Corona-Lockerungen Verliert sie jetzt die Kontrolle?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Bundesländer wollten in der Corona-Krise gemeinsam vorgehen. Doch vor dem wichtigen Bund-Länder-Treffen am Mittwoch zeigt sich: Spätestens jetzt ist es mit der Einigkeit vorbei.
Wenn Spitzenpolitiker einen "Fahrplan" fordern, heißt das meist nicht, dass es noch keinen gibt. Sondern, dass sie mit dem aktuellen nicht zufrieden sind. Und wenn Politiker "Gemeinsamkeit" beschwören, kann man sicher sein, dass gerade Uneinigkeit regiert.
In der Debatte über Lockerungen in der Corona-Krise werden ausgiebig Fahrpläne gefordert und Gemeinsamkeit beschworen. Das bedeutet: Die Bundesländer lockern munter vor sich hin, jeder nach seinem eigenen Fahrplan. Und dabei verliert die Kanzlerin langsam die Kontrolle.
Die Schwäche der Angela Merkel
Es gehört seit jeher nicht zur größten Stärke Angela Merkels, ihre Politik zu erklären und die Menschen dabei mitzunehmen. Das hängt damit zusammen, wie sie Politik macht. Die Kanzlerin wartet lieber erst einmal ab, wie sich die Lage entwickelt. Sie "denkt vom Ende her", wie es oft nebulös in Berlin erklärt wird, was im Grunde nichts anderes heißt als: sie denkt, bevor sie handelt und spricht. Und sie denkt sehr gründlich. Ihre Schwäche hängt aber auch damit zusammen, wer sie ist: Ein nüchterner Mensch, öffentlich manchmal fast spröde, und nicht die mitreißendste Rednerin.
Umso überraschender war es daher, als Merkel am vergangenen Donnerstag genau das tat, was ihr nun abgesprochen wird: einen Fahrplan vorzustellen, sogar öffentlich. Am Mittwoch, den 6. Mai, solle es Entscheidungen über die Öffnung von Schulen, Kitas und Sportanlagen geben. Am darauffolgenden Termin, der noch nicht feststünde, solle es dann um Gastronomie und weitere Kultur gehen. "Immer vorausgesetzt, dass das Infektionsgeschehen das zulässt", sagte Merkel.
Es ist ein Fahrplan, bei dem es langsam vorangeht, der aber einer Logik folgt, die Merkel ebenfalls immer wieder erklärt hat: Was einzelne Lockerungen bringen, erkennt man frühstens zwei Wochen später, weil es so lange braucht, bis sie sich möglicherweise in steigenden Infektionszahlen niederschlagen. Erst dann könne man über weitere Lockerungen entscheiden.
Der Fahrplan und die Wirklichkeit
Doch schon jetzt hält sich niemand mehr an Merkels Fahrplan. Vielen Ministerpräsidenten geht es angesichts sinkender Infektionszahlen zu langsam voran. Noch am Montagmittag versuchte Regierungssprecher Steffen Seibert die Entwicklung einzufangen, indem er in Aussicht stellte, dass es schon jetzt am Mittwoch beim Bund-Länder-Treffen zumindest um "Perspektiven" für Gastronomie und Tourismus gehe. Also noch keine Beschlüsse.
Doch da hatten erste Länder längst Fakten geschaffen und weitere sollten folgen.
- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hatte schon am Wochenende verkündet, dass sich jetzt außerhalb eines Haushalts wieder fünf statt wie bislang nur zwei Personen treffen dürfen. Eine sehr weitreichende Lockerung, wenn die eigentliche Strategie ist, die Kontakte einzuschränken. Es müsse bei zurückgehenden Fallzahlen möglich sein, Erleichterungen für die Menschen und die Wirtschaft zu erreichen, sagte Haseloff zu t-online.de. "Ich habe das Vertrauen in die Menschen in Sachsen-Anhalt, dass sie wissen, was zu tun ist."
- Sein Amtskollege Michael Kretschmer (CDU) aus Sachsen lobte ihn dafür prompt im "Spiegel". Er überlege ebenfalls, die Kontaktbeschränkungen zu lockern, und sei für eine Öffnung der Gastronomie.
- Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (SPD) verkündete am Montag, als erstes Land einen Gesamtplan für Lockerungen aufgestellt zu haben. Der sieht unter anderem vor, schon ab nächstem Montag Restaurants, Cafés und Biergärten wieder zu eröffnen, mit halber Belegung und Reservierungspflicht. Auch Ferienhäuser und Campingplätze sollen dann wieder öffnen, etwas später Hotels. Er könne seine Politik nicht von der Zustimmung der Länderkollegen abhängig machen, sagte Weil, "machen die anderen bekanntlich auch nicht".
- Am Montagabend folgte Mecklenburg-Vorpommern. Schon in der Woche vor Pfingsten will Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) wieder Urlaub an der Ostsee ermöglichen. Die Gastronomie soll schon ab Samstag öffnen. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) blieb vorsichtig, sprach sich am Abend in der ARD aber auch für Lockerungen in der Gastronomie aus.
- Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der noch am Montag gesagt hatte, er sei "ein wenig unglücklich" über das Vorpreschen einiger Länder, zog am Dienstag mit seinem eigenen Plan nach, nicht ohne einen spitzen Kommentar: "Einige Länder gehen sehr schnell voran, die öffnen von kommender Woche an alles, das tun wir ausdrücklich nicht." Doch auch in Bayern dürfen sich Verwandte künftig wieder treffen, ab 18. Mai werden die Biergärten geöffnet, ab dem 25. Mai die Restaurants, ab 30. Mai die Hotels, Ferienwohnungen und Campingplätze.
Aus den Verhandlungen, die Bund und Länder immer schon vor dem eigentlichen Treffen führen, drang deshalb schon am Montagabend nach außen, dass wohl nicht nur Geisterspiele in der Fußball-Bundesliga, die Öffnung von großen Geschäften sowie schrittweise von Schulen und Kitas erlaubt werden. Sondern es soll am Mittwoch nun wohl auch Beschlüsse zu Gastronomie und Tourismus geben.
Die Branchen sind durch die Corona-Krise wirtschaftlich besonders hart getroffen, weil sie ihr Geschäft teilweise komplett einstellen mussten. Ihre Wiedereröffnung ist aber auch besonders heikel, weil sich in Restaurants und Cafés zwangsweise fremde Menschen begegnen und Masken beim Essen eher stören. Und durch das Reisen könnten Infektionen in Regionen getragen werden, in denen es derzeit nur wenige gibt, wie in Mecklenburg-Vorpommern. Das Virus würde sich also weiter ausbreiten, neue Hotspots könnten entstehen.
Die Länderchefs bei Hofe
Doch inzwischen gibt eben nicht mehr die Kanzlerin den Weg vor, die schon vor Wochen bei wesentlich geringeren Anlässen von "Öffnungsdiskussionsorgien" gesprochen hatte, sondern die Ministerpräsidenten. Sie haben einen wichtigen Hebel in der Hand, weil der Großteil der Entscheidungen ohnehin in den Ländern in Gesetze und Verordnungen übersetzt werden muss.
In Nordrhein-Westfalen, das schon in den vergangenen Wochen unter Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ganz besonders schnell voran wollte, wurde zuletzt sogar das gesamte Format der Bund-Länder-Treffen infrage gestellt. Es sei kein Dauerzustand, dass die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten bestimme, "was geht und was nicht geht", sagte der stellvertretende Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) im Podcast "Morning Briefing". Stamp schob nach: "Man könnte den Eindruck bekommen, wir sind bei Hofe." Die Länder bräuchten ihre Freiheit.
Die medienpolitische Sprecherin der CDU, Elisabeth Motschmann, kritisierte das zwar. "Solche Sätze schaden der Debatte, das sollte Herr Stamp sofort unterlassen", sagte sie t-online.de. Doch mittlerweile gärt es nicht nur zwischen den Ministerpräsidenten, sondern auch in der Unions-Bundestagsfraktion. Selbst Merkels Unterstützer werden langsam nervös. Einer sagt: "Die Ungeduld steigt in den Ländern, weil von der Kanzlerin lange keine richtige Exit-Strategie vorgelegt wurde."
Wettlauf um Merkels Nachfolge
Seit knapp sieben Wochen tragen die Abgeordneten die Maßnahmen mit, viele sammeln sich noch immer hinter der Kanzlerin. Doch die ersten fragen sich, was sie von Merkel noch zu erwarten haben. "Jetzt ist der politische Wettlauf endgültig entbrannt: Einige Ministerpräsidenten wollen nun als große Befreier dastehen", sagt jemand aus dem Umfeld der Kanzlerin zu t-online.de. Die Kanzlerin hat ihren politischen Abschied angekündigt, sie kann niemanden mehr mit der Aussicht auf einen Posten in der nächsten Regierung disziplinieren.
Und auch aus den Ländern und Wahlkreisen der Abgeordneten steigt der Druck für Lockerungen. Wie weit die Meinungen in der CDU-Fraktion mittlerweile auseinandergehen, zeigte sich am Dienstagvormittag: In der Arbeitsgruppe "Innen und Heimat" gingen die Haltungen weit auseinander, wie schnell das öffentliche Leben wieder hochgefahren werden soll. Je nachdem, woher die Abgeordneten kommen, gab es unterschiedliche Vorlieben.
Die Opposition mahnt. Die Frage der Lockerungen "eignet sich nicht für einen Profilierungswettbewerb", sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt t-online.de. Es gehe um nachvollziehbare Perspektiven und einheitliche Kriterien für regionales Vorgehen. "Vielstimmigkeit und Verunsicherung darf nicht das Ergebnis der Runde morgen sein." Für Thorsten Frei dagegen, Vizechef der Unionsfraktion, ist es kein großes Problem, wenn "Ministerpräsidenten unterschiedliche Antworten auf schwierige Abwägungsfragen geben", solang es "innerhalb eines großen gemeinsamen Rahmens" passiere.
Ein kleiner Sieg für Merkel?
Die Frage ist nur, wie groß dieser Rahmen sein muss, wenn am Ende alle Entscheidungen hineinpassen sollen. Ein enges gemeinsames Vorgehen der Länder hat sich mit den nun schon verkündeten Plänen der Länder ohnehin erledigt.
Das Kanzleramt versucht nun offenbar, zumindest eine verbindliche Sicherung einzubauen, um den Rahmen aufrechtzuerhalten. Falls es in einzelnen Landkreisen zu viele neue Infektionen gibt, soll man dort wieder zu härteren Beschränkungen zurückkehren müssen. Das forderte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) der "Bild" zufolge in einer Telefonschalte mit den Staatskanzleichefs der Länder. Sollte es ein hartes Kriterium geben, eine feste Grenze der Neuinfektionen – es wäre immerhin ein kleiner Erfolg für Angela Merkel.
- Eigene Recherchen und Gespräche
- Diverse Pressekonferenzen per Livestream
- Mit Infos der Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters
- Spiegel: "Sachsens Ministerpräsident Kretschmer lobt Haseloff"
- Welt: "Warum jetzt gerade Niedersachsens Ministerpräsident voranprescht"
- Bild: "Merkel will Obergrenze für Corona-Infektionen"