Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Das Lachen könnte uns im Halse stecken bleiben
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Allseits akzeptierte Autoritäten sind heutzutage selten geworden. Der Papst, Franz Beckenbauer und die Kanzlerin fallen diesbezüglich aus, Willy Brandt, Hajo Kulenkampff und Fritz Walter haben den Aufenthaltsort leider gewechselt. Bleibt Wolfgang Schäuble. Als aktiver Parteipolitiker verstrickte auch er sich in manch halbseidenes Geschäft, aber als Bundestagspräsident hat er den moralischen Kompass qua Amt auf dem Schreibtisch stehen. Und er weiß ihm Geltung zu verschaffen. Jüngstes Beispiel ist seine Tirade gegen den zur Schau gestellten Reichtum.
"Ich verstehe nicht, dass einige besonders erfolgreiche Menschen eines nicht begreifen: Mit der Art, wie sie öffentlich wahrgenommen werden, senden sie fatale Signale aus und werden ihrer Verantwortung damit nicht gerecht", lässt sich Schäuble von den Zeitungen der Funke-Mediengruppe zitieren. Zentralbanken und Wirtschaftseliten suggerierten, Geld sei im Überfluss vorhanden. "Menschen mit knapp durchschnittlichem Einkommen oder mit durchschnittlicher Rente kann man da nicht mehr erklären, dass das für sie genug sei. Sie werden die Verhältnisse als zutiefst ungerecht empfinden." Es werde "viel Zeit und Akribie in Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen mancher Unternehmen darauf verwendet, Gehälter und Pensionen in schwindelerregender Höhe sicherzustellen", kritisiert er. Stattdessen solle man sich dort lieber mehr mit Mitarbeitern und Kunden beschäftigen. Auch für Franck Ribéry hat der Bundestagspräsident eine Watsche übrig: "Auch Fußballer sollten mehr darauf achten, welche Wirkung ihr Verhalten in der Öffentlichkeit hat. Warum muss man Bilder davon verbreiten, ein mit Blattgold überzogenes Steak zu essen?" Und: "Man muss den jungen Männern erklären: Ihr habt so viel Geld, ihr seid solche Stars – da wächst euch eine Verantwortung zu."
Gut gebrüllt, Löwe! Wer mag da widersprechen? Vielleicht allenfalls jemand, der sich fragt, warum Politiker wie Herr Schäuble Krisenbanken mit Milliarden retteten und anschließend zuguckten, wie diese weiter fröhlich Millionenboni verteilten.
"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser": Seit Jahrzehnten beherzigen autoritäre und totalitäre Systeme jedweder Couleur Lenins berühmt-berüchtigten Ratschlag. Die Sowjetunion, die DDR, die arabischen Kleptokraten, Iran, Pakistan und so weiter: Überall sind Diktatoren bei Lenin in die Lehre gegangen, um mittels Spitzeln, Abhöranlagen und Unterwanderung ihre Untertanen zu überwachen. Monströse, perfide, unmenschliche Systeme. Aber sie alle schrumpfen zu Zwergen im Vergleich zu dem totalen Überwachungssystem, das die Diktatoren in Peking nun mithilfe digitaler Technologien errichten.
Als ich vor einem Jahr die Bundeskanzlerin auf einer China-Reise begleitete, bekam ich zum ersten Mal einen direkten Einblick in das virtuelle Sozialpunktesystem. Bislang beruht es offiziell auf Freiwilligkeit, aber der soziale Druck ist so hoch, dass kaum jemand sich einer Teilnahme verwehren kann. Schon jetzt macht mehr als die Hälfte der 1,4 Milliarden Chinesen mit und bemüht sich, ein gutes Ranking auf dem digitalen Punktekonto zu erreichen. Wer fleißig arbeitet und der Obrigkeit gehorcht, bekommt Punkte gutgeschrieben. Wer Gesetze missachtet, politisch aufmuckt oder einfach nur über eine rote Ampel geht, kriegt Punkte abgezogen. Und wer studieren, im Beruf aufsteigen oder sonstige Privilegien genießen will, braucht, genau, ein gut gefülltes Punktekonto. Ein ständiger Kampf, bei dem jeder sich immerzu fragt: Wie kann ich mich weiter verbessern? Wie kann ich noch besser gehorchen? So werden Hunderte Millionen Menschen für einen moralisch konformen Lebenswandel im Sinne der kommunistischen Führung gedrillt. Der Staat lagert die Kontrolle also aus: Die Menschen überwachen sich selbst. Der Belohnungseffekt, der Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg, der eiserne Polizeistaat und wohl auch der Konfuzianismus mögen dazu beitragen.
Und was macht der Staat mit den gesammelten Daten? Er benutzt sie, um aus seinen Untertanen die besonders willfährigen für höhere Aufgaben in den Behörden und der Staatswirtschaft auszuwählen – und um Unliebsame zu bestrafen. Kurz vor dem am Dienstag beginnenden Volkskongress ist nun bekannt geworden, dass die Staatsführung im vergangenen Jahr in mehr als 20 Millionen Fällen Menschen verboten hat, mit dem Zug oder dem Flugzeug zu reisen. Grund: zu wenig Sozialpunkte. Die Staatspropaganda feierte die Meldung als tolle Maßnahme im Kampf gegen "unehrliche Subjekte".
Und sie zieht die Zügel weiter an. Nun verlangt die Führung vielen Untertanen auch noch ab, sich jeden Tag mit den geistigen Ergüssen des gottgleich verehrten Präsidenten Xi Jinping zu beschäftigen. Wer in China etwas werden will, muss Mitglied der Kommunistischen Partei sein. Und wer Mitglied der Kommunistischen Partei ist, muss nun eine App auf seinem Smartphone haben, die Xis Reden, Aufsätze und "weise Sprüche" sammelt. Nur wer sich täglich mehrere Stunden mit diesen Propagandawerken beschäftigt, bekommt die nötigen Punkte gutgeschrieben. Was das mit einem Menschen macht, hat die Kollegin Friederike Böge von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" in einem eindrucksvollen Text beschrieben.
Bemerkenswert sind allerdings auch die Reaktionen hierzulande, wenn man über das chinesische Überwachungssystem berichtet. Betroffenheit ist zu hören, sicher, aber auch Abgebrühtheit. Na ja, heißt es dann, die amerikanische NSA schnüffele doch auch überall herum, und haben nicht Facebook, Google und Amazon eh alle unsere Onlinedaten längst abgesaugt?
Alles richtig, aber was in China passiert, ist etwas anderes. Es ist der Versuch, den kompletten Lebenswandel bis in den letzten privaten Winkel zu kontrollieren und im Sinne der politischen Machthaber zu steuern. Im Jahr 1948 schrieb George Orwell seinen Roman "1984". Es hat etwas länger gedauert, als er dachte, aber 70 Jahre später scheint seine Dystopie doch noch Wirklichkeit zu werden. Das sollte sich jeder bewusst machen, der mit Chinas Staatslenkern zu tun hat – egal, ob bei G20-Treffen oder Nordkorea-Gesprächen, beim Feilschen um Huawei-Handymasten oder weil er in Peking Autos verkaufen will: Er verhandelt mit einer Führung, die Menschen zu Maschinen degradiert, zu gut geölten Rädchen in ihrem totalitären Herrschaftsapparat.
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Ab dem Jahr 2020 soll das Sozialpunktesystem verpflichtend für alle Chinesen sein. Na ja, mögen Sie jetzt vielleicht denken, China ist weit weg. Schon, aber die Chinesen sind Meister darin, ihre Technologien gewinnbringend global zu vermarkten. Einige asiatische, arabische und afrikanische Staaten sollen bereits Interesse bekundet haben, das Überwachungssystem zu importieren. Schimpfen Sie mich einen Schwarzseher, aber angesichts der wachsenden Macht Chinas ist es ziemlich wahrscheinlich, dass in einigen Jahren auch in anderen Ländern Sozialpunkte verteilt werden. "Dank modernster Technik sollen jede Firma und jeder Bürger in Echtzeit überwacht werden können – auch über die Grenzen der Volksrepublik hinaus", schreibt der China-Experte Stephan Scheuer in seinem Buch "Der Masterplan – Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft". "Diese Entwicklungen stellen Europa und Deutschland vor völlig neue Herausforderungen."
Kommt die totale digitale Überwachung also irgendwann auch nach Europa, vielleicht zunächst in Staaten mit autokratischen Tendenzen wie Ungarn, später auch andernorts? Heute mag uns der Gedanke lächerlich vorkommen. Aber das Lachen könnte uns bald im Halse stecken bleiben. Deshalb gilt: Wer nicht überwacht werden will, sollte jetzt wachsam sein. Und laut und deutlich für den Schutz seiner Daten eintreten.
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WAS STEHT AN?
Rosenmontag – da stehen auch in der Politik die Räder still. Trotzdem gibt es zwei interessante Termine:
Der Verkehrsausschuss des Europaparlaments stimmt heute über das Ende der Zeitumstellung ab. Anschließend müssen noch das Plenum sowie die einzelnen EU-Staaten zustimmen, bevor die halbjährliche Umstellung abgeschafft werden könnte. Wie es überhaupt zur Umstellung kam, lesen Sie hier.
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung stellt seine Bilanz "Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall" vor: Wie hat sich die Bundesrepublik seither im internationalen Vergleich entwickelt, und wie ist es um die innere Einheit des Landes bestellt? Heute Mittag wissen wir mehr.
WAS LESEN?
Die "Framing"-Studie der ARD hat viel Kritik auf sich gezogen – zu Recht, argumentiert Norbert Frei in der "Süddeutschen Zeitung": Ein guter öffentlich-rechtlicher Rundfunk sei heute wichtiger denn je – er sollte es seinen Gegnern aber nicht so ungeheuer leicht machen, ihn bloßzustellen.
WAS AMÜSIERT MICH?
Hat Ihnen der Film von Paris Anfang des 20. Jahrhunderts auch so gut gefallen wie den Lesern, die mir begeistert dazu geschrieben haben? Dann habe ich noch etwas für Sie: Vorhang auf für das Jahr 1911 in New York!
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Wochenbeginn.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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