Was heute wichtig ist Der Chor der Schreihälse
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Die Diskussionen in Politik und Medien begegnen uns in diesen Tagen mit der Lautstärke eines hungrigen Löwen und im schwarz-weißen Korsett. Wer sich eine These ausgedacht hat, wählt die drastischsten Vergleiche, um sie unters Volk zu bringen; wer sie für Unfug hält, setzt noch einen oben drauf, und am Ende brüllen wir uns alle gegenseitig auf Twitter und Facebook an. Eine CO2-Steuer ist die letzte Rettung gegen den Treibhausgaswahnsinn – Quatsch, sie ist wirtschaftliches Harakiri! BMW bitte kollektivieren – der Kühnert hat doch ‘ne Vollmeise! Die Kanzlerin macht alles falsch und sollte endlich abtreten – Unsinn, Merkel ist die Einzige, die zwischen Trump, Brexit und AfD noch Stabilität garantiert! In den Schlagzeilen, Talkshows und Kommentarforen (auch unter dem Tagesanbruch) gewinnen die Extreme an Boden. Leise Töne dringen nur noch selten durch, Grautöne werden als Wischiwaschi abgekanzelt. Es regiert die Kraft der kommunikativen Gravitation: Je größer das Geschrei, desto mehr Leute werden davon angezogen und fallen in den Chor der Schreihälse ein. Ihr gegenüber steht die Kraft der kommunikativen Entropie, die nach Verteilung und Differenzierung strebt, Dissonanzen zulässt, Widersprüche toleriert und auch abwegigen Meinungen ihre Berechtigung zugesteht. Diese Kraft ist wichtig, weil sie die Pluralität der Gesellschaft ausdrückt und stärkt. Aber sie droht verlorenzugehen, wenn wir sie nicht pflegen – Tag für Tag.
Mit diesen Gedanken im Kopf lege ich Ihnen heute Morgen drei Artikel ans Herz: Hier erklärt unser Parlamentsreporter Jonas Schaible am Beispiel Kevin Kühnerts, warum es gar nicht verkehrt ist, den Korridor des Konsensfähigen ab und an zu verlassen. Hier begründet Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther seinen Vorschlag, anlässlich der CO2-Debatte das gesamte deutsche Steuersystem zu überdenken. Und hier erläutert die Schriftstellerin Jagoda Marinić, wie oft sich Journalisten von rechten Stimmungsmachern treiben lassen.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", hat der große Immanuel Kant geschrieben. Kommunikative Entropie, ahne ich, könnte uns dabei helfen.
WAS STEHT AN?
Apropos CO2: Gegen den Klimawandel kann jeder etwas tun. Wir verzichten: kein Fleisch, kein Flug, das Auto bleibt in der Garage. Jeder Beitrag, der den Kohlendioxid-Ausstoß verringert, ist eine gute Sache. Jedenfalls, solange wir uns nicht der Illusion hingeben, damit entscheidend zur Lösung der Klimakrise beizutragen.
Wie bitte? Ja, genau. Denn zwar macht auch das Kleinvieh Mist, aber seien wir ehrlich mit uns: Es erfordert schon eine ganze Menge Selbstdisziplin, nur noch mit dem Zug zu fahren, sich die Fernreise zu versagen, und nicht jeder fühlt sich zum Vegetarier berufen. Schwer vorstellbar, wie aus der mühsamen CO2-Abstinenz eine Massenbewegung werden soll. Noch schwerer vorstellbar, wie der Gesinnungswandel sich schnell genug vollziehen könnte. Unsere individuellen Einsparungsbemühungen in allen Ehren, aber es rollt ein Tsunami heran, und ein paar von uns sind schon mal zum Strand vorgegangen, um mit ihren Eimerchen Wasser abzuschöpfen. Wir anderen kommen gleich nach. Doch, ehrlich! Wenn nichts dazwischen kommt.
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Ich bleibe trotzdem dabei: Jeder kann etwas tun – aber schauen wir mal, wem unsere moralische Aufrichtigkeit etwas nutzt. Unsere persönlichen Einsparungen definieren keine neuen, ambitionierteren Klimaziele. Sie nehmen den Großverschmutzern aus Industrie und Energiesektor stattdessen die Arbeit ab und reduzieren den Druck auf die Politik, schmerzhafte Entscheidungen treffen zu müssen. Mit jedem Kilogramm Kohlendioxid, das wir uns im Privaten abknapsen, wird es einfacher, an anderer Stelle mal ganz locker zu sein. Welcher Volksvertreter will schon mit einem beschleunigten Kohleausstieg vielen Wählern auf die Füße treten, wenn es auch gaaanz laaangsam geht? Substitutionseffekt heißt das. Wir stehen nicht für die Umwelt ein, sondern für den Schornstein nebenan.
Deshalb ist der Klimaschutz keine Frage der persönlichen Moral. Wer global relevante Mengen von Treibhausgasen einsparen will, darf das nicht allein dem schlechten Gewissen des Einzelnen überlassen. Wir wissen, wie man eine große Zahl von Menschen zur Anpassung ihres Verhaltens bewegt, ganz ohne Verbote, ganz freiwillig: über den Preis. Die Überhitzung des Planeten ist ein teures Hobby. Besonders schädliches Verhalten darf also auch besonders viel kosten. Nur klebt an der Lufttemperatur kein Preisschild, deshalb muss der Staat an dieser Stelle Regeln setzen. Und vorher noch schnell den größten, offensichtlichen Irrsinn beseitigen. Wer Flugreisen steuerlich bevorzugt, obwohl sie die Emissionen in die Luft pusten wie keine andere Art der Fortbewegung, hat selbst das allerkleinste Einmaleins der Klimapolitik noch nicht verstanden. Ja, auf diesem Niveau müssen wir tatsächlich anfangen bei uns in Deutschland mit dieser Bundesregierung aus allerkleinsten Geistern.
Ihr persönliches Bemühen ist dennoch keinesfalls für die Katz. Zur Rettung des Klimas wird es zwar nur wenig beitragen. Aber es setzt ein Zeichen – keine hohle Symbolik, sondern eines, das zählt. Wir treffen unbequeme Entscheidungen und senden damit ein Signal: dass wir bereit sind, Opfer zu bringen. Dass wir so manche Kröte des Gesetzgebers schlucken würden, wenn es fürs Klima wirklich was bringt. Wir bauen politische Widerstände ab. Wir erinnern uns an die Mülltrennung: Kein Politiker hätte eines schönen Morgens zum Stift greifen und einen dermaßen hinderlichen Vorgang aus heiterem Himmel dekretieren können, ohne abends aus dem Amt gejagt zu werden. Aber nachdem erst einmal genug Menschen freiwillig sortierten, war es kein Wagnis mehr, die Mülltrennung verbindlich für alle zu verordnen. Wir lernen also: Die selbst auferlegte Mühsal ist ein politisch wirksamer Akt.
Deshalb dürfen, nein: sollten wir uns weiterhin selbst an die Kandare nehmen. Das schlechte Gewissen hingegen können wir uns im Alltag sparen, das Klima retten wir dadurch ohnehin nicht. Ist das nicht eine Erleichterung? Das setzt gleich zusätzliche Energien frei. Die können wir zum Einheizen verwenden. Falls Sie nicht wissen, was ich damit meine, gehen sie einfach heute auf die Straße und fragen Sie ein paar Schüler. Die haben mit dem Einheizen nämlich schon mal angefangen. Diese Art der Erwärmung tut dem Klima sogar gut.
Die SPD ist derzeit nicht zu beneiden. Die Genossen können machen, was sie wollen, sie kommen nicht aus der Krise (was damit zu tun haben könnte, dass bei den Genossen alle machen, was sie wollen). Heute startet die SPD ihren wichtigen Europa-Wahlkampf, es treten die Spitzenkandidaten Katarina Barley und … Moment, ich sehe eben noch mal nach … ah ja: Udo Bullmann auf, hinzu kommen der Parteivorsitzende Kevin K … nein, Moment, das ist doch die Andrea Nahles … wie auch immer: Um 16 Uhr geht es los in Saarbrücken.
Bald werden wir also ins Wahlbüro gehen und unsere Kreuzchen machen. Wer sich für die Briefwahl entscheidet, hat die Unterlagen bereits erhalten und kreuzt zu Hause. Dann werden die Stimmen ausgezählt, und dann gewinnt, wer die meisten bekommen hat. So einfach, so transparent, so gerecht. Moment … gerecht? Wenn Sie diesen interessanten Artikel des Gestalters Frédéric Ranft lesen, werden Sie feststellen: Mit unseren Stimmzetteln stimmt etwas nicht.
Zwei Rivalen, nur zwei Punkte Unterschied und noch drei Spiele bis zum Saisonende: Seit Jahren war das Rennen um die Meisterschaft in der Bundesliga nicht mehr so spannend wie jetzt. Unser Fußballgott Stefan Effenberg hat deshalb gleich zweimal zum Zepter gegriffen, zum einen die Kontrahenten FC Bayern und Borussia Dortmund verglichen und zum anderen die wichtigsten Fragen zum Saisonfinale beantwortet. Wenn Sie diese beiden Kolumnen gelesen haben, können Sie am Wochenende mit höchstem Segen mitreden.
ZITAT DES TAGES
"Man nimmt so ein Metermaß und schneidet die ersten 70 Zentimeter weg. Dann hat man nur noch das Stückchen von 70 bis 100. Und das ist ein kleines Stück von dem großen langen Stück. Das heißt, ich habe den Großteil meines Lebens gelebt. Aber: Ich habe es gelebt!"
Harry Wijnvoord anlässlich seines 70. Geburtstags.
WAS LESEN?
Von einem Massaker sprechen wir eigentlich nur in grausamen Situationen. Wenn also einer von Deutschlands renommiertesten Meteorologen am Wochenende ein ebensolches prophezeit, müssen wir uns auf einiges gefasst machen.
Kreuz und quer durch Europa reisen, und das für lau? Doch, das geht. Jedenfalls, wenn Sie, ihr Kind oder Enkel ein ganz bestimmtes Alter und obendrein ein bisschen Glück haben.
WAS AMÜSIERT MICH?
Se Dschörmans have simply se bescht way to open Beer bottles. Tschäck it aut!
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Im ausführlichen Tagesanbruch-Podcast unterhalten sich meine Kollegen Jonas Schaible, Marc Krüger und ich über Kühnert, Merkel und Kramp-Karrenbauer: ab Samstag, 6 Uhr, hier.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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