft, die sich aus diesen Gewinnerszenarien ergeben, könnten unterschiedlicher nicht sein.

Für das Leben mit Corona steht jedes Land, das aus dem Gröbsten endlich heraus ist, vor einer grundsätzlichen Wahl: Entweder man löscht die Krankheit aus, indem man die Infektionen auf null herunterzwingt. Dann kann man in das Vorkrisenleben zurückkehren und mit Vollgas den Alltag und die Wirtschaft wieder ankurbeln. Oder man lebt mit einem gewissen Niveau permanenter Infektionen, das aber niedrig bleiben muss, damit die Lage nicht beim geringsten Anlass erneut außer Kontrolle gerät (zum Beispiel durch spielende Kinder oder zweikämpfende Freizeitfußballer oder fröhliche Restaurantbesucher). Dann entscheidet man sich für eine frühzeitige Auszahlung seines erwirtschafteten Corona-Bekämpfungsguthabens, lässt das Leben stotternd wieder anlaufen – muss aber mit den Restschulden einer noch immer umgehenden Erkrankung, mitsamt der Zinslast permanenter Beschränkungen, dauerhaft leben. Sprich: weitere Infizierte, weitere Tote und trotzdem weitere Kontaktregeln.

Aber gibt es dazwischen nicht eine Grauzone, die man ausloten könnte? Ein bisschen von beidem? Lockeres Leben, florierende Wirtschaft, aber irgendwie dann doch ohne teures, nervenzehrendes Durchhalten? Danach sieht es leider nicht aus. Der Grund liegt in der Agilität des Virus. Denn um eine Infektion nachzuverfolgen und Kontaktpersonen rechtzeitig zu isolieren, bleiben nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nur etwa 48 Stunden Zeit. In dieser kurzen Frist muss jemand, der verdächtige Symptome bei sich entdeckt, zum Test gegangen sein, das Ergebnis erhalten und relevante Kontakte identifiziert haben sowie zum Zuhausebleiben verdonnert worden sein. Hält man das Zeitfenster nicht ein, kann die noch symptomlose, möglicherweise angesteckte Kontaktperson bereits damit begonnen haben, weitere Menschen in ihrer Umgebung zu infizieren – und die Ansteckungskette läuft den Gesundheitsbehörden erneut davon. Jedenfalls in einer Gesellschaft, die sich um strikte Kontaktbeschränkungen nicht mehr sonderlich scheren will.

Deshalb muss man sich entscheiden, wann man sein Pandemiebekämpfungsguthaben – den Lohn für die erlittene Mühsal – in der Hand halten will. Heute in Berlin werden wir wohl ein munteres Einlösen erleben. Folglich werden wir alle ab jetzt unter diesen Vorzeichen leben und unser Wirtschafts- und Alltagsleben wieder ankurbeln müssen, während uns eine Hand auf den Rücken gebunden ist. Kaufleute haben einen treffenden Begriff dafür: "teures Sparen". Laien nennen es wohl eher Milchmädchenrechnung.


WAS LESEN UND HÖREN?

Es ist ein Ort im Internet, wo sich Menschen sammeln, die mit der Situation in der Corona-Krise besonders unzufrieden sind, wo man an die Gefahr das Virus nicht so recht glaubt, dafür aber an Verschwörungstheorien: Die neue Partei "Widerstand 2020" hat innerhalb weniger Tage 100.000 Mitglieder gemeldet – damit wäre sie größer als Grüne, FDP, Linke und AfD. Kann das stimmen – und was wollen diese Leute? Unser Rechercheur Lars Wienand ist den Fragen nachgegangen.


Es ist ein folgenschweres Urteil, das die Verfassungsrichter gestern gefällt haben – und eines, das zu einem brisanten Zeitpunkt kommt: Die Anleihenkäufe, mit denen die Europäische Zentralbank den Euro-Staaten indirekt Geld verschafft, widersprechen in Teilen dem Grundgesetz. Was genau daraus folgt, hat unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld analysiert.


Der Corona-Schock hat den deutschen Arbeitsmarkt erreicht: Die Zahl der Arbeitslosen ist um 300.000 gestiegen, zehn Millionen Menschen sind in Kurzarbeit. Ist das Schlimmste damit schon vorbei? Mitnichten, erklärt IW-Arbeitsmarktökonom Holger Schäfer im Interview mit meinem Kollegen Florian Schmidt. Wer künftig die größten Verlierer sein dürften, erklärt er hier.


Auch wir Laien haben in diesen Wochen großes Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen. Darin steckt eine Gefahr, glaubt der Psychologie-Professor Michael Bosnjak. Welche das ist, erklärt er in unserem Podcast "Tonspur Wissen".


Die Corona-Krise hat die Formel 1 ausgebremst – aber Anfang Juli soll es mit dem Großen Preis von Österreich wieder losgehen. Kann der Rennsport durchstarten oder stottert er nun dauerhaft? Formel-1-Legende Mika Häkkinen blickt im Interview mit meinem Kollegen David Digili voraus.


WAS AMÜSIERT MICH?

Die sind findige Burschen, diese Automanager.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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