Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Falls Sie sich bisher noch nicht für Handball interessiert haben, sollten Sie das spätestens jetzt tun. Was die deutsche Nationalmannschaft gestern gegen die bärenstarken Kroaten gezeigt hat, verdient unsere Begeisterung. Messerscharfe Pässe, unbändiger Kampfgeist und immer wieder diese geniale Gummihand von Uwe Gensheimer: Wie macht der Mann das, frage ich mich, hat der Pudding in den Gelenken? Ich könnte solche irren Bewegungen noch nicht mal ohne Ball ausführen – er zwirbelt, dreht, knallt dabei auch noch ein Tor nach dem anderen rein. Zum Niederknien. Und dann der Torwart Andreas Wolff: Mit 100 Kilo Kampfgewicht reißt er die Beine bis über die Ohren, um die gegnerischen Bälle abzuwehren. Ein Gigant!
Wie vermutlich 82 Millionen andere Deutsche kenne auch ich mich besser mit Fußball aus als Jogi Löw, Franz Beckenbauer und Jürgen Klopp zusammen. Aber vor diesen Handballhelden verbeuge ich mich ehrfürchtig. Sie haben es verdient, dass wir uns auch nach Ende der Weltmeisterschaft für sie und ihre Sportart interessieren. Aber jetzt erst mal das Halbfinale – bitte mit Gummihand!
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Wie viele Kilometer pro Stunde dürfen’s denn sein? Die vom Bundesverkehrsminister eingesetzte "Kommission zur Zukunft der Mobilität" empfiehlt auf allen deutschen Autobahnen ein Tempolimit von 130 km/h. Die Deutsche Umwelthilfe sagt: Reicht nicht, 120 km/h wären besser! Der Minister Andreas Scheuer selbst sagt nun: Alles falsch, alles "realitätsfern"! Schließlich hat er die Kommission nicht eingesetzt, um Ergebnisse zu produzieren, sondern um das Thema möglichst lange zerreden zu lassen. Wie man das halt macht, wenn man sich einer unbequemen Aufgabe entledigen will. Die Automobilindustrie ist hierzulande so mächtig, dass sie ein Tempolimit vermutlich auch dann noch torpedieren würde, wenn der Klimawandel die Nordseewellen bis ins Wolfsburger VW-Werk schwappen lässt.
Moment mal, stimmt das überhaupt? Schadet das Rasen auf deutschen Autobahnen denn wirklich der Umwelt? Ich habe mich darüber gestern mit unserem Autoredakteur Markus Abrahamczyk unterhalten, der mir ein paar interessante Dinge erzählt hat: Außer Deutschland hat in Europa nur noch die Isle of Man kein generelles Tempolimit, weltweit befinden wir uns in der zweifelhaften Gesellschaft von Afghanistan, Burundi, Nepal, Nordkorea und Somalia. So gesehen sind wir hoffnungslos rückschrittlich. Allerdings ist die Politik längst dazu übergegangen, schleichend doch ein Tempolimit einzuführen: Nur noch auf etwas mehr als der Hälfte der 13.000 deutschen Autobahnkilometer dürfen wir den Bleifuß durchdrücken, neben dem Rest stehen die Schilder mit dem roten Kreis. Aber nun kommt’s: Laut Experten ist der Effekt von Geschwindigkeitsbeschränkungen für die Umwelt nur gering. Der Anteil des Straßenverkehrs an den CO2-Emissionen liegt hierzulande bei etwa 12 Prozent. Schätzungen zufolge würde er bei einem Tempolimit von 120 km/h um höchstens 0,3 Prozentpunkte sinken. Thema also abgehakt, weiter zum nächsten?
Moment bitte, ganz so schnell lasse ich Sie nicht vom Haken. Es gibt ja noch weitere Gründe, warum ein Tempolimit durchaus erwägenswert wäre. Würden alle Autobesitzer nur mit 130 (oder meinethalben sogar nur 120) km/h durchs Land rollen, gäbe es möglicherweise nicht nur weniger Staus und weniger schwere Unfälle mit Toten und Schwerverletzten. Wir wären vermutlich auch sehr viel entspannter. Denn Rasen bedeutet nicht nur für den Fahrer eine enorme körperliche und mentale Anstrengung – sondern auch für alle, die drum herum gemächlich dahingleiten: Fast ein Drittel aller Autofahrer fühlt sich von Rasern und Dränglern gestresst, wie der Deutsche Verkehrssicherheitsrat ermittelt hat. Umso bemerkenswerter, dass die Zeitersparnis einer schnellen Fahrt gering ist, wie die Kollegen von "Auto Bild" bereits vor Jahren bewiesen haben: Ein Raser und ein Schleicher fuhren von Füssen nach Flensburg. Das Ergebnis nach 1.000 Kilometern: Der Raser kam gerade mal 13 Minuten eher an als sein Kollege, der sich an die Tempolimits gehalten hatte. Dreimal dürfen sie raten, wem es hinterher besser ging.
"Langsam und fehlerlos ist besser als schnell und zum letzten Mal", schreibt der Schriftsteller Sten Nadolny in seinem wunderbaren Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit". Könnten wir uns doch alle zu Herzen nehmen, oder?
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"Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Dieser Satz des ehemaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck galt jahrelang als Mantra deutscher Außenpolitik. Heute reagieren Diplomaten, darauf angesprochen, eher kleinlaut. Nach jahrelangen Kämpfen, nach ungezählten Toten und zig Milliarden Dollar Aufbauhilfe wollen alle nur noch raus: die Amerikaner, die Briten, die Deutschen irgendwie auch. Mit großen "Nation-building"-Plänen nach den Anschlägen vom 11. September gestartet, entwickelte sich der Dauerkrieg gegen die Taliban für die westlichen Staaten zu einem Albtraum. Heute ist er verloren.
Wer noch daran zweifelte, wurde gestern eines Besseren belehrt: Bis zu 126 Menschen starben bei einem Taliban-Angriff auf einen Militärstützpunkt in der Provinz Maidan-Wardak. Der nächste Anschlag in einer endlosen Reihe. Täglich kommen im Schnitt 35 Soldaten und Polizisten bei Angriffen und Gefechten ums Leben, heißt es aus dem afghanischen Militär. Ein griechischer Pilot hat den Kollegen der BBC gerade erzählt, wie brutal so eine Taliban-Attacke abläuft: Er überlebte vor einem Jahr einen Angriff auf ein Hotel in Kabul – unter einem Bett versteckt.
Seit Juli verhandeln die USA mit den Taliban über einen Waffenstillstand. Ergebnis: gleich null. Und auch der politische Prozess ist ins Stocken geraten; die geplanten Gespräche im Golfemirat Katar werden möglicherweise nie stattfinden. US-Präsident Trump denkt nun darüber nach, die Hälfte seiner 14.000 Soldaten im Land abzuziehen. Bundesverteidigungsministerin von der Leyen sagt: Dann gehen wir auch. Zurück bliebe ein Land, dessen Bewohner seit Jahrzehnten Krieg, Terror und Unterdrückung erlebt haben – und große Versprechungen aus dem Westen, die nach und nach gebrochen wurden. Die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verspielt.
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WAS STEHT AN?
Während die Briten im Brexit-Labyrinth umherirren, den Nordirland-Konflikt wieder anheizen und immer weiter von Europa wegdriften, gehen Deutschland und Frankreich immer näher aufeinander zu. 100 Jahre ist es her, dass unsere beiden Länder nach dem Ersten Weltkrieg den "Versailler Vertrag" schlossen, auf den nicht Frieden, sondern noch ein Weltkrieg folgte. Damals "wollten die Franzosen Deutschland möglichst stark schwächen", erklärt der Historiker Jörn Leonhard im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke. Dieses abschreckende Beispiel vor Augen, unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle 1963 den Élysée-Vertrag, die Grundlage der deutsch-französischen Freundschaft.
Bis heute profitieren wir von diesem visionären Abkommen, aber heute ist es an der Zeit, den Bund zu erneuern – und zu festigen. In einer Zeit der turbokapitalistischen Globalisierung, der neuen Nationalismen und digitalen Revolutionen schmieden Berlin und Paris das wohl engste Bündnis, das es weltweit zwischen zwei souveränen Staaten gibt: In sieben Kapiteln und 28 Artikeln entwirft der Aachener Vertrag, der heute von Angela Merkel und Emmanuel Macron in der rheinländischen Stadt unterschrieben wird, das Idealbild zweier Länder, die zu einem Doppelland zusammenwachsen. Das Abkommen enthält …
- ein klares Bekenntnis zu Europa und zum geordneten Multilateralismus.
- das gemeinsame Ziel, dass Deutschland als ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat aufgenommen wird.
- die Gründung eines deutsch-französischen Parlaments, besetzt aus 100 Abgeordneten beider Staaten.
- Den Aufbau eines deutsch-französischen Rates zur Koordination der Außen- und Verteidigungspolitik
- sowie eines weiteren Rates aus zehn Ökonomen, die künftig die Leitlinien einer gemeinsamen Wirtschafts- und Steuerpolitik entwerfen sollen.
- Impulse für gemeinsame Forschungsprojekte zur künstlichen Intelligenz.
- mehr Unterstützung für Bürgerinitiativen und Städtepartnerschaften.
"Der Élysée-Vertrag war noch ein Vertrag über die 'Zusammenarbeit', der Aachener Vertrag ist einer über 'Zusammenarbeit und Integration'. Damals ging es also darum, zwei eigenständige Staaten zu koordinieren. Heute geht es auch darum, zu verschmelzen, wo es sinnvoll ist. Integration heißt schließlich: zu einer Einheit werden. In der EU spricht man von Integration. Zwischen zwei Staaten ist das unerhört", bilanziert unser Reporter Jonas Schaible, der heute von der Zeremonie in Aachen berichten wird.
Vor 100 Jahren haben Deutsche und Franzosen aufeinander geschossen. Vor 78 Jahren noch einmal. Heute schmieden wir das wohl mutigste Friedensbündnis der Welt. Grund genug, diesen 22. Januar 2019 zu feiern!
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WAS LESEN?
Wenn Sie den Tagesanbruch schon ein Weilchen lesen, dürfen Sie diese Passage überspringen, denn den folgenden Text habe ich bereits vor anderthalb Jahren empfohlen. Da mich aber viele Zuschriften von Leserinnen und Lesern erreichen, die sich fragen, wie Donald Trump so werden konnte, wie Donald Trump nun mal ist, empfehle ich den Text noch einmal: Im Jahr 1990 gab Trump (damals noch ein New Yorker Geschäftsmann) dem "Playboy" (damals noch ein Blatt mit ernst zu nehmenden Artikeln) ein langes Interview. Er plauderte frei von der Leber weg über seine Weltsicht. Wer die Psyche des heute mächtigsten Mannes der Welt ergründen will, sollte diesen Text lesen. Auch Kanzlerin Merkel hat ihn sich schon zu Gemüte geführt.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Ahaaa! Endlich haben sich die Briten ausgemährt! Endlich wissen wir, was sie mit ihrem Plan B (oder C oder D) wirklich von der EU wollen. Na ja, zumindest unser Cartoonist Mario Lars weiß es:
Ich wünsche Ihnen stets einen aufrechten Gang an diesem historischen Tag.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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