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Tagesanbruch: Angela Merkel in China – ein Fazit nach 34 Stunden


Was heute wichtig ist
Das kann nicht jeder

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 09.09.2019Lesedauer: 7 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela Merkel auf einer Brücke über den Jangtse-Fluss in Wuhan, China.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel auf einer Brücke über den Jangtse-Fluss in Wuhan, China. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Der Blick aus dem 18. Stock des Grand Hyatt Hotels Peking geht auf einen großen Springbrunnen, dahinter eine breite Freitreppe, dann eine zehnspurige Straße, schließlich das Regierungsviertel der chinesischen Hauptstadt. Angela Merkel kennt diesen Blick gut, sie ist regelmäßig hier. Wahljahre ausgenommen, besucht sie China seit dem Beginn ihrer Kanzlerschaft 2005 jedes Jahr. Der Ablauf der Reisen ähnelt sich: Empfang mit militärischen Ehren in der prallen Sonne auf dem Platz vor der Großen Halle des Volkes, Gespräche mit Chinas Volkskongressvorsitzendem (unwichtig), Ministerpräsident (wichtig), Staatspräsident (sehr wichtig), Wirtschaftsvertretern (sehr wichtig für die mitreisenden deutschen Firmenchefs), abseits der Kameras Treffen mit Dissidenten (oft erschütternd) und vor den Kameras mit Studenten, Ärzten oder Start-up-Unternehmern (meist erkenntnisreich), ständig hin und her kutschieren, rein in die Limousine, raus aus der Limousine, aus einem Konferenzsaal in den nächsten, am nächsten Morgen ins Flugzeug, um auch noch eine zweite Stadt zu besuchen, in diesem Jahr Wuhan in Zentralchina: ein Gewirr aus grauen Hochhauskolonnen, Autobahnen, Brücken, binnen 15 Jahren von drei auf elf Millionen Einwohner explodiert, 80 Universitäten, eine Million Studenten. Ja, in China ist alles riesig.

Die Kanzlerin schaut. Der chinesische Aufstieg ist atemberaubend. Und jung, so jung. Das China, das wir heute bestaunen, all die Millionenstädte, Häfen, Fabriken, ist in nicht einmal 30 Jahren errichtet worden. Und in Deutschland plagen wir uns seit 13 Jahren mit einer Hauptstadtflughafenbaustelle herum. Absurd – einerseits. Andererseits lastet ein enormer Druck auf den Mächtigen in Peking: Wenn zig Millionen Menschen aus bitterer Armut in den Mittelstand aufsteigen, stellen sie Ansprüche: Sie verlangen attraktive Jobs, Wohnungen, Autos, Freizeitangebote, gute Schulen und Unis für ihre Kinder – und die wollen dann ebenfalls attraktive Jobs, Wohnungen, Autos, Freizeitangebote und so weiter.

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Angela Merkel weiß: Die Regierenden in Peking haben alle Hände voll zu tun, ihr Land zusammenzuhalten. Im Vergleich dazu ist die Aufgabe, Deutschland zu regieren, eine überschaubare Angelegenheit. Allerdings sind die Chinesen selbstbewusster geworden. Und sensibel sind sie, sehr sensibel. Man muss sich genau überlegen, welchen Konflikt und welches Problem – Handelsstreit, Zölle, löchriger Rechtsstaat, Plagiate, Menschenrechtsverletzungen, Polizeigewalt in Hongkong, Unterdrückung der Uiguren – man wann und wie anspricht. Man muss aufpassen, nicht in eine Situation zu kommen, in der man gar nicht mehr mit ihnen reden darf. Die Frage ist, wie man unter diesen begrenzten Bedingungen etwas erreicht. Für Deutschlands Wirtschaft. Für Unterdrückte. Für den Multilateralismus. Für eine demokratischere, tolerantere und friedlichere Welt. Denn um all das geht es ja.

Geht es wirklich darum? Ein Fazit nach 34 Stunden im Tross der Bundeskanzlerin in China – drei Beobachtungen:

Erstens: Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind nach wie vor stabil – aber nicht unverbrüchlich. Das zeigte sich bei diesem Besuch noch deutlicher als im vergangenen Jahr. Da ist zum einen die Reaktion der chinesischen Führung auf die prekäre Lage in Hongkong. Ministerpräsident Li Keqiang macht bei diesem Thema alles andere als einen entspannten Eindruck (meinen Bericht dazu finden Sie hier). In der Bundesregierung herrscht der Eindruck, dass Chinas Regierung ziemlich viel daran setzen wird, den Konflikt friedlich zu lösen. Sollten allerdings ihre Herrschaft und das Prinzip "ein Land, zwei Systeme" (mit Betonung auf EIN Land) infrage stehen, würden sie hart einschreiten und sich dabei auf Artikel 18 des "Basic Law" beziehen. Darin hatten die Briten den Chinesen 1984 zugestanden, im Falle eines "Aufstands" den Ausnahmezustand erklären zu dürfen. Dann könnten doch noch Panzer rollen.

Da sind zum anderen die Regeln der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Zwar kommt die Arbeit am Investitionsschutzabkommen gut voran, aber das Überwachungssystem der Sozialkreditpunkte wird nun auf ausländische Unternehmen ausgeweitet und bedroht damit auch deutsche Firmen. Drei deutsche Konzerne haben in internen Analysen durchgespielt, wie sich das System auf ihre Geschäfte in China auswirken würde – und sind hinterher nicht schlauer als vorher. Deshalb wollen sie zunächst die weitere Entwicklung abwarten, um "ihr Pulver nicht gleich zu verschießen". Später kann man ja immer noch protestieren. Deutsche Klugheit gegen chinesische Entschlossenheit. Oder deutsche Verzagtheit? Längst ist absehbar, dass das "Social Scoring" die Bedingungen für deutsche Firmen in China komplett verändern kann (mehr dazu habe ich hier notiert).

Zweitens: Die Lage in der Weltwirtschaft wird immer prekärer. Deutschland ist als Exportnation auf ein stabiles Handelssystem angewiesen, doch die zunehmende Rivalität zwischen Amerika und China um die ökonomische und politische Vormacht gefährdet diese Stabilität. Das hat Folgen: Deutsche Firmenchefs machen sich große Sorgen, dass sie zwischen den beiden Weltmächten zerrieben werden. Schon jetzt beobachten sie, dass sowohl China als auch die USA jeweils eigene technische und regulatorische Regelwerke errichten, die nicht kompatibel sind. Für deutsche Unternehmen ist dieses "Decoupling" fatal, weil sie sich am Ende wohl entweder für die eine oder die andere Seite entscheiden und damit auf enorme Exportgewinne verzichten müssten. Zölle, Standards, Vorschriften: Zwei konträren Systemen gerecht zu werden, da sind sich deutsche CEOs einig, wäre dauerhaft kaum möglich.

Umso dringender wäre eine selbstbewusste deutsche Industriestrategie, am besten gleich auf europäischer Ebene. Aber weder findet Wirtschaftsminister Peter Altmaier dafür konsensfähige Ansätze noch können sich Dax-Unternehmen und Mittelständler auf eine gemeinsame Linie verständigen. Also schauen eben alle gemeinsam dabei zu, wie die Chinesen Schritt für Schritt die Märkte erobern: erst in Asien, dann in Afrika, schließlich in Europa. Die Züge der neuen Seidenstraße rollen schon bis Duisburg. Die Chinesen diktieren die Regeln, und es gibt derzeit nur wenige, die ihnen mit klarem Kopf entgegentreten.

Apropos Kopf: Betrachtet man diese Entwicklung mit etwas Abstand, greift man sich an denselben. Wie, so fragt man sich, kann es sein, dass Deutschland seinen wirtschaftlichen Vorsprung in der Welt derart leichtfertig verspielt? Dann lauscht man Ministeriumsmitarbeitern, die mit dem Finger auf die Firmenchefs zeigen, und Firmenchefs, die meinen, das müsse doch bitte schön die Politik regeln: ein Schwarzer-Peter-Spiel auf Kosten unserer Zukunft.

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Drittens: Wo ist der Ausweg aus dem Dilemma? Wenn die internationale Politik und die globale Wirtschaft instabiler werden, braucht es umso dringender eine starke Europäische Union, die mit einer Stimme spricht, ihre demokratischen und rechtsstaatliche Werte verteidigt und sich von keinem Xi, Donald oder Wladimir, aber auch von keinem Boris, Matteo oder Victor auseinanderdividieren lässt. Bei den Haushaltsverhandlungen im kommenden Jahr wird sich zeigen, ob die EU diese Einmütigkeit aufbringt – und die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 kann entscheidend dabei helfen. Dafür braucht es Erfahrung, Ausdauer, hervorragende internationale Kontakte und Verhandlungsgeschick. Annegret Kramp-Karrenbauer hat all das noch nicht. Olaf Scholz hat es nicht in ausreichendem Maße. Robert Habeck hat es erst recht noch nicht. Derzeit, das muss man einfach mal nüchtern feststellen, haben es nur zwei deutsche Politiker. Der eine sitzt im Schloss Bellevue und darf sich nicht in die Tagespolitik einmischen. Die andere lenkt seit 14 Jahren Deutschlands Geschicke, und die Erschöpfung ist ihr nach all den Kämpfen, Krisen und Querelen anzumerken. Aber sie empfindet die Verantwortung, in dieser so wichtigen weltpolitischen Lage, in der sich die Gewichte grundlegend verschieben, nicht einfach abzutreten, solange noch keine starke Nachfolge bereitsteht.

Manche Menschen in unserem Land können das nicht nachvollziehen und schimpfen auf die Kanzlerin, die an ihrem Stuhl klebe. Viele andere sind ihr dankbar für ihren unermüdlichen Einsatz. Zu welcher Gruppe Sie sich zählen, dürfen Sie selbst entscheiden. Wenn man aus dem 18. Stockwerk des Grand Hyatt Hotels in Peking auf das Herz der neuen Weltmacht blickt, fällt die Entscheidung allerdings nicht allzu schwer.


WAS STEHT AN?

In der Kunst der Redewendungen macht den Engländern niemand etwas vor. "All hat and no cattle" ist so ein wunderbarer Ausdruck, bei dem wir uns einen stolzen Cowboy oder Schäfer vorstellen dürfen, der zwar einen stattlichen Hut, aber leider keine Herde besitzt. Wir Deutschen haben es ja weniger mit Hüten und sagen daher lieber "große Klappe, aber nichts dahinter". In der Londoner Downing Street 10 residiert nun ein Mann, der erst vor Kurzem mit einem ziemlich großen Hut eingezogen ist und sich zum Ziel gesetzt hat, seine gesamte Herde von der Weide zu führen, über der die blaue Flagge mit den gelben Sternen weht. Leider schwingt er dabei so wild seinen Hirtenstab, dass ihm ein Schäfchen nach dem anderen von der Fahne geht: der Enkel Winston Churchills, der einflussreiche Ex-Schatzkanzler, sogar sein eigener Bruder haben ihm die Gefolgschaft aufgekündigt – und nun ist am Wochenende auch noch die Arbeitsministerin zurückgetreten.

Es wird einsam um den Schäfer Boris mit dem großen Hut. Heute will er im Unterhaus erneut Neuwahlen beantragen, aber es ist unwahrscheinlich, dass er die nötige Zweidrittelmehrheit bekommt. Eigentlich bleiben ihm dann nur noch zwei Optionen: entweder die Last-Minute-Verhandlung mit der EU, zu der ihn das Parlament verdonnert hat, verweigern – also ein Gesetzesbruch. Oder der Rücktritt. Dafür hätten dann auch wir Deutsche eine schöne Redewendung parat: als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet.


DIE (HALB)GUTE NACHRICHT

Schrieb ich oben, dass Deutschland großes Interesse an einer starken EU hat? So ist es, und die neue EU-Kommission wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Heute stellt deren gewählte Chefin Ursula von der Leyen ihre Kandidaten vor. 26 sind es, weil kein Land auf einen Kommissar verzichten will, um das Gremium effektiver zu machen. Deshalb ist das heute nur eine halbgute Nachricht.


WAS LESEN?

Marc-André ter Stegen ist als bester Torhüter der Welt nominiert, beim FC Barcelona feiern sie ihn als "Messi mit Handschuhen". Trotzdem muss er in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft seit Jahren im Schatten von Kapitän Manuel Neuer stehen. Andere würden platzen vor Ungeduld, vielleicht sogar hinwerfen – doch ter Stegen hat sich für einen anderen Weg entschieden: "Fußball ist das eine, aber für mich ist Menschlichkeit das Wichtigste", erklärt er im Interview mit unserem Reporter Luis Reiß. Vielleicht zahlt sich das ja schon heute Abend im EM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland aus.


WAS AMÜSIERT MICH?

Keine Plastiktüten, keine Einmaltrinkbecher: Super, dieses neue Umweltbewusstsein in Deutschland, oder?

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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