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Atomkraft verlängern? Grüner warnt vor "Riesendummheit"


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Grüner zur Atomkraft-Debatte
"Es wäre eine Riesendummheit"

InterviewVon Lisa Becke

Aktualisiert am 09.08.2022Lesedauer: 8 Min.
Annalena Baerbock und Robert Habeck: Die Grünen geraten beim Thema Atomkraft unter Druck.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock und Robert Habeck: Die Grünen geraten beim Thema Atomkraft unter Druck. (Quelle: Janine Schmitz/imago-images-bilder)
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Bleiben die letzten Kernkraftwerke länger am Netz? Der grüne Atomkraftgegner Michael Schroeren fürchtet einen folgenschweren Fehler seiner Partei.

Eigentlich sollen die drei noch laufenden Atommeiler Deutschlands Ende des Jahres vom Netz. So war es lange beschlossen. Eigentlich. Doch nun tobt eine Debatte darüber, ob man sie nicht doch etwas länger brauche – angesichts einer neuen Energiesituation, ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Die Union ruft die Regierung zum raschen Kauf neuer Brennstäbe auf, zuletzt besuchten CDU-Chef Merz und CSU-Chef Söder gemeinsam den Meiler Isar II in Bayern.

Nicht nur aus der Opposition kommen solche Stimmen: In der Regierung ist die FDP vorgeprescht und drängt auf einen Weiterbetrieb. Parteichef und Finanzminister Christian Lindner brachte eine Laufzeitverlängerung "nötigenfalls" bis 2024 ins Spiel. Auch SPD-Kanzler Scholz erklärte nun, er halte längere Laufzeiten über das Jahresende hinaus für möglich. Und die Grünen?

Grundfalsch verhalte sich seine Partei in der Debatte, findet Michael Schroeren. Der 72-Jährige kämpfte sein Leben lang gegen die Atomkraft. Als Jürgen Trittin grüner Umweltminister wurde, arbeitete er als dessen Sprecher. Im Interview spricht er über den aus seiner Sicht eigentlichen Zweck der Debatte und warum ein "Streckbetrieb" kein Kompromiss wäre.

t-online: Herr Schroeren, auf Twitter schreiben Sie: "Jetzt, kurz bevor die letzten Meiler vom Netz gehen, lass ich mir den Erfolg nicht klauen." Geht es hier um Ihre persönlichen Befindlichkeiten?

Nein, natürlich nicht.

Es klingt aber danach.

Es geht um die Ankündigung von Widerstand. Wer die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängert, der verlängert auch den Widerstand dagegen. Ich denke, da bin ich nicht der Einzige, dem es so geht. Es gibt ganz viele Menschen im Land, die mit Recht stolz darauf sind, dass sie den Atomausstieg durchgesetzt haben und die es nicht widerstandslos hinnehmen werden, wenn jetzt nach 2010 erneut versucht werden sollte, das Rad zurückzudrehen. Der Atomausstieg hat unserem Land einen enormen Sicherheitsgewinn gebracht. Den dürfen wir nicht verspielen.

Die Situation sei jetzt eine grundlegend andere, argumentieren viele. Durch die Folgen von Russlands Angriff auf die Ukraine droht uns hierzulande ein Energie-Engpass. Muss man da jetzt nicht pragmatisch sein?

Das bin ich.

Michael Schroeren (Foto: privat)
Michael Schroeren (Foto: privat)

Michael Schroeren

kämpft seit 1974 gegen die Atomkraft und nahm schon als 25-Jähriger an der Besetzung des AKW-Bauplatzes in Wyhl am Oberrhein teil. Der heute 72-Jährige ist seit 2008 Mitglied der Grünen und war Pressesprecher von Jürgen Trittin, als dieser 1998 grüner Umweltminister wurde. Seine Diplomarbeit schrieb der Politikwissenschaftler über die erfolgreiche Bürgerbewegung gegen den Bau des geplanten schweizerischen Atomkraftwerks Kaiseraugst bei Basel.

Aber die Atomkraft noch etwas länger als ursprünglich geplant zu nutzen, lehnen Sie vehement ab.

Ja. Nach allem, was wir derzeit wissen, gibt es keinen energiepolitisch zwingenden Grund, die Laufzeiten von Atomkraftwerken über das Ende des Jahres hinaus zu verlängern, um die Versorgung des Landes mit Strom zu sichern. Jedenfalls nicht, solange alle anderen wesentlich risikoärmeren Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft werden.

Das größte Potenzial bietet zweifellos das gezielte und in großem Maßstab planbare Einsparen von Energie. Leider wird diese Strategie von interessierter Seite mit Parolen wie "Frieren für den Frieden" desavouiert. Gleichzeitig wird der Beitrag, den die verbleibenden drei Atomkraftwerke mit einem sogenannten Streckbetrieb leisten könnten, absichtsvoll überschätzt.

Zählt jetzt nicht jede Kilowattstunde?

Richtig. Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde zählt.

Aber nicht jede, die man durch einen Weiterbetrieb erhalten könnte?

Die Sicherheit der Bevölkerung hat unbedingten Vorrang vor der Sicherheit der Stromversorgung. Atomkraft ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Statt weiteren Atomstrom zu produzieren, sollten wir alle anderen wesentlich risikoärmeren Möglichkeiten der Stromversorgung ausschöpfen.

Manche sprechen von einem sogenannten Streckbetrieb. Bei diesem würden keine neuen Brennstäbe gekauft, aber eines oder mehrere der drei Atomkraftwerke, die momentan noch laufen, würden über das Jahresende hinaus in Betrieb bleiben. Ein guter Kompromiss?

Nein. Im sogenannten Streckbetrieb würde ja die Menge des produzierten Stroms nicht erhöht, sondern lediglich auf einen längeren Zeitraum gestreckt – ein Nullsummenspiel. Außerdem ist ein Streckbetrieb über das Jahresende hinaus nach geltendem Recht nicht zulässig, ganz abgesehen von den dann fälligen Sicherheitsüberprüfungen.

Und wenn man doch neue Brennstäbe kauft und den Betrieb dadurch verlängert?

Das wäre aberwitzig. Schauen Sie, sämtliche Risiken, die mit dem Betrieb von Atomkraftwerken verbunden sind und die den Gesetzgeber letztlich dazu veranlasst haben, sich aus dieser Technologie zu verabschieden, alle diese Risiken sind ja nicht geringer geworden, weil in der Ukraine Krieg herrscht. Zeitenwende hin oder her. Im Gegenteil, sie sind sogar noch größer geworden. Wir erleben gerade, dass Atomanlagen in Europa Ziele militärischer Operationen geworden sind – ein ungeheuerliches Risiko, das unsere Atomaufsicht bisher noch gar nicht auf dem Schirm hat!

Hinzu kommt, dass eine solche Laufzeitverlängerung auch den Atommüll vermehrt, für den es derzeit kein sicheres Endlager gibt. Der 2011 begonnene Neustart für eine ergebnisoffene Standortsuche war gekoppelt an die Befristung der AKW-Laufzeiten und die Begrenzung der hoch radioaktiven Abfälle. Wer dieses Fass aufmacht, torpediert das ganze Verfahren.

Im Moment läuft ein zweiter sogenannter Stresstest: Sollte der ergeben, dass der Nutzen eines Weiterbetriebs seine Risiken übersteigt, sollten sich die Grünen darauf nicht einlassen?

Auf keinen Fall. Dieser Stresstest soll ja nicht die Sicherheit der Anlagen testen, sondern den voraussichtlichen Strombedarf und die erwartbare Belastung des Stromnetzes. Dieser Stresstest wird also überhaupt keine Aufschlüsse über den Zustand der betreffenden Atomkraftwerke und deren Nachrüstungsbedarf geben. Das könnten nur Sicherheitsüberprüfungen ergeben, die vor einer Laufzeitverlängerung unverzichtbar wären.

Die letzten Überprüfungen fanden 2009 statt. Nach zehn Jahren, also 2019, wären sie eigentlich wieder fällig gewesen – darauf wurde mit Blick auf das Abschaltdatum 2022 aber verzichtet.

Genau, denn eine periodische Sicherheitsüberprüfung ist keine Kleinigkeit, sondern ein sehr aufwendiges und kostspieliges Verfahren. Das geht nicht mal so eben am Schreibtisch zwischen Frühstück und Mittagspause, sondern dauert Jahre, in denen geprüft wird, ob die Anlage dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Falls nicht, sind Nachrüstungen vorgeschrieben. Das heißt auch: Es gäbe keinen schnellen Nutzen durch den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke.

Und wenn man die Meiler ein paar Monate noch so laufen lässt?

Das wäre ein unverantwortliches Vabanque-Spiel, das allen Sicherheitsregeln widersprechen würde, die für den Betrieb von Atomkraftwerken vorgeschrieben sind – und ein Fall für die Gerichte. Wie wichtig diese periodischen Sicherheitsüberprüfungen sind, kann man gerade in Frankreich sehen. Da stehen mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke still, weil bei einer solchen Untersuchung Korrosionen in Rohrsystemen festgestellt wurden, deren Bruch – ausgelöst durch ein Erdbeben – zu einer Kernschmelze führen könnte.

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Wenn das – Ihrer Auffassung nach – keinen Sinn ergibt: Warum haben wir aktuell diese Debatte in Deutschland?

Diese Debatte ist so überflüssig wie ein Kropf. Sie hilft uns kein bisschen aus der Energiekrise, sondern wird aus ganz anderen Zwecken geführt.

Und welche sollen das sein?

Markus Söder, Friedrich Merz und Christian Lindner, die unermüdlich für mehr Atomkraft trommeln, geht es zuallererst um ein parteitaktisches Ziel: Sie wollen den Atomausstieg rückgängig machen. Den haben sie von Anfang an für falsch gehalten und als ideologisch diffamiert. Der Ausstieg vom Ausstieg stand auf der Agenda von Friedrich Merz, lange bevor der Ukraine-Krieg in Sicht war. Jetzt wittern er und CSU-Chef Söder im Windschatten dieses verbrecherischen Krieges die letzte Chance, diese Rolle rückwärts doch noch hinzukriegen. Das ist ein schändliches Spiel mit dem Leid und den grausamen Folgen dieses Krieges. Damit dürfen wir sie nicht durchkommen lassen.

Aber die FDP – deren Parteichef, Finanzminister Christian Lindner, Sie hier nennen – regiert doch mit, und hat einen Koalitionsvertrag unterschrieben, in dem der Ausstieg festgehalten ist. Ihre Sorge vor einem richtigen Wiedereinstieg in die Atomkraft scheint übertrieben.

Die FDP weiß natürlich, dass es bei der bestehenden Rechtslage – und damit beim Atomausstieg – bleibt, wenn sich die Regierungsparteien nicht auf eine Änderung verständigen. Deswegen macht mir in der Tat das Verhalten der FDP an dieser Stelle weniger Sorgen, sie spielt wie üblich einfach Opposition in der Regierung. Was mich mehr beunruhigt, ist, wie passiv die Grünen diesem Treiben zuschauen.

Sie meinen, Ihre Partei lässt sich von den lautstarken Forderungen aus der Opposition treiben?

Die Grünen werden offenbar getrieben von der Angst, im Winter den Sündenbock nicht loswerden zu können, falls die Atomfans mithilfe interessierter Medien eine Empörungswelle orchestrieren – ganz egal, ob es sachliche Gründe dafür gibt oder nicht. Ich sehe bisher aber nicht, dass die Grünen sich überhaupt dagegen wehren wollen. Angeblich wurde ja die interne Devise ausgegeben, den Ball flach zu halten.

Damit meinen Sie wohl eine Mail, welche der "Welt" zugespielt wurde. Darin werden die Mitglieder unter anderem dazu aufgerufen, auf Fragen in dieser Debatte "so unaufgeregt und knapp wie möglich zu antworten". Was ist Ihr Problem damit?

Die Grünen vermeiden eine klare Positionierung in dieser Frage. Sie haben in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen lassen, als sei ihre Zustimmung zu längeren Laufzeiten nur noch eine Formsache. Ich erwarte von den Grünen, dass sie sich auf das bigotte Spiel von Söder und Merz nicht einlassen, sondern klare Kante zeigen: "Atomkraft – nein danke!" Wo bleibt die freundliche, aber entschiedene Informationskampagne der Grünen, in der dargestellt wird, warum sie sich in der Risikobewertung gegen eine Laufzeitverlängerung entscheiden?

Hier geht es um eine Auseinandersetzung, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft – nebenbei auch für den Zusammenhalt der Grünen – von erheblicher Bedeutung ist. Die Pro-Atom-Kampagne der Union zielt darauf, den Grünen die Diskurshoheit in der Energie- und Klimapolitik streitig zu machen. Deshalb zielen sie vor dem Hintergrund der Energiekrise auf das Herz grüner Identität. Sie wollen sehen, dass die Grünen endlich Atomkraftwerke genehmigen und damit ihr Alleinstellungsmerkmal verlieren. Nur wenn es ihnen gelingt, die Grünen auf dieses Niveau herunterzuziehen, können sie der Ökopartei auf Augenhöhe, genauer gesagt auf Hühneraugenhöhe, gegenübertreten. Die Seele der Grünen aber wäre dahin.

Stimmten die Grünen einem Weiterbetrieb zu, wäre das Verrat an der DNA der Grünen?

Ach was, in diese Kiste greife ich nicht. Es wäre eine Riesendummheit, und das allein finde ich schlimm genug.

Einige Äußerungen von führenden Politikern der Partei legen nahe, dass sie unter dem Druck schon etwas nachgeben könnten – neue Brennstäbe werden zwar durchweg ausgeschlossen, doch es klang durch, dass ein Streckbetrieb möglicherweise akzeptabel wäre.

Manche Grüne glauben offenbar, sie könnten sich mit diesem Zugeständnis aus der Bredouille befreien. Ein Irrtum. Wer beim Streckbetrieb nachgibt, der wird bei längeren Laufzeiten landen.

So wichtig die Anti-AKW-Bewegung für die Grünen historisch war – hängen Sie ihre Bedeutung für heutige Entscheidungen nicht zu hoch? Umfragen zeigen: Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung, sondern inzwischen sogar die Mehrheit der Grünen-Anhänger spricht sich für eine Laufzeitverlängerung aus.

Ich habe mir ein gesundes Misstrauen gegenüber solchen Umfragen bewahrt. Aber unterstellt, sie wären verlässlich, dann wäre es jetzt erst recht Aufgabe der Grünen, aufzuklären und vor diesem Irrweg zu warnen! Nichts ist ein für allemal gelernt und manches Wissen, das im Widerstand erworben wurde, gerät in Vergessenheit.

Deswegen wäre es ein wichtiger Beitrag zur Krisenkommunikation, wenn die Partei erhebliche Ressourcen darauf verwenden würde, jetzt über die Risiken der Atomenergienutzung zu informieren und zu begründen, warum es trotz allem gut ist, dass am 31.12.2022 die letzten Meiler vom Netz gehen. Davon sehe ich bislang nichts.

Ihr Parteikollege Ralf Fücks meinte, die Anti-AKW-Generation, zu der er sich zähle, müsse sich zwei Fehler eingestehen: Angesichts des Klimawandels habe man die falsche Reihenfolge des Ausstiegs aus Atom und Kohle gewählt. Und: Durch den Atomausstieg sei die Abhängigkeit vom Gas gestiegen und man habe sich um die Frage gedrückt, wie der steigende Gasbedarf gedeckt werden solle. Stimmen Sie ihm zu?

Diese Argumentation ist kompletter Unfug. Ohne die Befristung der Laufzeiten für die AKW wäre die Energiewende doch gar nicht erst in die Gänge gekommen! Gleichzeitig mit dem Atomausstieg von Rot-Grün vor 20 Jahren wurde die massive Förderung der erneuerbaren Energien beschlossen. Der Ausbau der Erneuerbaren ging sogar schneller voran als die Abschaltung der AKW. Wenn es einen Fehler beim Atomausstieg gab, dann den, dass er auf 20 Jahre angelegt war – unnötig lange.

Aber dieses Manko geht nicht auf das Konto der Grünen, sondern ist der SPD unter Kanzler Schröder zu verdanken. Und dass es später Union und FDP waren, die nicht nur den Atomausstieg rückgängig gemacht, sondern auch den Ausbau der erneuerbaren Energien blockiert haben, ist unbestreitbar.

Das heißt?

Wäre es nach den Grünen gegangen, wären wir heute überhaupt nicht in dieser schwierigen Situation – dass wir so abhängig vom Gas aus Russland sind. Wer sich als Grüner auch noch diesen Schuh anzieht, schießt sich selbst ins Knie – ganz gewaltfrei natürlich.

Herr Schroeren, herzlichen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
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