Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
gestatten Sie mir heute bitte zu Beginn eine persönliche Bemerkung: Seit mehr als 14 Monaten schreibe ich Nacht für Nacht den "Tagesanbruch": Dass das trotz gelegentlicher Mühsal meistens eine Freude ist, liegt nicht an mir, sondern an den netten E-Mails von Leserinnen und Lesern, die mich erwarten, wenn ich morgens meine Mailbox öffne. Dafür bedanke ich mich an dieser Stelle sehr herzlich. Diese Worte sind ein Labsal. Was meine eigenen Worte angeht, habe ich allerdings hier und da vernommen, dass es ruhig etwas weniger sein könnten. Das nehme ich mir sogleich zu Herzen und serviere Ihnen heute mal einen etwas anderen "Tagesanbruch": Hier sind Bilder, die uns an diesem Freitag bewegen. Na gut, und ein paar Worte dazu:
WAS WAR?
Was wir sehen: Ein Polizist beugt sich über eine verletzte Person.
Was passiert ist: Wenige Minuten zuvor hat die Person noch gefeiert, getrunken, vielleicht getanzt. Nun liegt sie angeschossen am Boden, ebenso wie zehn weitere Gäste des "Borderline Bar & Grill" im Nordwesten von Los Angeles. Weil ein 28-jähriger Mann, ehemaliger Soldat, in das Lokal gestürmt ist, einen Wachmann niedergeschossen, Rauchbomben geworfen und dann in die Menschenmenge gefeuert hat. Augenzeugen und Angehörige sind schockiert, entsetzt, fassungslos. Trotzdem verschwand der Mehrfachmord vielerorts schnell wieder aus den Schlagzeilen. Die Welt hat sich daran gewöhnt, dass in Amerika alle paar Wochen jemand ein Blutbad anrichtet. Las Vegas, Orlando, Blacksburg, Newton: Das sind nur die Orte der schlimmsten Massaker. Das "Gun Violence Archive" hat allein in diesem Jahr mehr als 300 Fälle gezählt, in denen vier oder mehr Menschen Opfer einer Schießerei wurden. Ein Wahnsinn.
Der nicht endet. Weil Waffenlobbyisten verhindern, dass die Politiker in Washington die Gesetze drastisch verschärfen. 857 Millionen Schusswaffen befinden sich im Privatbesitz von US-Bürgern, durchschnittlich 2,6 pro Einwohner. Zum Vergleich: Alle Armeen der Welt zusammengenommen horten 133 Millionen Pistolen und Gewehre in ihren Arsenalen. Und der Vergleich mit anderen Staaten? Sieht so aus:
Das Bündnis aus Politik, Waffennarren und -herstellern hat in den USA Woche für Woche tödliche Folgen. In dieser Hinsicht ist Amerika das Land des unbegrenzten Zynismus.
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WAS STEHT AN?
Der 9. November ist für uns Deutsche ein besonderes Datum. Immer wieder fokussierte sich die Geschichte unseres Landes wie in einem Brennglas auf diesen Tag. Wenn wir uns an diese Ereignisse erinnern, sollten wir die Hintergründe kennen.
Was wir sehen: Philipp Scheidemann.
Was passiert ist: Heute vor 100 Jahren, am 9. November 1918, rief der Kasseler SPD-Abgeordnete an einem Fenster des Berliner Reichstagsgebäudes die deutsche Republik aus (das Foto wurde zehn Jahre später nachgestellt). "Es war die Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie in Deutschland", sagt Bundespräsident Steinmeier, der heute Vormittag im Bundestag eine wegweisende Rede halten will, in der er diese historische Zäsur in den Kontext der deutschen Geschichte einordnet. Denn wir vergessen oft, dass die Weimarer Republik zwar in die Katastrophe des Nationalsozialismus mündete – aber vorher eben auch den Aufbruch Deutschlands aus dem zusammengebrochenen Kaiserreich in eine parlamentarische Demokratie markierte. "Wir wissen heute, dass Demokratie eben keine Selbstverständlichkeit ist, dass sie erkämpft worden ist von Männern und Frauen, viele dabei ihr Leben verloren haben", sagt der Bundespräsident. "Und wir erinnern uns auch, in welche Abgründe es führt, wenn die Gegner der Demokratie die Mehrheit erringen. Ich wünsche mir, dass der 9. November ein Tag wird, an dem Demokraten in unserem Land ihre Kräfte sammeln und an dem wir alle miteinander mit Stolz sagen: 'Es lebe die Republik, es lebe die Demokratie!'"
Wer allerdings angesichts der heutigen Konflikte in unserem Land davon spricht, wir hätten wieder "Weimarer Verhältnisse", dem erklärt der Historiker Jörn Leonhard in diesem Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke, warum das völlig falsch ist.
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Sie kennen sicher die Bilder brennender Synagogen und zertrümmerter Schaufenster jüdischer Geschäfte – aber diese Fotos kennen Sie vermutlich noch nicht:
Was wir sehen: Verbrennung der Synagogeneinrichtung auf dem Marktplatz im badischen Mosbach im November 1938.
Was wir sehen: Verbrennung der Synagogeneinrichtung am Saalestich im oberfränkischen Hof am 10. November 1938.
Was wir sehen: Die Zerstörung des jüdischen Totenwagens im hessischen Flörsheim am Rhein.
Was wir sehen: Die Zerstörung der Synagoge in Kippenheim (Baden) am 10. November 1938.
Was passiert ist: Viele sagten später, sie hätten nicht gewusst, dass Juden in Deutschland misshandelt, beraubt, entrechtet, ermordet wurden. Schauen Sie sich bitte die Gesichter der Menschen auf den Fotos an und machen Sie sich Ihr eigenes Bild. Sie stammen aus dem Bildband "Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge", der heute Abend erstmals vorgestellt wird. Zusammen mit Astrid Köppe hat der Fotograf Michael Ruetz in mehr als tausend Archiven recherchiert, um zu dokumentieren, was am 9. November 1938 geschehen ist. "Die Recherche förderte eine ungeahnte Fülle an Bildern und Zeitzeugenberichten zutage, die eine weitreichende Komplizenschaft von Tätern und Mitläufern zeigen: hier die Zerstörungswut und triumphierende Häme des entfesselten Mobs, dort die feige Neugier der Zuschauer mit den Händen in den Taschen", schreiben die Autoren. "Die Fotos aus ganz Deutschland dokumentieren, wie leicht auch und gerade in der 'Provinz', wo jeder jeden kannte, die Gewaltbereitschaft zu entfesseln war – und wie wenig Mut und Zivilcourage sich dagegen erhob. So markiert der 9. November 1938 den Probelauf und Anfangspunkt des Holocaust – unter aller Augen."
Auch Kurt Rippich hat das Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 als Bub im Berliner Scheunenviertel miterlebt. Nur wenige Hundert Meter von seinem damaligen Wohnort arbeitet heute seine Enkelin Nathalie Helene Rippich: in der Redaktion von t-online.de. Meine Kollegin hat mit ihrem Großvater über seine Erinnerungen gesprochen und die wichtigsten Passagen für Sie aufgeschrieben: "Die Angst, die diese jüdischen Kinder damals hatten. Wie sie sich ganz klein gemacht haben, ganz unsicher waren und vor allem und jedem Furcht hatten." Diesen Text sollten Sie heute bitte lesen.
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Was wir sehen: Thomas Lukow in Erich Mielkes ehemaligem Büro in der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg.
Was passiert ist: Wer schon mindestens vier Jahrzehnte auf dieser Erde wandelt, erinnert sich vermutlich daran, wo er war und was er gerade tat, als er am 9. November 1989 vom Fall der Berliner Mauer erfuhr. Zunächst die Überraschung und die Ungläubigkeit, dann der Jubel und die grenzenlose Euphorie haben sich in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt.
Aber erinnern wir uns heute, 29 Jahre später, auch noch an die Schattenseiten des Regimes, das damals von seinen eigenen Bürgern hinweggefegt wurde? Es gibt Orte, an denen wir diese Schattenseiten immer noch hautnah erleben können. Zum Beispiel in der ehemaligen Zentrale der Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße. Dort begegnen wir Thomas Lukow, er führt uns durch die beeindruckende Ausstellung, die heute in den Räumen untergebracht ist.
In seiner Jugend wurde Lukow selbst von der Stasi drangsaliert, reiste später aus der DDR aus – und sieht es heute als seine Verpflichtung, Menschen über das Regime aufzuklären. "In den Schulen wird heute nicht mehr klar genug vermittelt, dass die DDR ein Unrechtsstaat war", sagt er. Am klarsten zeige sich dieses Unrecht in dem perfiden Überwachungs- und Unterdrückungsapparat, den die Stasi errichtete. 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter mit dem Ziel, die Diktatur zu sichern und jeden Kritiker mundtot zu machen. 200.000 Informelle Mitarbeiter, viele unter Druck zur Mitarbeit bewogen. Überwachungsakten über mehr als fünf Millionen Ostdeutsche, bis zu 10.000 Seiten stark. 250.000 politische Häftlinge. "Viele damals Verantwortliche sitzen heute in Unternehmen, Medien, dem Bundestag", sagt Lukow. Geschichte, das lernen wir in der Normannenstraße, ist niemals zu Ende.
So sieht es auch Roland Jahn. "Von diesem Büro aus sind viele Maßnahmen gegen die Bevölkerung angeordnet worden", erzählt der Chef des Stasi-Unterlagen-Archivs, als er im ehemaligen Büro von Stasi-Chef Erich Mielke steht. "Hier an diesem Schreibtisch, dem Ort der Schreibtischtäter." Mielke sorgte persönlich dafür, dass Jahn von der Uni geworfen und gewaltsam ausgebürgert wurde. Wie er die Nacht des 9. November 1989 erlebte und was er heute fühlt, wenn er an Mielkes Schreibtisch steht, das hat Jahn meinen Kollegen Johannes Bebermeier, Martin Trotz und Nicolas Lindken erzählt.
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WAS LESEN?
Unser Interview mit Gerald Knaus hat gestern hohe Wellen geschlagen. Darin erklärt der Migrationsexperte, worum es im umstrittenen Globalen Migrationspakt wirklich geht – und worum nicht. Falls Sie den Text noch nicht gelesen haben, können Sie das hier nachholen.
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WAS FASZINIERT MICH?
Vielleicht erinnern Sie sich noch an den norwegischen Zug, mit dem Sie letzte Woche an dieser Stelle fahren konnten. Das war für den Anfang nicht schlecht. Aber jetzt wollen wir uns zu Höherem aufschwingen. Ein bisschen Abstand gewinnen. Die Dinge mit Distanz betrachten. Und, während die Welt unter uns vorüberzieht, die Seele baumeln lassen und allmählich das Wochenende einläuten. Die Sonne geht unter, sie geht wieder auf, und schon in anderthalb Stunden haben wir eine entspannte Runde gedreht. Einmal rum um die Erde. Was für eine Woche da unten! Hier können wir wieder auftanken. Bei uns auf der ISS.
Ich wünsche Ihnen einen frohen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Wenn Sie mögen: Im Audio-Tagesanbruch am Wochenende analysieren mein Kollege Marc Krüger und ich die aktuelle Lage in Deutschland und der Welt: Morgen ab 6 Uhr hier.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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