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Zeitzeuge der Reichspogromnacht: "Was haben die Juden uns denn getan?"


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Zeitzeuge der Reichspogromnacht berichtet
"Was haben die Juden uns denn getan?"


Aktualisiert am 09.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Die brennende Börneplatz-Synagoge aus der Reichspogromnacht.Vergrößern des Bildes
Die brennende Börneplatz-Synagoge aus der Reichspogromnacht. (Quelle: ullstein bild)

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen, Menschen jüdischen Glaubens wurden misshandelt und gedemütigt. Als kleiner Junge hat Kurt Rippich in Berlin die Szenen der Gewalt beobachtet.

Blass sieht er aus, kleiner als sonst. Die Stimme ist gedämpfter, immer wieder macht er Pausen. Er muss überlegen: 80 Jahre sind vergangen, seit er in Berlin am 10. November 1938 erst die Linienstraße, dann die Kleine Rosenthaler Straße entlang ging, unterwegs zur Schule in der Gipsstraße. Damals, gerade sechs Jahre alt, so erzählt er heute – ein ganzes Leben später – wusste er noch nicht, welche Bedeutung das hatte, was er dort sah.

Der Mann ist mein Opa. Aufgewachsen im Scheunenviertel, das schon seit dem 18. Jahrhundert Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin war. In den Dreißigerjahren wohnte er mit seinen Eltern und den drei jüngeren Geschwistern in der Linienstraße. Die meisten Nachbarn: arme Ostjuden. Am 9. und 10. November wurden in der sogenannten Reichspogromnacht jüdische Mitmenschen systematisch angegriffen.

Mein Großvater erzählt:

"Ich erinnere mich an die Namen der Familien Abraham, Landau, Löw. Meine Eltern unterhielten sich oft mit ihnen. Die Einkäufe tätigte Mutter möglichst im direkten Wohnumfeld. Suppenknochen, aber auch Fleisch für Sonn- und Feiertage zum Beispiel beim Fleischer W.F. Fischer, ein jüdisches Geschäft. Für die sechsköpfige Familie konnten wir dort zur Not anschreiben lassen, der Ladeninhaber war auch Hausverwalter. Das Verhältnis mit den jüdischen Nachbarn war immer sehr gut", erzählt mein Opa. "Erst wohnten wir in der Nummer 19, der Hausverwalter war Jude und sehr nett. Aber der Gründerzeitbau sollte wie andere Häuser in der Gegend zeitgemäßen Bauten im nationalsozialistischen Stil weichen. Wir sind dann in die Nummer 67 gezogen. Nicht nur deshalb war meinen Eltern völlig klar, dass das Leben der Juden im Scheunenviertel immer unerträglicher werden würde."

Über den Nationalsozialismus hat mein Opa selten gesprochen. Wenn ich mich im Rahmen des Politikstudiums mit dieser Zeit befasst habe, hat er – sonst redegewandt und stimmgewaltig – nur resigniert den Kopf geschüttelt. Nun sitzt er vor mir auf dem Sofa, draußen ist es trüb. "Wie damals", sagt Opa. Er hat sich dazu entschieden, meinen Bitten nachzukommen, mir zu erzählen, woran er sich aus der Reichspogromnacht noch erinnert. Jenem Ereignis, das die extreme Diskriminierung der deutschen Juden nochmals radikalisierte. Der Rassenwahn der Nazis endete im Holocaust, von den Juden als Schoa bezeichnet. Einem Völkermord, dem mehr als sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer fielen.

Die Stimmung war bedrohlich

"Dass die Juden keinen guten Stand hatten, wusste ich. Verstanden habe ich das damals aber nicht. Es gab einige jüdische Schulen in unserer Gegend, ein Gymnasium, eine Mädchenschule. Das weiß ich noch. Von unserer Wohnung aus konnten wir auf die Mauer vom Alten Garnisonsfriedhof sehen. Dort sind die Kinder immer nah an der Wand lang gelaufen", fährt Opa fort. "Ganz unsicher und ängstlich, als würden sie Schutz suchen. An der Mauer entlang, das waren nur etwa hundert Meter, aber man hat in den Gesichtern und an der Körperhaltung der jüdischen Kinder gesehen, dass ihnen der Weg ewig lang vorkam. Ganz gebückt und klein, als wollten sie unsichtbar sein. Man hat die Furcht vor Pöbeleien und Demütigungen gespürt. Ältere Jungen haben zum Spott gerufen 'Jude, Itzig, Lebertran'. Das war eine böse Beleidigung. Mir tat das immer leid. Ich hatte ja auch viele jüdische Freunde. Die Stimmung war bedrohlich, das habe ich gemerkt – auch als Kleiner."

Schon vor den Novemberpogromen, die überall in Deutschland wüteten, wurden Juden enteignet und vertrieben. Am 7. November 1938 schoss der polnische Jude Herschel Grynszpan in Paris auf einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft. Das NSDAP-Mitglied starb am 9. November an seinen Verletzungen. Was darauf in Deutschland folgte, waren Angriffe auf jüdische Geschäfte und Kultureinrichtungen sowie auf Wohnungen und Friedhöfe. Angeblich entlud sich in diesen Tagen der Zorn des Volkes auf die Juden, so die Darstellung der Nationalsozialisten. Tatsächlich handelte es sich um einen systematisch gesteuerten Akt der Gewalt.

Gläser voller Bonbons sind auf der Straße zerschellt

"Ich war erst im April eingeschult worden. Am Morgen des 10. November war ich auf meinem täglichen Schulweg. Wie üblich mit Schulranzen und Schiefertafel, Griffel, Lesebuch, Schreib- und Rechenheften auf dem Rücken. Ein feuchter Schwamm und ein Stofflappen baumelten immer aus dem Ranzen. Der Morgen war trübe, das weiß ich noch. Als ich in die Gipsstraße eingebogen bin, habe ich eine aufgeregte Menschenmenge bemerkt. Dann habe ich gesehen, dass die Schaufenster eines jüdischen Geschäfts kaputt waren, Glasgefäße mit bunten Bonbons sind auf der Straße zerschellt. Einige Menschen standen rum und haben geguckt. Andere haben mitgemacht. Nach den Gläsern sind Kartons voll Schokolade auf die Straße geflogen und andere Süßigkeiten. Ein paar Leute waren wütend, andere mehr euphorisch. Einige waren vor allem betroffen und hatten Angst. Den Ladenbesitzer konnte ich in der Menge nicht ausmachen."

In ganz Deutschland wurden mehr als 1.400 Synagogen zerstört und niedergebrannt, unzählige jüdische Läden und Wohnungen verwüstet, Menschen jüdischer Abstammung gedemütigt. Polizei und Feuerwehr sollten nicht eingreifen, lediglich von Nicht-Juden bewohnte Häuser wurden geschützt. In kürzester Zeit wurden Tausende jüdische Männer in Konzentrationslager gebracht, gefoltert und misshandelt. Hunderte kamen zu Tode.

"Ich habe mich erschreckt"

"Ich stand eine Weile da und habe geguckt. Immer mehr Zeug wurde aus dem Laden geschmissen. Und dann kam über die Köpfe der Leute hinweg eine Holzkiste ohne Deckel geflogen und ist direkt vor meine Füße gefallen. Ich hab mich erschreckt, hab sie dann aber aufgehoben und eingesteckt. Dann bin ich in meine Klasse gegangen. In der Schule haben wir Kinder unter vorgehaltener Hand über das geredet, was wir auf den Straßen gesehen hatten. Manchen hat das Angst gemacht, andere fanden es spannend. Ich glaube, wirklich verstanden hat es keiner von uns. Wir waren ja noch so klein. Die Lehrer haben gar nichts dazu gesagt, der Unterricht lief ab wie immer."

Enteignungen, die sogenannte Arisierung, und der nahezu komplette Ausschluss der Juden aus dem Wirtschaftsleben waren die Folge der Novemberpogrome. Hunderttausende wurden ihrer Existenz beraubt. Besonders zynisch war, dass die Opfer der Übergriffe per Beschluss Hermann Görings dazu verpflichtet wurden, die Ordnung wiederherzustellen. Sie mussten also für die Zerstörungen selbst aufkommen.

Die Eltern waren sehr bedrückt

"Was meine Eltern an diesem Tag gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich aber daran, dass ich nach der Schule nach Hause gegangen bin. Viele Schaufenster waren kaputt und auf den Straßen lag allerhand Zeug rum. Ich hatte meine Holzkiste mit. Sie sah aus, als wäre in ihr etwas Hochwertiges gewesen. Ich weiß es noch genau: Gespundet mit Nut und Zapfen. Richtig edel. Als ich sie nach Hause brachte, hat meine Mutter mich sofort gefragt, woher ich die Kiste habe. Ich habe ihr erzählt, was ich am Morgen gesehen hatte. Dann weiß ich noch, dass sie immer wieder gesagt hat: 'Was haben die Juden denn bloß den Deutschen getan?' Auch mein Vater war bedrückt. Wir haben in einem jüdischen Milieu gelebt, sind alle gut miteinander ausgekommen. Mein Vater hatte lange Zeit die Miete an einen Juden bezahlt, wir Kinder haben miteinander gespielt. Ich bin heute stolz auf die Haltung meiner Eltern. Sie erzählten uns Kindern, dass besonders die Ostjuden sich ebenso durchschlagen mussten wie wir. Und es waren vor allem jene, die in unserem Viertel gelebt haben. Meine Mutter war eine kleine, fleißige Frau. Minna hieß sie, der Vater August. Er war Desinfektor. Beide hatten Mühe, die vier Kinder durchzubringen. Sie saßen am Abendbrottisch und waren sehr betroffen und nachdenklich."

Zehntausende Juden wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht. Vornehmlich – so lautete die Anweisung – wohlhabende. Einige wurden bereits bei der Ankunft umgebracht, andere starben später an den Folgen von Zwangsarbeit, Erfrierungen und Krankheiten. Die, die gehen durften, mussten ihren Besitz dem Staat überschreiben und sich zur Ausreise bereit erklären.

Die Holzkiste wurde zum Mahnmal

"Später, wenn Mutter für uns sechs Kartoffeln schälte, landeten die Schalen in der schönen Kiste. Wenn sie voll war und von der Straße die Messingbimmeln an den Pferdewagen von den umliegenden Ställen zu hören waren, war in der Regel ich es, der mit der Kiste rausgegangen ist. 'Brennholz für Kartoffelschalen' wurde dann gerufen. Und ich bin mit einem Bündel Holz wieder hoch in die Küche gegangen. Und mit dieser Kiste. Manchmal gab es auch Milch für die Kartoffelschalen. Viele jüdische Nachbarn waren da schon nicht mehr da. Ich erinnere mich an meinen jüdischen Freund Werner, der irgendwann mit seiner Familie weggegangen ist. Die, die geblieben sind, waren immer bedrückt und besorgt. Auch die Kinder."


Nach den Novemberpogromen entschieden sich viele Juden, Deutschland zu verlassen. Schon vorher hatten sich viele jüdische Familien zur Ausreise entschlossen, die Zahl stieg jedoch nach den Angriffen vom 9. und 10. November sprunghaft an. Vielen ist endgültig klar geworden, dass die Lage aussichtslos und ihre Leben in akuter Gefahr waren.

Die Kiste hat den Krieg überlebt, die meisten Nachbarn nicht

"Meine Familie ist vor der Bombardierung Berlins auch weggegangen nach Schlesien. Über Tschechien und Dresden kamen wir irgendwann im Dezember 1945 oder Januar 1946 zurück nach Berlin. Unser Haus stand noch, wir sind wieder in unsere Wohnung zurückgekehrt. Aber ansonsten war fast alles kaputt. Es gab kaum noch richtige Wege, nur Pfade zwischen den Ziegeln, die sich getürmt haben. Meine Mutter, die Geschwister und ich waren da. Vater war bis 1948 in russischer Gefangenschaft. Nichts war mehr so wie früher. Alles war kaputt. Die Kiste war noch da, die hat den Krieg überlebt. Das Süßigkeitengeschäft, aus dem sie voll Hass und Wut geworfen wurde, nicht. Der Besitzer wahrscheinlich auch nicht. Viele von meinen Freunden und viele Kinder, die ich gar nicht kannte, auch nicht. Ich war dann ja schon größer und habe gesehen, dass alles Schutt und Asche war. Und diese Kiste war immer wie ein Mahnmal. Mich verfolgt das noch heute. Die Angst, die diese jüdischen Kinder damals hatten. Wie sie sich ganz klein gemacht haben, ganz unsicher waren und vor allem und jedem Furcht hatten. Kaum vorzustellen, was diese Menschen durchlitten haben. Das bewegt mich von allem am meisten. Heute, mit 86 Jahren, sehe ich das so, dass 1933 und 1938 die wichtigsten Daten sind in der Geschichte. Wichtiger als '61 oder auch '89."

Dieser Text erschien erstmals am 9. November 2018 auf t-online.de.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherche



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