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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kanzlerin in Peking Was eine kurze Szene zwischen Merkel und Chinas Premier verrät
Kanzlerin Merkel gastiert mit großem Gefolge in Peking. Eigentlich wollten die Chinesen nur über Wirtschaft sprechen – aber an einem anderen Thema kommen sie nicht vorbei.
Manchmal erzählen die kürzesten Szenen die wichtigsten Geschichten. Winzige Gesten, scheinbar unbedeutend, öffnen uns den Vorhang zu den verborgenen Bühnen der Wirklichkeit. Der heutige Freitag bot so eine Szene.
Staatsbesuch der Bundeskanzlerin in Peking, Angela Merkel ist mit großem Gefolge angereist, die Crème de la Crème der deutschen Wirtschaft schart sich um sie: Daimler, VW, BMW, Siemens, Allianz, BASF, alle haben sie ihre Chefs mitgeschickt. China ist Deutschlands wichtigster Exportmarkt, die Handelssumme schnellt seit Jahren steil nach oben, beträgt schon fast 200 Milliarden Euro.
Deutschlands Wohlstand hängt an den Dax-Unternehmen und dem Mittelstand, an Maschinenbauern, Autozulieferern, Logistikern – und der Erfolg der Firmen wiederum hängt von China ab. “Ohne China gehen bei uns die Lichter aus“, sagt ein deutscher Firmenchef. Wenn die Volksrepublik hustet, kriegen deutsche CEOs Kopfschmerzen.
Umso mehr Kopfzerbrechen bereitet ihnen das totalitäre System der Sozialkreditpunkte, mittels dessen Chinas Führung nicht nur ihre 1,3 Milliarden Untertanen, sondern ab 2020 auch ausländische Firmen auf den Kodex der Kommunistischen Partei verpflichten will (mehr dazu hier).
Vor Ort in China: t-online.de-Chefredakteur Florian Harms über Merkels Mission in Peking
Ausgenommen Bundestagswahljahre, kommt Merkel jedes Jahr nach China. Ablauf und Thema der Reisen ähneln sich: Es geht um Wirtschaft, Wirtschaft und Wirtschaft. Und wenn dann noch Zeit bleibt, geht es um noch mehr Wirtschaft. Klar, Merkel spricht jedes Mal auch die Menschenrechtslage an, trifft sich abseits der Kameras mit Dissidenten. Aber der Fokus liegt ganz klar auf den Geschäften und den beiden Fragen, wie sich erstens der Handelskonflikt mit Amerika dämpfen lässt und wie zweitens deutschen Firmen Rechtssicherheit und Schutz vor Ideenklau garantiert werden kann. So war das vor einem Jahr, und so ist es auch in diesem wieder.
Hongkong verändert die Spielregeln
Trotzdem ist diesmal etwas anders – und es genügen acht Buchstaben, um die minutiös getaktete Agenda der Regierungschefs zu überschatten: Hongkong. Die Massenproteste in der chinesischen Sonderverwaltungszone, die brutale Gewalt von Polizisten und staatlich verdingten Mafiosi gegen Demonstranten erschüttern die Welt – und machen die Bosse in Peking hoch nervös. Ihre Herrschaft basiert auf totaler Kontrolle. Sobald sich eine erkleckliche Zahl von Menschen dagegen auflehnt, ist ihre Macht gefährdet. Deshalb bestrafen sie die Separatisten in Tibet und Xinjiang, indem sie gleich Zigtausende einkerkern.
Umso bemerkenswerter ist die jüngste Wendung: Hongkongs Regierungschefin von Pekings Gnaden, Carrie Lam, hat das umstrittene Gesetz zur Auslieferung von Bürgern an die Volksrepublik zurückgenommen. Damit hat sie den Auslöser der Proteste beseitigt – allerdings viel zu spät. Die Protestbewegung verfolgt längst viel weitergehende Ziele, wendet sich generell gegen Pekings Einfluss in Hongkong und stellt damit die Machtfrage.
Exakt diese Entwicklung ist es, die Ministerpräsident Li Keqiang (den Chef über Chinas Wirtschaft) und Staatspräsident Xi Jinping (den Chef über Chinas Innenpolitik, Außenpolitik und überhaupt alles, was noch irgendwie wichtig ist) sowie ihre Kader so nervös macht. Und manchmal sind es ganz kurze Szenen, die verdeutlichen, wie sehr die Bosse unter Druck stehen.
Eine harte Abwehrbewegung, dann eisiges Schweigen
13:03 Uhr Pekinger Zeit am Freitagnachmittag: In einem der riesigen Konferenzsäle in der noch viel riesigeren Großen Halle des Volkes haben Angela Merkel und Li Keqiang ihre vorbereiteten Statements vorgetragen, als ein deutscher Journalist das Mikrofon in die Hand bekommt. Er stellt die Frage, die weder die Kanzlerin noch der Premierminister angesprochen haben, aber die wie ein weißer Elefant im Raum steht: Hat Merkel im Vieraugengespräch die Polizeigewalt in Hongkong angesprochen – und schließt Li aus, dass Peking den Aufstand dort mit Militärgewalt niederschlägt?
Merkel antwortet ruhig und sachlich, wie es ihre Art ist: Die Rechte und Freiheiten der Hongkonger Bürger auf Basis des Abkommens von 1984 müssten gewährleistet werden. Eine Lösung könne nur im Dialog gefunden werden. Es müsse alles daran gesetzt werden, Gewalt zu vermeiden. Was man eben so sagt. Dann wendet sich die Bundeskanzlerin an Li, schaut ihm erwartungsvoll ins Gesicht: Nun soll er die an ihn gerichtete Frage nach einem möglichen Militäreinsatz beantworten.
Und was macht Li? Ein kurzes Heben der Augenbrauen, eine kleine, harte Abwehrbewegung des rechten Armes, eisiges Schweigen – und schon prescht eine chinesische Pressevertreterin mit einer offenkundig bestellten Frage vor, irgendetwas Harmloses zur, natürlich, Wirtschaft. Merkel beugt sich zu Li hinüber, tippt ihm kurz auf den Arm, insistiert, flüstert ihm etwas zu. Aber der starke Mann bleibt stur, lässt die Kanzlerin ebenso abblitzen wie die Presse – und macht so mit einer kleinen Geste klar, wo der Hammer hängt: Hier bestimmen wir die Regeln! Hier haben wir die totale Kontrolle! Und zwar auch dann, wenn die Regierungschefin der mächtigsten Demokratie Europas anreist, auch dann, wenn sie Journalisten mitbringt, die noch wissen, was Pressefreiheit bedeutet. All die Empfänge, die Ehrenformationen, Nationalhymnen und Grußworte verblassen neben dieser einen, kurzen Szene in der Großen Halle des großen, aber unterdrückten Volkes in Peking.
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Zur ganzen Geschichte gehört, dass Li Keqiang später dann natürlich doch noch ein paar karge Sätze zu Hongkong sagt. Aber erstens wählt er sie so schwammig, dass sie die Sorgen vor noch mehr Gewalt in der ehemaligen Kronkolonie eher schüren als dämpfen: China sei "in der Lage, das Chaos zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen", stellt er klar, "im Rahmen der Gesetze". Man könne China da vertrauen, es besitze schließlich die "Weisheit" dafür. Das kann alles und nichts bedeuten. Vielleicht ist es Bereitschaft zum Dialog. Vielleicht ist es aber auch eine versteckte Drohung: Falls die Proteste nicht enden, könnten wir den
Ausnahmezustand verhängen – mit allen möglicherweise gravierenden Folgen.
Und zweitens? Hat Chinas Ministerpräsident eine winzige Geste genügt, um allen klarzumachen, wer im Verhältnis zwischen Deutschland und China der Chef ist. Die Kanzlerin ist es nicht.
- Eigene Recherchen vor Ort