Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Tag der Entscheidung
Guten Morgen aus London, liebe Leserinnen und Leser,
heute ist ein Tag der Weichenstellung. Weil etwas war und etwas kommt. Der Überblick:
WAS WAR?
Seit Monaten berichten wir über jede neue Wendung des britischen Brexit-Theaters, und immer haben wir dabei auf diesen Tag hingewiesen: den 29. März 2019, das Datum des ursprünglich geplanten Austritts Großbritanniens aus der EU. Heute ist er da, dieser Tag, und natürlich muss man an so einem Tag aus London berichten. Vom Ort, an dem das Drama seinen Ursprung nahm, an dem es seine unzähligen Höhe- und Tiefpunkte erreichte und an dem es nun seinem Ende entgegen tost. Eine seltsame Ruhe liegt heute in den frühen Morgenstunden über dem Regierungsviertel Westminster. Die Luft ist klar, die Nacht war kalt.
Aber mit der Ruhe wird es schnell vorbei sein. Deshalb springen wir sofort zum …
…WAS STEHT AN?
Die Briten haben nicht nur eine Ader für Exzentrik, sie haben auch eine Vene für Dramatik. Nicht umsonst haben sie den größten Dramatiker aller Zeiten hervorgebracht. Für den heutigen Tag gibt es kein besseres Motto als seinen berühmten Satz "Sein oder Nichtsein?". Denn nach dem monatelangen Theater müssen die britischen Abgeordneten nun entscheiden: Sind sie überhaupt noch in der Lage zu einem Entschluss, der endlich Klarheit bringt? Was wollen sie wirklich? Ziehen sie den Brexit durch oder ist ihr parlamentarisches System inzwischen so beschädigt, dass sie das gar nicht mehr hinkriegen? Können sie noch etwas anderes, als zu jedem und allem immer nur "no!" zu krähen?
Um 10.30 Uhr beginnt die Debatte im Unterhaus, die Abstimmung folgt gegen 15.30 Uhr. Auf dem Tisch liegt dann Theresa Mays Austrittsplan – zum dritten Mal, aber diesmal mit dem Unterschied, dass daneben nicht die politische Erklärung liegt, die die künftige Beziehung zur EU regelt. Die bleibt einfach in der Schublade. Ein Trick, den Frau Mays Juristen ausgeheckt haben, damit Parlaments-Speaker John Bercow den Plan doch noch mal zur Abstimmung zulässt. Er lässt. Deshalb kommt es heute Nachmittag zum Showdown: Bekommt May ihre Mehrheit, kann Großbritannien die EU bis zum 22. Mai verlassen, so hat es Brüssel verfügt. Zum Zünglein an der Waage werden die Stimmen der nordirischen Splitterpartei DUP, die sich bislang gegen die Backstop-Regelung sträubt. Lehnen die Abgeordneten den Plan abermals ab, gilt die Verlängerung nur bis zum 12. April. Und dann gnade ihnen Gott. Denn in diesem Fall sind die verbleibenden Optionen mit Pest und Cholera noch glimpflich umschrieben (mein Kollege Johannes Bebermeier hat sie hier erklärt).
Während die zerstrittenen Parlamentarier sich drinnen im House of Commons die Köpfe heiß reden, vom Speaker mit donnernden Ooooooorder!-Rufen zurechtgestutzt und dann ihre Stimmen abgeben werden, tobt draußen vor dem hohen Haus ein noch viel lauteres Spektakel: Die Austrittsfundamentalisten von der UKIP-Partei laden ab 10 Uhr zur Brexit Betrayal Rally. Zwölf Stunden lang wollen sie für ihre einzige Forderung trommeln: raus, nur raus, egal, wie! "Make Brexit really happen!" ist ihr erster Schlachtruf, "Our last chance to stand up for democracy" der zweite. Endzeitstimmung also. Sein oder Nichtsein. Ich werde mich ins Getümmel stürzen, damit ich Ihnen morgen im Audio-Tagesanbruch mit meinem Kollegen Marc Krüger berichten kann, wie sich dieser bedeutungsschwere 29. März 2019 anfühlte: da, wo das Drama begann, bebt und endet.
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In diesen ereignisreichen Tagen kann einem die eine oder andere Personalie schon mal durchrutschen. Donald Trump zum Beispiel hat einen gewissen Stephen Moore für das Leitungsgremium der amerikanischen Zentralbank auserkoren. Weit weg, nicht wichtig, ja und? Schön wär's. Diese Nominierung bricht, wie so vieles, was der Mann im Weißen Haus angestoßen hat, mit den bisherigen Spielregeln und geht uns leider auch in Deutschland etwas an. Selbst Trump hatte bisher davon abgesehen, die Posten der Währungswächter mit seinen Fanboys zu besetzen. Aber das ist jetzt vorbei. Und es ist schlecht für die Welt.
Warum?
Die Macht der Zentralbanken ist ein erstaunlich zartes Pflänzchen. Beispielsweise sollen sie für geringe Inflation sorgen, doch die Geschwindigkeit der Preissteigerungen lässt sich in einer Volkswirtschaft nicht einstellen wie an einem Tempomat. Die Zentralbanken müssen stattdessen auf Einflüsterungen setzen. Wir werden mit allen Mitteln dafür sorgen, sagt eine Bank dann zum Beispiel, dass die Inflationsrate nur ein Prozent beträgt. Solange Unternehmen und Gewerkschaften das glauben, wird sich das Ringen um höhere Löhne an dieser Ankündigung orientieren und moderat ausfallen. Hält man am Verhandlungstisch die Prognose aber für heiße Luft und erwartet tatsächlich einen aggressiven Anstieg der Lebenshaltungskosten, werden auch die vereinbarten Löhne entsprechend schneller steigen. Und der Lohnanstieg wird die Produkte verteuern. Aus der vermuteten höheren Inflation wird damit eine echte.
Nichts ist einer Zentralbank deshalb heiliger als ihre Glaubwürdigkeit. Dazu gehört, sich von den Begehrlichkeiten der Politiker nicht beeindrucken zu lassen. Denn für eine Regierung ist es wunderbar bequem, zu Wahlkampfzeiten per Druckerpresse Geld in den Staatshaushalt zu zaubern und das Wahlvolk mit Geschenken zu beglücken. Bei einer unabhängigen Zentralbank – der Herrin über die Gelddruckmaschine – beißt das Kabinett mit solchen Wünschen auf Granit. Sobald allerdings die Währungshüter von der Politik an die Leine gelegt werden, kann man ihre Beteuerungen, Geldwert und Preise blieben stabil, nur sanftmütig belächeln.
Damit sind wir bei unserem Fanboy angekommen. Oft genug hat Stephen Moore unter Beweis gestellt, dass seine Empfehlungen nur politischen Loyalitäten gehorchen. Als Barack Obama Präsident war, plädierte Moore für einen restriktiven Kurs, der das Wachstum der Wirtschaft und die Erhaltung von Arbeitsplätzen behindert – trotz schwieriger Wirtschaftslage. Jetzt, unter Präsident Trump, befürwortet er das Gegenteil – trotz ohnehin boomender Wirtschaft. Unlängst hat er noch eins draufgelegt und Trump gleich für den Wirtschaftsnobelpreis empfohlen. Der Mann kennt keine Scham.
Was solches Personal für die Integrität, die Glaubwürdigkeit, die Unabhängigkeit der Federal Reserve bedeutet? Dass sie angeschlagen ist. Was das für uns bedeutet? Dass in einer globalen Krise die Unterstützung aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht mehr so wirkungsvoll ausfallen wird. Extreme Erschütterungen – wie den unmittelbar drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems vor elf Jahren – möchte man mit einer kompromittierten Institution, die ausgerechnet über die Weltwährung Dollar wacht, nicht durchstehen müssen.
Für entweder fünf oder gar elf Jahre wird Mister Moore auf seinem Sessel sitzen, wenn er den Bestätigungsprozess im US-Senat übersteht – je nachdem, welcher der beiden freiwerdenden Posten ihm zugedacht wird. Die ersten republikanischen Senatoren haben bereits begonnen, sich seine Kandidatur schönzureden. Immerhin, Stephen Moore allein kann die Unabhängigkeit der amerikanischen Zentralbank nicht beerdigen. Dazu muss er noch auf ein paar Kollegen warten. Den Spaten hat er aber schon mal mitgebracht.
Die schwedische Aktivistin Greta Thunberg kommt heute zum zweiten Mal nach Deutschland, um auf der Klimademonstration "Fridays for Future" in Berlin mitzulaufen. Anschließend spricht sie auf einer Kundgebung am Brandenburger Tor und besucht das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
WAS LESEN?
Warum drängt Bundesfinanzminister Olaf Scholz eigentlich so sehr darauf, dass Deutsche Bank und Commerzbank fusionieren? Ist das wirklich ein sinnvoller Wunsch der Bundesregierung oder nicht vielmehr die Agenda von Finanz-Staatssekretär Jörg Kukies? Moment, wo hat der früher gearbeitet? Aha, bei der Investmentbank Goldman Sachs. Cerstin Gammelin von der "Süddeutschen Zeitung" ist einer bemerkenswerten Spur nachgegangen.
Was haben Albanien, Kasachstan und Kambodscha gemeinsam? In allen drei Ländern ist der LTE-Mobilfunkempfang besser als in Deutschland. Warum kriegen wir es hierzulande nicht endlich hin, ein zeitgemäßes Netz aufzubauen, was läuft schief? Die Kollegen des "Business Insider" haben drei Erklärungen dafür gefunden: mangelnden Wettbewerb, zu viel Bürokratie – und Wutbürger.
WAS AMÜSIERT MICH?
Das Wochenende steht vor der Tür, da brauchen wir Schwung. Diese Band möchte uns dabei helfen. Als Instrumente bietet sie Strohhalm, Wasserglas und Wäscheeimer auf. Na, das kann ja was werden. Und es wird auch was.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Wenn Sie mögen: Morgen erzähle ich im Audio-Tagesanbruch von meinen Eindrücken in London, zudem berichtet unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold, was Donald Trump jetzt plant. Am Montag schreibt mein Kollege Florian Wichert den Tagesanbruch, ich greife dann ab Dienstag wieder in die Tasten.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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